Sonntag, 7. April 2024

Deutliche Steigerung nach schwachem Start

Das Timing für das Erscheinen dieses Buches hätte kaum besser sein können. Als es Anfang März 2024 auf den Markt kam, wurde gerade mal wieder hitzig über einen möglichen Investoreneinstieg in die DFL diskutiert. Wenige Wochen zuvor hatten die Klubs zum zweiten Mal über diese Frage abgestimmt - und ein Vertreter hatte sich dabei nicht so ganz im Rahmen seiner internen Bindungen bewegt und so einen positiven Beschluss ermöglicht, der nun allerdings - nachdem die Spielfelder der Bundesliga von protestierenden Fans mit gelben Tennisbällen geflutet wurden - nicht umgesetzt werden soll. In Darmstadt ließen sich Mannschaft und Trainer nach einem verlorenen Spiel von einem wildgewordenen Ultra vor laufenden Kameras öffentlich zusammenstauchen. In Stuttgart wurde der "Fan-Präsident" auf Druck eines Investors als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Profifußball-AG abgesetzt - was wiederum massive Proteste der Fans nach sich zog. 11Freunde-Chefredakteur Philipp Köster musste Sonderschichten schieben, denn im "Sport1-Doppelpass" wurde gleich mehrfach erörtert, wem der Fußball "gehört" und ob die Vereine erpressbar werden, wenn sie den Forderungen der Fans allzu schnell und allzu oft nachgeben. Ein Buch über die "Irrwege der Bundesliga" - so der Untertitel von Christoph Rufs "Genug geredet!" - passte da wirklich wie die Faust aufs Auge. Wenn Programmplanung heißt, zur richtigen Zeit mit dem richtigen Thema zur Stelle zu sein, um eine aktuelle Diskussion mitzugestalten, haben die Macher vom Verlag Die Werkstatt alles richtig gemacht.

Allerdings darf man aus dem Umstand, dass DFB, DFL, vermeintliche Investoren-"Heuschrecken" und abgehobene Klubbosse, die Fans nur als trikotkaufendes Klatschvieh ansehen, höchst dankbare (weil kaum zu verfehlende) Zielscheiben sind, nicht den Schluss ziehen, dass sich solche Bücher quasi von selber schreiben. Es ist meist keine gute Idee, in ausnahmslos jedes Horn zu stoßen, das auf dem Tisch liegt, und man sollte auch immer schauen, auf wessen Beifall man abzielt. Ausgerechnet zu Beginn des Buches, im großen "Corona"-Kapitel, läuft da bei "Genug geredet" meines Erachtens einiges nicht optimal. Extrawürste wie kein anderer gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Bereich habe der Profifußball seinerzeit bekommen, heißt es da, es habe in der Pandemie doch viel wichtigere Dinge gegeben als einen schnellen Re-Start der Bundesliga, und aus den Vertragsverlängerungen von Manuel Neuer oder Thomas Müller beim FC Bayern - jeweils zu verbesserten Bezügen um die 20 Millionen Euro/Jahr zuzüglich Prämien - erkenne man, dass von der zeitweise zur Schau gestellten Demut der Vereine nichts geblieben sei. Obendrein sei nach dem Re-Start dann auch ein Verein wie Dynamo Dresden massiv benachteiligt worden, weil die von Infektionen und Quarantäne geplagten Sachsen im Abstiegskampf sieben Spiele innerhalb von 19 Tagen absolvieren mussten. Die Dresdner Fans hätten ihr ohnehin kritisches Verhältnis zum DFB danach nicht revidiert. 

Okay, reden wir zunächst mal über die Dresdner Fans: Wer schon mal im Dynamo-Stadion war und miterlebt hat, wie sich - weil der Schiedsrichter es doch wirklich gewagt hat, auf Höhe der Mittelinie einen glasklaren Einwurf für die Gäste zu pfeifen - eine ganze Wand aus vor Wut und Zorn hochroten Gesichtern erhebt, wie sich eine Welle von unbändigem, unfassbarem Hass und Geifer über dem armen Schiri entlädt und en passant mindestens vier Straftatbestände tausendfach verwirklicht werden, der fragt sich, ob die Dresdner Fans wirklich die besten Zeugen der Anklage sind. Wie der Profifußball im Frühjahr 2020 unter widrigsten Bedingungen wieder ins Laufen gebracht wurde, war in meinen Augen eine Meisterleistung - dass es schon terminlich nicht ansatzweise möglich gewesen wäre, auf jede individuelle Besonderheit eines Klubs Rücksicht zu nehmen, verstand sich meines Erachtens von selbst. Alle Klubs - auch Dynamo Dresden - musten heilffroh sein, dass der Ball überhaupt wieder rollte. Und das Argument "Es gab während der Pandemie doch viel Wichtigeres als Fußball" ist in meinen Augen eines der eher billigeren Sorte, denn das alles gilt heute ja genauso: In München fehlen Kita-Plätze, in Gaza Medikamente, im Sudan droht 18 Millionen Menschen eine Hungersnot und in der Ukraine sterben Soldaten und Zivilisten in einem sinnlosen Krieg - und, ja, es wäre ausnahmslos wichtiger, Geld für die Lösung all dieser Probleme einzusetzen, als es für Fußball auszugeben. Aber es ist eben nicht die Aufgabe der Bundesliga, dies zu tun. Und was die Vertragsverlängerungen von Neuer und Müller angeht: Offenbar hatten beide Spieler das Gefühl, diese Gehälter fordern zu können - und der FC Bayern ging davon aus, sie bezahlen zu können und zu müssen, wenn er sie halten will. Daran ist nichts falsch und nichts verwerflich - und eine Kritik, die eher an den Neid des Lesers appelliert, in meinen Augen überflüssig. Wenn ich Bundesliga-Profis um etwas beneide, dann um die Möglichkeit, mit ihrem Sport Geld zu verdienen - und ich gönne jedem Spieler das, was er hier für sich verhandeln kann.

Auch an späterer Stelle greift Ruf leider immer mal wieder ins Regal mit den eher wohlfeilen Argumenten. Wenn die WM 2034 nach Saudi-Arabien gehe, führt aus, dann in ein Land, das "von Frauenrechten noch viel weniger hält als Katar. In Saudi-Arabien durften Frauen bis vor wenigen Jahren nicht einmal den Führerschein machen." Das ist ohne Zweifel beklagenswert - aber dummerweise war das 1974 in Deutschland auch noch nicht viel anders, und ich habe noch keinen der heutigen Katar- und Saudi-Arabien-Kritiker sagen hören, dass auch die WM 1974 seinerzeit niemals an Deutschland hätte vergeben werden dürfen. Frauen durften damals in Westdeutschland nur arbeiten, wenn das "mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar" war. Erst seit einigen Jahren durften sie  überhaupt ein eigenes Bankonto eröffnen (1962) und ohne Zustimmung des Ehemannes eine Arbeit aufnehmen (1958). Wollten sie die Scheidung, verloren sie jegliche Unterhaltsansprüche (das änderte sich erst 1977), Vergewaltigung in der Ehe war selbstredend straflos. Und nur zur Erinnerung: Homosexualität war in der Bundesrepublik bis 1994 (!) formal eine Straftat, nur in den meisten Konstellationen straflos gestellt (vgl. dazu hier). Etwas weniger deutsche Selbstgerechtigkeit, wenn es um die Entwicklung in anderen Ländern geht, könnte der ganzen Diskussion also nicht schaden.

Glücklicherweise findet Ruf nach dem eher holprigen Start zunehmend besser ins Spiel und erzielt Tor um Tor. Mehr als nachdenklich stimmt einen beispielsweise die Passage über Nationalspieler Antonio Rüdiger. Der hatte 2020 nach einem islamistischen Terrorakt gegen einen französischen Lehrer und der anschließenden Verurteilung dieses Terroraktes durch Staatspräsident Macron einen Instagram-Beitrag gelikt, der einen Stiefelabdruck quer über Macrons Gesicht zeigte. Nachdem dies bekannt wurde, ließ er sich von der Presseabteilung des DFB eine politisch korrekte, konturenlose Mitteilung drechseln, die wie Audruck von Bedauern klingen sollte, aber sorgfältig die Frage vermied, wieso ein Nationalspieler derartige Beiträge öffentlich überhaupt gut finden kann. Ebenfalls informativ und aufrüttelnd sind die Ausführungen über die unsinnigen Vorgaben an deutsche Profivereine, auch bei Tageslicht stets das Flutlicht einzuschalten (mindestens 1.600 Lux in der Bundesliga, damit die TV-Bilder gut und vor allem ähnlich ausfallen), den unsäglichen VAR, den unfassbaren Dilettantismus, der dem Einstieg von Investor Lars Windhorst bei Hertha BSC folgte, und zu den aktuellen Diskussionen um Investoreneinstiege und 50+1 insgesamt. Bei letzterem habe ich zwar nochmals einen Hauch von Ärger verspürt, weil Ruf es offenbar für durch und durch verwerflich hält, wenn Investoren mit ihrem Einsatz doch tatsächlich Gewinne erwirtschaften wollen. Das ist es aber nicht: Die Vereine haben es ganz und gar in der Hand, ob und zu welchen Bedingungen sie Investoren ins Boot holen. Und die Art und Weise, wie die Hertha-Verantwortlichen das Windhorst-Geld schlichtweg vertrottelt haben und sich jetzt anschließend einem weitaus unangenehmeren Partner ausliefern mussten, spricht weniger gegen Investorenmodelle und mehr gegen die Leute, die seinerzeit das Sagen hatten.

Rufs Buch, heißt es im Magazin 11Freunde, sei eine bitterböse Abrechnung mit dem modernen Fußball, "wie man sie in [...] dieser Klarheit selten gelesen hat". Das ist unnötig bescheiden, denn an zumindest einer Stelle lese ich derartige Abrechnungen seit Jahren in ähnlicher Form - nämlich bei 11Freunde selbst. Und so, wie ich mich dort immer mal wieder bei dem Gedanken "Das ist nicht unbedingt mein Blick auf das Spiel." ertappe, tue ich das auch bei Ruf. Aber das ist nicht schlimm. Denn jenseits der oben genannten Ärgernisse, speziell zu Beginn des Buches, ist es eine die gesamte Diskussion nicht nur zusammenfassende, sondern auch wirklich bereichernde Analyse, die - zumal in Buchform - stets hochwillkommen ist.

Deshalb: Ich freue mich über diese Neuerscheinung - und ich finde es großartig und anerkennswert, dass ein Buch trotz der "Reifezeit", die es benötigt, trotz des im Vergleich zu einem Magazin viel schwerfälligeren Produktions- und Auslieferungsprozesses so hochaktuell sein kann. Chapeau!

Christoph Ruf: "Genug geredet! - Die Irrwege der Bundesliga und die Inkonsequenz der Fans", Verlag Die Werkstatt

Freitag, 29. März 2024

Bitte eine baldige Fortsetzung: Starkes Debüt von Brdaric

Der SIBOST Verlag hat Ende 2023 ein Buch über Thomas Brdarics Trainerstation beim Chennaiyin FC in Indien herausgebracht ("Matchplan Indien") - und für Anfang 2025 die Autobiographie von Michael Boris, Trainer unter anderem bei MTK Budapest und Fehérvár FC, angekündigt? Um mit Franz Beckenbauer zu sprechen: Ja, is' denn heut' scho' Weihnachten? Für jemanden, der wie ich Legionärs-Stories über alles liebt, sind derartige Bücher schlichtweg ein Traum. 

Da mögen Kritiker noch so sehr die vermeintliche Überpräsenz des Profifußballs in den Medien beklagen und eine Übersättigung herbeireden - ich kann nur sagen: Ich bin glücklich, dass solche Buchprojekte heute möglich sind. Denn sie waren es viel zu lange nicht. Zwar haben deutsche Trainer auch früher schon im Ausland gearbeitet: Gerd Prokop zum Beispiel war ab 1982 mehr als ein Jahrzehnt in Griechenland tätig, Eckhard Krautzun hat Anfang der 80er Jahre bei den Fort Lauderdale Strikers in Florida den alternden Gerd Müller getriezt und Jürgen Sundermann übernahm 1983 den französischen Erstligisten Racing Straßburg. Aber wenn man nicht gerade ein Selbstvermarktungsgenie wie Weltenbummler Rudi Gutendorf war, wäre damals kein Verlag auf die Idee gekommen, ein Buch über solche Legionärsstationen zu veröffentlichen. 

Wenn man Glück hatte, gab es vielleicht mal eine kurze Erwähnung auf den Fußball international-Seiten des "Kicker". Und wenn das "Fußball-Magazin" unter der Rubrik Stars, die in die Fremde gingen gar mal eine größere Story brachte, war das wie ein Sechser im Lotto - aber diese Geschichten waren dann eher für Spieler vom Kaliber eines Karlheinz Förster (Olympique Marseille), Bernd Schuster (FC Barcelona), Kalle Rummenigge (Inter Mailand) oder Toni Schumacher (Fenerbahçe Istanbul) reserviert. Einer wie Prokop hingegen, der mit wechselnden Provinzvereinen über Griechenlands verdorrte Dorffußballplätze tingelte, hatte da keine Chance. Dabei hätte ich nur zu gern etwas über seine Jahre bei Apollon Smyrnis (1982-1983, 1986-1987) oder PAS Ioannina (1985-1986) gelesen: Wie war es, im Griechenland der 80er Jahre einen kleinen Klub aus dem Landesinneren zu trainieren, fernab jeglicher Gyros-und-Retsina-am-Strand-Urlaubsromantik? Die "Sport-Bild" hat Prokops Gehalt in Griechenland Anfang der 90er (bei Apollon Kalamarias) übrigens auf 20.000 DM/Monat geschätzt. War das realistisch? Angesichts des Umstandes, dass dies damals auch ungefähr das Gehalt eines Bundesliga-Trainers aus dem unteren bis mittleren Tabellendrittel war, habe ich diese "Schätzung" immer für Jägerlatein gehalten. Leider werden wir es nie erfahren, denn Gerd Prokop ist seit über 20 Jahren tot. 

Heute ist die Fußball-Welt - im positiven Sinne - viel enger zusammengerückt, viel durchlässiger und viel gläserner: Thomas Doll arbeitet in Indonesien (und die ARD bringt eine ausführliche Reportage darüber), Ernst Middendorp in Südafrika (und die ARD bringt eine ausführliche Reportage darüber). Und ein 28jähriger deutsch-mexikanischer No-Name ist  erst als Scout bei Honved Budapest und jetzt als Sportdirektor bei Raków Częstochowa tätig (und bei transfermarkt.de gibt es einen ausführlichen Bericht dazu). Ich liebe diese Welt! Es ist so, also würde man einen 8jährigen in einem Süßigkeitenladen einschließen.

Es wird also niemand verwundern, dass ich wie elektrisiert war, als ich hörte, dass Thomas Brdarić ein Buch über seine knapp einjährige Trainerzeit in Indien veröffentlicht hat. Der Ex-Leverkusener war zuvor bereits Sportdirektor bei Dynamo Minsk in Weißrussland und bei Bunyodkor Taschkent in Usbekistan, errang als Trainer Vizemeisterschaften in Mazedonien (2016/17) und Albanien (2019/20) und heuerte 2022 schließlich beim indischen Team Chennaiyin FC an. Nun mag der eine oder andere einwenden, dass dies alles keine Top-Adressen des Fußballs sind. Aber in Wahrheit spielt das absolut keine Rolle. Als jemand, der selbst schon im Ausland gearbeitet hat, weiß ich: Wer für ein halbes Jahre in Minsk lebt (und das nicht als Tourist!) und später zwei Jahre in Usbekistan, dann eines in Albanien und ein dreiviertel Jahr in Indien, der reift als Mensch und der sammelt einzigartige Erfahrungen, um die ihn so mancher Bundesliga-Trainer zutiefst beneiden wird. Und wie sagte Thomas Doll so schön über all die Spötter, die sein Engagement im vermeintlichen Fußballentwicklungsland Indonesien belächelten: "Was da irgendwelche 'Experten' erzählen, es wäre das Ende meiner Bundesliga-Karriere oder so - diese Leute haben mit meinem Leben oder meiner Karriere nichts zu tun. Die können schreiben, was sie wollen." Thomas Brdaric wird das vermutlich nicht viel anders sehen. 

Im Übrigen: Mir ist - ich habe es ja schon an anderer Stelle ausgeführt - ein authentisches Buch aus der zweiten oder dritten Reihe ohnehin lieber als eines der gehypten, abgehobenen Alphatiere der Branche. Wenn Pep Guardiola sich von seinem Hofschreiber Martí Perarnau ein steril-gelacktes "Deutschland-Tagebuch" erstellen lässt, reizt mich das ungefähr so wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Auf "Matchplan Indien" hingegen, und damit kommen wir nun endlich mal zum Buch, habe ich mich riesig gefreut.

Seine erste richtige Entscheidung hat Brdaric bereits mit dem Format getroffen: Er hat sein Indien-Abenteuer in Tagebuch-Form festgehalten, was zwangsläufig zu atmosphärischen Alltags- und Detailnotizen führt und weniger Raum für allzu abstrakte, grundsätzliche Ausführungen lässt. Auch wenn es ausdrücklich ein Buch über die Zeit beim Chennaiyin FC sein sollte, hatte ich mir vorab gewünscht, dass der Autor auch über seine früheren Stationen als Trainer und vielleicht sogar seine Spielerzeit spricht - und dieser Wunsch wird vom Autor dankenswerterweise ebenfalls erfüllt. Denn hier gibt es einiges zu berichten: Wer als Spieler von Christoph Daum, Berti Vogts, Toni Schumacher, Bernd Schuster, Aleksandar Ristic, Klaus Toppmöller, Jürgen Röber, Klaus Augenthaler und Jürgen Gelsdorf (!!!) trainiert wurde, könnte vermutlich allein damit zwei Bücher füllen. Brdaric erfreut mit knappen, prägnanten Einschätzungen zu einzelnen Trainern und wunderschönen Anekdoten wie jener, als er im Florida-Urlaub überraschend seinem Ex-Coach Christoph Daum über den Weg lief, der nach seiner Kokain-Affäre in die USA geflüchtet war, oder jener, als sich Jürgen Röber und Co-Trainer Bernd Storck beim VfB Stuttgart mehr für seine Akne interessierten, als den Youngster behutsam aufzubauen. Auch seine früheren Funktionärs- und Trainer-Stationen finden Berücksichtigung: Angesichts des andauernden Ukraine-Konflikts kann man nur wehmütig den Kopf schütteln, wenn Brdaric schildert, wie er während seiner Zeit als Sportdirektor in Weißrussland seinen Trainerschein in der Ukraine machte und regelmäßig zwischen Minsk, Kiew und seinem Wohnsitz Düsseldorf pendelte. Das ging damals noch. Von mir aus hätten die Passagen über die Zeiten in Weißrussland, Usbekistan, Mazedonien und Albanien sogar noch deutlich ausführlicher ausfallen können, aber natürlich sollte es vor allem ein Buch über die Indische Super League sein.

Man erfährt, wie der Kontakt nach Indien zustande kam, staunt über die ungewöhnliche Wohnsituation - Brdaric war mit seinem Trainerstab in einem Hotel untergebracht und musste vor jeder längeren Auswärtsreise jeweils komplett auschecken, also alle Sachen packen, um dann nach der Rückkehr ein anderes Zimmer zu beziehen -, freut sich über die genauen Beobachtungen in Bezug auf Land und Leute, Straßen und Gerüche, Gegensätze und Absonderlichkeiten, erfährt, warum ein spontaner Stadtbummel häufig keine Freude ist, und findet sich immer wieder mitten im ganz normalen Traineralltag mit all seinen Problemen, etwa wenn ein wichtiger Spieler seinen Coach durch Schlechtleistung und Missachtung provoziert, weil ihm in einer entscheidenden Phase der Saison keine private Reise in die USA genehmigt wurde. 

Wie schon an anderer Stelle beschrieben, interessieren mich ja immer auch die kleinen Details bei derartigen Auslandsstationen: Wie bekommt der Trainer sein Geld? Wie schickt er es nach Deutschland? Auch hierauf geht der Autor ein. Und es war alles nicht so einfach, denn ein Konto vor Ort durfte Brdaric nicht eröffnen, wobei er aber clever genug war, seine Entlohnung in Dollar (statt in der Landeswährung) zu vereinbaren. Der Verein bezahlte ihn in bar und gab ihm zwei Leute mit, die ihn zur Bank begleiteten und ihm dort die Hälfte seines Gehalts nach Deutschland überwiesen. Gegen Gebühr, versteht sich. Für mich auch immer interessant: Wie kommt der Trainer an den Rest seines Geldes, nachdem er gefeuert wurde? Bei seinem vorherigen Engagement beim KF Vllaznia Shkodër in Albanien feierte Brdaric große Erfolge, wurde Vizemeister, Pokalsieger und Trainer des Jahres. Und dennoch war im Folgejahr abrupt Schluss, als das Team die nunmehr viel zu hohen Erwartungen nicht erfüllte. Plötzlich waren all die gemeinsamen Erfolge mit einem Schlag vergessen: Der Verein feuerte Brdaric und wollte auch nur noch das Gehalt bis Ende des Monats der Freistellung bezahlen, nicht bis Vertragsende. Im Buch klingt an, dass die hierfür gelieferte Begründung überaus unschön war und der Trainer bei der letztendlich vereinbarten Abfindung mutmaßlich auf eine Stange Geld verzichtet hat. 

Über konkrete Zahlen wird dabei nicht gesprochen, aber für alle, die es interessiert: Ich habe anhand der bei transfermarkt.de veröffentlichten Marktwerte und sonstiger verfügbarer Zahlen in einer komplexen Rechnung, die eines Pythagoras würdig wäre, mal die Durchschnittsgehälter der Spieler in sämtlichen europäischen und asiatischen Ligen ermittelt. Nach meiner Berechnung dürften Albanien (ca. 25.000 Euro/Jahr) und Indien (ca. 31.000 Euro/Jahr) ungefähr auf einem Niveau liegen. Die Seite footystats.org gibt für Brdarics Klub Chennaiyin FC ein Durchschnittsgehalt von ca. 47.000 Euro an - welcher Wert näher an der Wahrheit liegt und vor allem was Brdaric selbst als ausländischer Promi-Trainer mit Bundesliga-Vergangenheit bekommen hat, wird er am  besten wissen. 

Leider bekam der Ex-Leverkusener keine Chance, sein Team in eine zweite Spielzeit zu führten: Nachdem der Klub nach Ende der regulären Saison im Super-Cup schwächelte, wollten die Klubverantwortlichen von der zuvor erwogenen Vertragsverlängerung nichts mehr wissen und feuerten den Coach. Das Positive daran ist: Wir werden den Weltenbummler Brdaric, der einige Monate später übrigens noch eine Station bei al-Arabi in Kuweit absolvierte, über kurz oder lang wieder auf einer anderen Trainerbank sehen. Und so sehr ich ihm ein Engagement im deutschen Profifußball von Herzen gönne, hätte ich auch nichts dagegen, wenn es ein Klub in Griechenland, dem Iran oder in Japan wird - und es demnächst ein weiteres spannendes Auslands-Tagebuch aus seiner Feder gibt. Denn sein Debüt hat definitiv Appetit auf mehr gemacht.

Für mich ist "Matchplan Indien" eines der besten, informativsten und atmosphärischsten Fußballbücher der letzten Monate. Klare Kaufempfehlung!

Thomas Brdaric: "Matchplan Indien", SIBOST Verlag

Freitag, 22. März 2024

Würdige Erinnerung an einen der Größten des Spiels

Wie schreibt man eine Biographie über Franz Beckenbauer? Mit dieser Frage habe ich schon so manche schlaflose Stunde zugebracht. Dabei geht es weniger um das Problem, das ich neulich mal am Beispiel Wolfram Wuttkes angerissen habe, nämlich dass das Sujet nicht zur Verfügung steht und damit eine entscheidende Informationsquelle fehlt. Beckenbauer hatte im Laufe der Jahrzehnte über praktisch jeden Schritt seiner einzigartigen Karriere ausführlich - und mitunter auch in unterschiedlichen Fassungen - Bericht erstattet. Nein, bei Beckenbauer ist es vielmehr das andere Extrem - es gibt schon viel zu viel an Literatur von ihm und über ihn. Er hat seinen Namen für allein fünf (!) Autobiographien hergegeben, die mal mehr ("Ich. Wie es wirklich war."), meist aber weniger ("Einer wie ich, "Dirigent im Mittelfeld", "Meine Gegner, meine Freunde") gelungen waren. Daneben erschien im Laufe der Jahre eine ganze Latte biographischer und sosntiger Bücher über ihn, sehr würdevolle (Hans Blickensdörfer - "Der Kaiser"), überraschend informative (Torsten Körner -"Franz Beckenbauer: Der freie Mann"), etliche ältere Sachen (etwa vom großen Ulfert Schröder - "Franz Beckenbauer", 1974) und auch viel belangloser Mist (Daniel Michel - "Franz Beckenbauer: Kleine Anekdoten aus dem Leben einer großen Fußballikone"). Sogar Christoph Bausenwein selbst hat 2020 zum 75. Geburtstag des "Kaisers" bereits ein Buch ("Beckenbauer") beigesteuert.

Nun hat Bausenwein, der bereits 2012 mit "Das Prinzip Uli Hoeneß: Ein Leben für den FC Bayern" bewiesen hat, dass er solide Biographien zu schreiben versteht, mit "Franz Beckenbauer: Kaiserjahre" wiederum im Verlag Die Werkstatt eine Biographie des wohl größten deutschen Fußballers aller Zeiten veröffentlicht, die - wenn ich es richtig sehe - keine reine Neuauflage seines 2020er Werkes ist, aber doch maßgeblich auf diesem beruhen dürfte. Und hier fangen für mich die Herausforderungen an. Wie schreibt man eine Biographie über einen Mann, zu dem es bereits 15, 20 Bücher gibt? Warum sollte man die ganzen Geschichten, die schon zigmal erzählt wurden, nochmal aufwärmen: Die "Watsch'n", die Beckenbauer angeblich als Jugendlicher von einem Gegenspieler vom TSV 1860 München bekommen hat und deshalb zum FC Bayern wechselte, die Hand, die ihm der allzu interessierte homosexuelle Rudolf Nurejew während einer gemeinsamen Taxifahrt in New York aufs Knie legte, der einsame Spaziergang über den Rasen des Olympiastadiums in Rom 1990 usw. Wie kann ich als Autor sicher sein, dass sich in mein Buch nicht eine Passage, ein Satz, ein Gedanke schleichen, die gar nicht von mir stammen, sondern aus einem der früheren Beckenbauer-Bücher, die ich im Rahmen meiner Recherche gelesen habe?

Daneben stellt sich aber auch noch eine ganz andere Frage: An wen genau richtet sich diese aktuelle, reich bebilderte Beckenbauer-Biographie eigentlich? Eine Kritik, der sich meine Besprechung von Andreas Bocks Buch "Das Spiel ist aus" wohl nicht ganz zu Unrecht ausgesetzt sah, lautete: Das Buch ist ja gar nicht für die Nerds gedacht, die den Keller voller Kicker-Hefte von 1986 haben und das 11Freunde-Magazin im Abo lesen (also Leute wie mich), sondern eher für Otto Normalfußballfan. Würde hier bedeuten: All die Leute, die nicht schon vier Beckenbauer-Bücher im Regal  stehen haben, aber jetzt - anlässlich des Todes des "Kaisers" - mal eine Art Gesamtbilanz lesen möchten.

Wenn das der Maßstab ist, muss man einfach mal anerkennen: Mission accomplished! Bausenweins Buch ist eine hinreichend ausführliche, stimmige und wirklich schön geschriebene - dabei aber nie distanzlose, anbiedernde - Erinnerung an einen der Größten, die der Fußball je hervorgebracht hat. Die einzelnen Stationen der Karriere des Kaisers werden abgehandelt, wobei der Autor immer mal wieder für eine Überraschung gut ist: So stellt er etwa die verschiedenen Varianten vor, die Beckenbauer selbst im Laufe der Jahre von der "Watsch'n"-Geschichte verbreitet hat. In einem späteren Kapitel kommen die Ghostwriter der Beckenbauer-Bücher zu Wort. Recht gelungen sind auch der (recht knappe) Abschnitt über Beckenbauers Zeit beim Hamburger SV und - für mich eines der besten Kapitel des Buches - die Analyse, ob der Kaiser tatsächlich so herausragend oder eigentlich nur ein Galeriespieler war ("Ein Kaiser schaut nie nach unten"). Nicht ganz so überzeugend erschien mir das Kapitel über die Jahre bei Cosmos New York, einfach weil mir zu viele Passagen und Textbausteine bereits bekannt vorkamen, aber hier wird das oben Gesagte gelten: Für den Leser ohne Vorbefassung ist es eine faire, informative Zusammenfassung der Zeit in Amerika, auch wenn zum Beispiel die dortigen Begegnungen mit Gerd Müller (Fort Lauterdale Strikers) unerwähnt bleiben und die nochmalige Rückkehr nach New York 1983 in nur einem Satz abgehandelt wird. Sehr gefallen haben mir wiederum die Kapitel über Beckenbauers erste Jahre als Teamchef und seine Zeit in Marseille sowie über seine schleichende Entmachtung als Bayern-Funktionär.

Neben den teilweise wunderbaren Fotos wird der Text mitunter auch um Faksimilies von Artikeln oder sogar ganzen Titelseiten der BILD-Zeitung ergänzt, die recht gut das Klima und den Geist der damaligen Zeit dokumentieren: So stand am 22. Juni 1984, als BILD seinen Kolumnenschreiber auf den Schild hob, die einfühlsame Überschrift "Anhalterin (18) mit Ast gefoltert" unmittelbar neben der damals noch gängigen "Seite-1-Mieze", weiter oben prangte dann in noch größeren Lettern die Schlagzeile "Franz: Bin bereit". Natürlich muss Bauseinwein sich auch der Spätphase der kaiserslichen Karriere widmen, seiner Rolle bei der WM-Vergabe 2006 und den späteren "Enthüllungen" in diesem Zusammenhang, und das gelingt ihm auf eine respektvolle und dabei doch kritische Weise. 

Eine der späteren Fotos Beckenbauers, aus dem Dezember 2022, auf dem er zusammen mit Andy Brehme zu sehen ist, zeigt einen sichtlich gezeichneten "Kaiser", der zu wissen scheint, dass er sich - um mit Ronald Reagan zu sprechen - bereits auf der Reise in den Sonnenuntergang seines Lebens befindet. Es ist ein bemerkenswerter Kontrast zu all den energiegeladenen Sieger-Bildern zuvor und ein nachdenklich stimmender Schlusspunkt einer sehr würdigen und uneingeschränkt lesenswerten Biographie. 

Christoph Bausenwein: "Franz Beckenbauer: Kaiserjahre", Verlag Die Werkstatt

Donnerstag, 14. März 2024

Geschriebenes aber bleibt: Denkmal für eine Kölner Legende

Vor kurzem sprach ich mit einem der profiliertesten und bekanntesten Autoren im Fußballbücher-Geschäft am Beispiel Wolfram Wuttke über die Schwierigkeit, eine Biographie zu schreiben, für die das Sujet - aus welchen Gründen auch immer - nicht zur Verfügung steht. Die sinngemäße Einschätzung des Autors: Nicht unmöglich, aber schwer. 

Mich interessiert das Thema deshalb in besonderer Weise, weil ein Großteil gerade der Trainer aus den mich vornehmlich interessierenden 80er/90er Jahren leider Gottes in die Jahre gekommen ist: Etliche derjenigen, die schon damals auf der Zielgeraden ihrer Karriere waren, sind verstorben - Dietrich Weise etwa oder Jürgen Sundermann oder Friedel Rausch, auch einige der ganz Großen jener Zeit wie Udo Lattek oder Branko Zebec. Otto Rehhagel steht dem Vernehmen nach für eine Biographie nicht zur Verfügung, was überaus schade ist, weil jemand, der mit Werder Bremen und dem Aufsteiger 1. FC Kaiserlautern Deutscher Meister wurde und obendrein auch noch mit Griechenland Europameister, vielleicht der beste Trainer war, den die Liga jemals hatte. Er hätte eine angemessene biographische Würdigung mehr als verdient - und Norbert Kuntzes Büchlein aus dem Jahr 1999 erfüllt diese Ansprüche leider nicht. Aber zurück zum Thema: Die einen sind, wie gesagt, tot, andere wie Feldkamp, Ribbeck, Krautzun, Schäfer, Köppel oder Ristic längst in Rente, aber sie alle haben eins gemeinsam: Ich würde es sehr gern sehen, dass ihr Leben und ihre Karriere - nach dem Motto "Geschriebenes aber bleibt" - in einem jeweils individuellen Buch verewigt werden. So wie bei Christoph Daum, Jogi Löw, Ewald Lienen oder auch Peter Neururer.

Der Verlag edition steffan aus Köln hat sich - unter etwas anderen Vorzeichen - an das ehrgeizige Unterfangen gemacht, dem Kölner Helden Jonas Hector eine solche Verewigung zuteil werden zu lassen, obgleich auch dieser hieran nicht mitwirken wollte. Dass der Name Hector außerhalb Kölns einen weitaus geringeren Bekanntheitsgrad genießt, ist an der Stelle nicht wichtig. Für den 1. FC und seine Fans steht er, wie in einem eigens hierfür reservierten Kapitel von "Jonas Hector. Seine große Karriere in Wort und Bild" schön herausgearbeitet wird, in einer Reihe mit Legenden wie Overath, Flohe, Schumacher und Littbarski bzw. je nach Blickwinkel sogar über diesen, weil er nie in einer wirklich großen Kölner Mannschaft gespielt, dafür aber eine Epoche geprägt hat, in der es dem Klub alles in allem eher mittelprächtig ging. Autor Ralf Friedrichs - lediglich das oben genannte Kapitel wurde von Verleger Frank Steffan beigesteuert - lässt Hectors nationale Karriere in der 1. und 2. LIga sowie seine internationalen Einsätze (dummerweise kam er erst knapp nach Gewinn des WM-Titels 2014 ins Nationalteam und damit in eine Mannschaft, die ihre Zenit überschritten hatte) weitgehend chronologisch Revue passieren und garniert das Ganze mit sorgfältig ausgewählten und vielfach eher unbekannten Fotos. 

Auch wenn hier und da Zeitzeugen zu Wort kommen, ist es zwangsläufig eine Biographie im "Kicker"-Stil, die vornehmlich von Spiel zu Spiel schreitet und der die Innensicht fehlt. Aber darüber zu klagen ist überflüssig, denn diese Innensicht gab es nunmal nicht - und wenn es im Buch an einer Stelle heißt, dass Hector sich weigere, "das übliche Medientheater mitzuspielen", kann man sich denken, wieso. Eigentlich schade, weil er sich so um etwas bringt, was er seinen Kindern später mal hätte zeigen können. So oder so - Friedrichs hat getan, was möglich war, um eine bleibende Erinnerung an einen der wichtigsten Kölner Fußballer der jüngeren Vergangenheit zu schaffen, und das werden ihm insbesondere die Kölner Fans - aber nicht nur die - danken.

Ralf Friedrichs: "Jonas Hector. Seine große Karriere in Wort und Bild", Verlag edition steffan

Freitag, 1. März 2024

Ein Sieg, der sogar noch höher ausfallen konnte

Die Kollegen vom Magazin "11Freunde" hatten mir den Mund ordentlich wässrig gemacht: "Gut möglich, dass dieses Buch in ferner Zukunft mal eine Quelle von nicht unerheblicher Bedeutung sein wird, um aufzuzeigen, wie der Profifußball im frühen 21. Jahrhundert hierzulande im Fernsehen dargeboten wurde" las ich da über Florian Meigens Werk "500 Doppelpässe am Mikro: 16 Jahre an der Seite von Kommentatoren-Legende Fritz von Thurn und Taxis" (Verlag Akademie der Abenteuer). Das nenne ich doch mal eine Ansage! Und wenn dann noch von einem 625-Seiten-Wälzer - bzw. für Text-to-Speach-Reader wie mich: satten 18 Stunden Hörzeit - die Rede ist, dann klang das ganz nach etwas, an dem man nicht leichtfertig vorbeigehen sollte. Also ans Werk!

Florian Meigen, zwischen 2001 und 2017 in über 500 Spielen nebenberuflicher Assistent des bekannten Kommentators Fritz von Thurn und Taxis, hat über diese Zeit ein Buch geschrieben. Der Autor, notiert Ulrich von Berg in "11Freunde", sei "kein eitler Wichtigtuer oder verhinderter Entertainer, sondern ein höchst angenehmer, weil sprachbegabter und unprätentiöser Erzähler, der immer eine gewisse Distanz hält. Da er in seinen mehr als 150 Texten von jeweils wenigen Seiten Länge ganz unterschiedliche Schwerpunkte setzt – mal wird das betreffende Match in einer Kurzreportage nacherzählt, mal geht es um spezifische Probleme bei dessen Aufarbeitung fürs Fernsehen, mal um die Arbeitsbeziehung zwischen Meigen und seinem Chef, mal um die Stadt, in der man sich gerade befindet –, hat das Buch insgesamt verblüffend viele Schattierungen und Blickwinkel, was jegliches Aufkommen von Redundanz oder gar Langeweile im Keim erstickt." Das kann ich so durchaus unterschreiben und füge gern hinzu: Ich bin froh, dass es dieses Buch gibt, weil es tatsächlich ein wunderbares Zeitdokument ist, geschrieben aus eher seltener Perspektive. Aber ich war trotzdem nicht rundum glücklich, weil mich die "11Freunde"-Rezension ein wenig aufs falsche Gleis gehoben hatte - wofür Meigen natürlich nichts kann. 

Erst dachte ich beim Lesen, dass Meigen exakt jener Versuchung unterliegt, der erstaunlich viele Buchautoren aus der Medienbranche nicht widerstehen können: Sie treten als Insider an und kommen dann aber (auch) mit Stories, die rein gar nichts mit ihrer Insiderstellung zu tun haben. Ein schönes Beispiel hierfür ist ZDF-Kommentatorin Claudia Neumann. In ihrem Buch "Hat die überhaupt ne Erlaubnis, sich außerhalb der Küche aufzuhalten" berichtet sie vom WM-Finale 1990, wie "Diego" Buchwald den großen Maradona an die Kette legte, wie Matthäus' Schuh "zum richtigen Zeitpunkt Materialschwächen" offenbarte, Andreas Brehme den entscheidenden Elfer verwandelte und Franz Beckenbauer nach dem Spiel gedankenversunken über den Rasen des Olympiastadions schlenderte ("Des Kaisers vermeintlich einsamer Moment in der Nacht von Rom wird zum Sinnbild seiner Mission."). Das Problem ist: Sie hat dieses Spiel genau wie ich nur am Fernseher gesehen. Sie hat keinen Wissensvorsprung, keine Insiderkenntnisse. Und da ist man als Autor oder Autorin schnell auf einem schmalen Grat: Wieso sollte der Leser für eine Geschichte, die ich kein bisschen besser kenne als er, Geld bezahlen?

Und genau deshalb hatte ich auch ein leichtes Störgefühl, wenn Florian Meigen ausführlich berichtet, wie der bei der WM 2002 ins Rampenlicht getretene Skandalschiedsrichter Byron Moreno erst in Ecuador diverse Spiele verpfiff und später in den USA als Drogenschmuggler verhaftet wurde. Oder wie der FC Bayern gezielt Calle Del'Haye und andere Spieler kaufte, um die Konkurrenz zu schwächen, nicht um sich selbst zu stärken. Oder an das grausame Schicksal des französischen Polizisten David Nivel erinnert, der bei der WM 1998 von deutschen Hooligans zum Pflegefall geprügelt wurde (mal ganz davon abgesehen, dass das appellartige Stakkato dieser düsteren Zeilen absolut ins Leere geht - wieviele tumbe Hooligans lesen wohl derartige Bücher?). Oder die sattsam bekannte Geschichte von der Ohrfeige, die Franz Beckenbauer als Jugendlicher von einem 1860er Gegenspieler erhielt und deshalb zum FC Bayern wechselte, aufwärmt (die Story habe ich übrigens schon immer für Jägerlatein gehalten). Oder noch einmal Maradonas Wechsel vom FC Barcelona zum SSC Neapel Revue passieren lässt. All diese Passagen waren in meinen Augen komplett überflüssig, weil Meigen insoweit gar kein Insider ist, sondern nur Dinge nacherzählt, die er selbst irgendwo mal gehört oder gelesen hat - und die der geneigte Leser im Zweifel sogar besser kennt als er. 

Im Laufe des Buches wurde mir allerdings klar, dass ich einfach nur falsche Erwartungen hatte: Es geht hier gar nicht um "Der Insider Florian Meigen berichtet über seine Zeit im Fußball-TV", sondern eher um "Der Lehrer, Kreisligafußballer, Gladbach-Fan und nebenberufliche TV-Assistent Florian Meigen erzählt von seinem Leben und seiner Liebe zum Fußball". Das kann man machen, das ist auch überhaupt kein schlechtes Buch - und es ist auch nicht schlimm, dass Meigen hier ein früheres Online-Diary in Buchform gebracht hat (weshalb im Buch zum Beispiel Sätze wie "Wer genauere Informationen über unsere Familienverhältnisse wünscht, schreibt eine PN und/oder liest in Kürze den zweiten Teil von Fritz, meine Familie und ich" auftauchen). Nur: In meinen Augen nimmt Meigen damit dem Fußball-TV-Insider-Teil ein wenig die Wirkung. Seine Erlebnisse (und durchaus auch Erfolge) als Fußballer des SV Niederwörresbach, als Tennisspieler (weniger erfolgreich), als Lehrer an einem Gymnasium, der beobachtet, wie ein Kollege mit "Ludenkarre" anrollt, oder als Fußballfan der eine Liste der Stadion und Spiele, die er gern besucht hätte, aufstellt, sind für ihn und seine Familie/Freunde bestimmt spannend. Ich hätte es allerdings nicht gebraucht, auch nicht die Männertagserlebnisse mit seinen Kumpels oder das Philosophieren über Corona und die Folgen.

Und - um Missverständnissen vorzubeugen - es ist ja nicht so, dass er als TV-Insider nichts zu erzählen hätte. Das Buch hat wunderbare, starke Momente: Wenn er etwa berichtet, wie er und sein Chef bei der WM 2002 in Asien mit schmalem Budget unterwegs waren, während ARD-Kollege Heribert Faßbender nebst Entourage wie ein ausländischer Potentat Hof hielt und seinen gebührenfinanzierten Reichtum zur Schau stellte. Oder wie Jogi Löw während eines Interviews mit Meigens Chef binnen drei Stunden 16 Espressi hinunterstürzte. Sehr atmophärisch ist auch die Passage über ein wegen massiver Schneefälle mit erheblicher Verspätung angepfiffenes Spiel in Hamburg, das den Lehrer Meigen in arge Nöte bringt: Nach Spielende geht kein Flieger mehr zurück nach Frankfurt - und ohne schafft er es nicht pünktlich zum morgigen Schultag. Was also tun? Ebenso schön ist die Geschichte, wie er quasi aus dem Flieger zu einem Champions-League-Spiel der Bayern bei Zenit St. Petersburg sein Haus kauft, weil die Sache eben in diesem Moment fix gemacht werden musste. Oder die vom Generalstreik in Athen während eines Uefa-Cup-Spiels von Werder Bremen, der die Bremer zwang, gleich nach Spielende fluchtartig ungeduscht zum Flughafen zu fahren, um den letzten Flug zu erwischen.

Meines Erachtens hätte Florian Meigen ein sogar noch besseres Buch vorlegen können, wenn er sich ganz konsequent auf jene tätigkeitsbezogenen Passagen beschränkt und auf all den anderen Kram einfach verzichtet hätte. Dann wären es vielleicht keine 600, sondern nur 200 oder 250 Seiten geworden, dafür aber eben das dichte Werk eines Insiders - und weniger das eines Fußballfans, der nebenberuflich als TV-Assistent arbeitet. In der Zeit von E-Books und Books-on-demand lässt sich so etwas allerdings ja durchaus auch nachträglich noch vornehmen. Wie gesagt: Es ist ein wirklich schönes, ein informatives, ein kaufenswertes Buch, aber ein höherer Sieg war möglich.

Florian Meigen: "500 Doppelpässe am Mikro: 16 Jahre an der Seite von Kommentatoren-Legende Fritz von Thurn und Taxis", Verlag Akademie der Abenteuer

Dienstag, 27. Februar 2024

Das haben andere leider deutlich besser gemacht!

Eigentlich bin ich gerade mit dem 500-Seite-Wälzer "500 Doppelpässe am Mikrofon" von Florian Meigen zugange. Aber aus gegebenem - traurigem - Anlass habe ich mal ein anderes Buch dazwischengeschoben: Am 20. Februar 2024 ist überraschend Weltmeister Andreas Brehme verstorben. Grund genug, mir mal das 1998 im Sport-Verlag-Berlin erschienene Erinnerungsbuch "Das war's, Freunde" von Herbert Günther und Hanns Petillon vorzunehmen.

Ich schreibe bewusst "Erinnerungsbuch" und meine das überhaupt nicht gallig: Es handelt sich nicht um eine Biographie im Sinne einer vertieften kritisch-wohlwollenden Auseinandersetzung mit der sportlichen Karriere des Sujets und ggfs. auch seines sonstigen Lebensweges, sondern vielmehr um einen höchst fotoreichen Abriss, der seinen Wert weniger aus der kritischen Analyse, sondern der Atmosphäre, die er vermittelt, gewinnt. Ähnliche Bücher sind über Lothar Matthäus ("Der Leitwolf") und Rudi Völler ("Ruuuuudi!") und nach meiner Erinnerung auch über Jürgen Kohler erschienen, letzteres kenne ich allerdings nicht. 

Nun hatte ich hier bereits an früherer Stelle über den früheren "Sport-Bild"-Journalisten Ulrich Kühne-Hellmessen und dessen Firma SPOBUCOM geschrieben und darauf hingewiesen, dass ich dessen Projekte und dessen Bücher schätze, weil sie bei aller Lobhudelei und übergroßer Nähe zum Sujet eben gut geschriebene Texte enthalten. Während die Matthäus- und Völler-Bücher von Kühne-Hellmessen und meinem Fast-Namensvetter Tom Bender stammen, zeichnen für das Brehme-Buch die beiden vorgenannten Autoren Herbert Günther und Hanns Petillon verantwortlich - und leider spürt man den Unterschied nur allzu deutlich. Wo "Leitwolf" und "Ruuuudi!" gut gemacht sind, ist "Das war's, Freunde!" eben nur gut gemeint. Das gilt weniger für die Fotos, die passen auch hier - aber leider sind die Texte dazu fürchterlich dürftig. Allgemeinplatz reiht sich an Allgemeinplatz. Die vergleichsweise große Schrift soll wohl kaschieren, dass die Autoren - oder vielleicht auch Andreas Brehme selbst - nicht allzu viel zu erzählen haben, aber sie unterstreicht die inhaltliche Leere des Buches eher. Brehmes Zeit in Saragossa beispielsweise wird in ganzen neun Sätzen a la "Insgesamt war das eine interessante Zeit in Spanien." abgehandelt. 

Ein schmerzhafter Gegensatz zu den Büchern über Matthäus und Völler, die neben guten Fotos neue Erkenntnisse und Einblicke vermitteln. Im Abschnitt über die WM 1986 lese ich im Brehme-Buch Sätze wie "Wenn du im Endspiel stehst, willst du natürlich gewinnen." Über den Abstieg 1996 mit dem 1. FC Kaiserslautern heißt es: "Natürlich haben wir nicht gut genug gespielt, wir waren unsd lange zu sicher und erkannten zu spät den Ernst der Lage." Für solche Einsichten muss ich nun wirklich kein Buch kaufen. Keine einzige Passage ist aus der Innensicht geschrieben, sondern alles mit dem Blick von außen - und selten besser als auf Wikipedia-Niveau. Auch das Layout überzeugt mich nicht: Der Text ist an sich aus Sicht Brehmes geschrieben, aber plötzlich kommenden - wie in der Saison 1995/6 - nochmal farblich abgesetzte Passagen mit gesonderten  Brehme-Zitaten. Das macht in meinen Augen wenig Sinn, weil es den Lesefluss unnötig stört.
 
Nachdem auch die erst 2023 erschienene Brehme-Biographie "Beidfüßig: Von Barmbek bis San Siro" ebenfalls den Vorwurf übergroßer Dürftigkeit auf sich gezogen hat (vgl. Bewertung bei Amazon: "Bin sehr enttäuscht von diesem Buch! Man erfährt nichts neues, was man nicht schon weiß. Keine Hintergründe, nur oberflächliche Informationen."), ist leider zu konstatieren, dass es nach wie vor an einem wirklich guten Buch über einen der besten deutschen Fußballer aller Zeiten fehlt. 
 
Schade!

Herbert Günther und Hanns Petillon: "Andreas Brehme: Das war's, Freunde!", Sportverlag Berlin

Mittwoch, 14. Februar 2024

Ein überaus atmosphärisches Zeitdokument

Ein der breiten Öffentlichkeit unbekannter Spieler aus einer Zeit, die mich nicht übermäßig interessiert - auf den ersten Blick hatte ich wenig Anlass, mich mit Jupp Bläsers im Vorjahr erschienener Biographie "Ich war dabei" (edition steffan) näher zu beschäftigen. Dass ich es doch tat, hatte genau drei Gründe: Zum einen war da der recht geschickte, jedenfalls mir Appetit machende Klappentext des Verlages, zum anderen der Umstand, dass Bläser auch einige Jahre beim Linzer ASK in Österreich gespielt hat - und mich Legionärszeiten immer in besonderer Weise interessieren. Und drittens weiß ich aus meinen eigenen Interviews mit Fußballern und Trainern nur zu gut, dass Kicker aus der zweiten oder dritten Reihe oft spannendere Gesprächspartner und genauere Beobachter sind als die Stars der Branche. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Auch im Fall Bläsers hat sich die Sache gelohnt - es ist ein gut lesbares, sehr atmosphärisches Zeitdokument und ein hervorragender Einblick in den Alltag eines "normalen" Spielers der 70er Jahre. 

Bläser, ein gelernter Vorstopper, kickte zunächst einige Jahre beim 1. FC Köln, stand dort aber stets im Schatten von Nationalspieler Wolfgang Weber und fand sich deshalb zumeist auf der Ersatzbank wieder. Im WM-Jahr 1974 wechselte er zu Alemannia Aachen in die 2. Bundesliga und schaffte dort den Sprung zum Stammspieler. Beim Linzer ASK (1978 - 1982) ließ er seine Profi-Karriere anschließend ausklingen. Alles in allem blickt er auf über dreihundert Pflichtspiele zurück, darunter immerhin auch einige Uefa- und UI-Cup-Partien.

Seine Biographie nimmt uns also erwartungsgemäß mit in eine andere Zeit - und das ist auch deutlich zu spüren. Die Mitspieler sind noch "Sportkameraden", Wasser trinken gilt bei Sportlern als ungesund, man geht zur Kirmes und schiebt sich ordentlich Schnupftabak in die Nase. Die Anekdoten, die Bläser rund um den Abriss seiner Karriere erzählt, sind recht facettenreich. Manche amüsant - etwa jene, als Bayern-Torwart Sepp Maier sich während eines gemeinsamen Banketts Bläsers Schnupdtabakdose leiht und sie anschließend einfach nicht mehr herausrückt ("Die brauch´ ich selber. Ich habe meinen Schnupftabak vergessen und wenn ich nicht schnupfen kann, dann werd´ ich krank."), sich später aber mit einem per Post übersandten Riesenpaket verschiedenster Schnupftabakdosen eindrucksvoll revanchiert. Manche Geschichten nehmen uns noch weiter mit in den Arbeitsbereich der Spieler und Trainer - etwa wenn Bläser erzählt, wie ihn vor einem Freundschaftsspiel seiner Alemannia gegen den großen FC Barcelona der neue Barca-Trainer Hennes Weisweiler zur Seite zog und ihn bat, Stürmerstar Johan Cruyff ordentlich ranzunehmen ("Der muss merken, dass nicht alles so läuft, wie er sich das denkt."). Nachdenklich stimmen die Erinnerungen an den in den 70er Jahren noch "normalen" Alltagsrassimus - etwa wenn Fortuna Kölns Präsident "Schäng" Löring seine eigenen Spieler rüde auffordert, den von ihm teuer eingekauften peruanischen Nationalspieler Julio Baylon mehr einzubeziehen ("„Gebt endlich dem Neger den Ball!“) oder der sinnlos betrunkene Heinz Flohe während einer Japan-Gastspielreise der Kölner in Tokio einen Taxifahrer verbal und körperlich attackiert ("„Los, du Schinees, fahr ab!"). Auf eine Anekdote hätte ich übrigens gern verzichtet - die Story, wie sich Trainer-Legende Tschick  Čajkovski im Trainingslager gemeinsam mit Bläser in dessen Zimmer einen Softporno anschaut, erzeugt unangenehmes Kopfkino und hat meinem Bild dieses großen, lebenslustigen und gutmütigen Trainers doch einen kleinen Kratzer verliehen. Aber wir sind ja in den recht engen, recht muffigen Siebzigern.

Später, nach dem Wechsel zur Alemannia in Aachen, begegnen wir Trainer Gerd Prokop, dem späteren Griechenland-Experten unter den deutschen Fußball-Lehrern (14 Stationen zwischen 1982 und 1998), der bei Bläser allerdings recht schlecht wegkommt. Bläser berichtet, wie ihn der klamme Verein zur Teilzeitkraft machen wollte ("Du kannst wieder halbtags als Maler und Anstreicher arbeiten! Wir reduzieren deine Bezüge und du verdienst mehr als vorher.“) und wie ihn aus dem Umfeld der Kölner Fortuna ein handfester Bestechungsversuch ereilte ("Jedem Abwehrspieler kann mal ein blöder Fehlpass oder ein dummes Foul im Strafraum unterlaufen. Wäre doch kein Problem. Wir honorieren das auch."). Sehr spannend sind die Schilderungen über Bläsers Bemühungen, zum Ausklang seiner Karriere nochmal einen gutdotierten Vertrag zu bekommen. Rüdiger Schmitz, damals Berater von Toni Schumacher und eher im Ruf eines der seriöseren Vertreter dieser Branche stehend, versuchte, ihm ein Engagement in China mit angeblich 100.000 DM Jahresgehalt zzgl. Prämien schmackhaft zu machen. Wer den Entwicklungsstand des Fußballs in Asien Anfang der 80er Jahre kennt, kann sich das kaum vorstellen - und geklappt hat es ja auch nicht. Dafür kam dann Wolfgang Fahrian ins Spiel, seinerzeit ebenfalls einer der größeren Player im Berater-Business, der einen Wechsel nach Österreich vorschlug. Bläser: "Ich sagte ihm, dass ich 80.000 DM Festgehalt plus Prämien und eine Wohnung haben wolle." Ob es mit den für österreichische Verhältnisse recht ambitioniert klingenden 80.000 DM letztlich etwas wurde, bleibt offen, aber der Wechsel nach Österreich kam zustande. Es wurde nicht Salzburg - wie von Bläser erst angenommen -, sondern Linz, neben Fahrian mischten noch weitere Vermittler mit (was ebenfalls noch ein Nachspiel haben sollte) und die vom Verein zunächst gestellte Wohnung erwies sich als Drecksloch ("Ich hatte schon viel gesehen, doch der Zustand dieser Wohnung schlug einfach alles. Es stank fürchterlich nach Nikotin, die Möbel waren teilweise zusammengebrochen[...] Die Küche wirkte völlig verdreckt, der Backofen und die Herdplatte fettig/klebrig, sahen aus wie Sau, Tisch und Boden mit Müll zugestellt und überall lagen leere Flaschen herum.", Dennoch wendete sich für Bläser alles zum Guten - die Jahre in Österreich, so jedenfalls mein Eindruck, gehörten zu den schönsten und besten seiner Karriere. Auch wenn da noch das oben angesprochene Nachspiel war: Wolfgang Fahrian rief nämlich an - der auf österreichischer Seite eingeschaltete Vermittler habe sich mit der Ablösesumme aus dem Staub gemacht. Aus dieser stünden Fahrian 10.000 DM zu. Ob Bläser diese nun nicht berappen könne. Konnte und wollte er nicht, was Fahrian nicht goutierte ("[Er] drohte mir, dafür zu sorgen, dass ich in Deutschland keinen Verein mehr bekäme, falls ich das Geld nicht umgehend auf sein Konto überweisen würde.").

Geschichten wie diese und die vielen Alltagsszenen sind es, die das Buch zu einem hochspannenden Zeitdokument machen. 

Klare Kaufempfehlung! 

Jupp Bläser: "Ich war dabei", edition steffan

Dienstag, 6. Februar 2024

Einfach wunderbar: Informativ und angenehm meinungsstark

Wieso denn ausgerechnet Markus Babbel? Das habe ich mich anfangs wirklich gefragt. Wieso wählte Alex Raack für sein neuestes Buch ausgerechnet den ehemaligen Bayern-Profi, der bei mir - obwohl nach Verein und Zeit absolut in mein Beuteschema passend - eher in der Schublade "Adabei" lag. Ich hätte es besser wissen müssen. Natürlich wählt Raack keine Adabeis, und selbst wenn er es täte, wären es welche, die was zu erzählen haben. Babbel war definitiv keiner - und er hat obendrein etwas zu erzählen!

In einer Zeit, in der es viel zu viele Biographien von Spielern und Trainern gibt, die auf deutliche Worte und starke Meinungen vorsorglich verzichten (siehe etwa das Buch von Hermann Gerland), überrascht und erfreut Markus Babbel mit den klaren Worten eines Insiders, klaren Einschätzungen und klaren Meinungen. Genau das ist es, was ich mir von einer Biographie wünsche: Insidereinblicke und Beurteilungen. Wie war es, als junger Spieler ins Profiteam des FC Bayern zu kommen (und dort zwischen die Mühlsteine Dorfner und Schwabl zu geraten)? Wie ist es, gegen Toni Polster zu spielen ("der allerschlimmste Trashtalker meiner Karriere"), der seine Gegner auf allerfeinste Weise mit Wiener Charme einlullt und dann plötzlich zwei Tore schießt ("„Tja, Markus, da haste jetzt ned gut ausgeschaut.“)? Warum ist Otto Rehhagel beim FC Bayern gescheitert - und wo lagen trotz seines Scheiterns hervorzuhebende Stärken? Wieso hat es bei den Münchern weder mit Sören Lerby noch mit Erich Ribbeck geklappt? Was war das Besondere an Stefan Effenberg - wieso war er selbst an schlechteren Tagen der imponierende Anführer, den mehrere große Trainer trotz seiner unübersehbaren menschlichen Defizite unbedingt im Team haben wollten? Wie lief das beim VfB Stuttgart, als Co-Trainer Andy Brehme für seinen Chef Trapattoni übersetzen sollte - und aus dessen Ermahnung, dass "zwischen Defensive und Offensive das richtige Gleichgewicht herrschen" müsse, den Ratschlag machte: "Männer, ihr müsst mehr auf euer Gewicht achten!“ Einblicke dieser Art liefert Babbel am Fließband - und er scheut sich nicht, auch klar Stellung zu beziehen: Wieso er Matthäus und dessen allzu engen Draht zur Bild-Zeitung nicht sonderlich mochte, wieso er nicht nur Bundestrainer Berti Vogs, sondern auch die Co-Trainer Bonhof und Rutemöller schätzte, wieso Ex-Hertha-Manager Preetz ("„Du bist die linkeste Bazille, die ich in diesem Geschäft je kennengelernt habe!“) der einzige ist, mit dem er nie seinen Frieden machen wird usw. - es ist einfach nur ein großes Vergnügen, diese Passagen zu lesen.

Besonderen Spaß macht es, die Einschätzungen Babbels den eigenen Urteilen und Vorurteilen, die man sich aus der Nähe (manchmal) oder Ferne (meistens) über Spieler, Trainer oder Journalisten gebildet hat, gegenüberzustellen: Etwa zu Mario Basler - "Immer ehrlich, immer kerzengerade und dabei intelligent.", etwas, was ich nun beim besten Willen nicht unterschreiben würde (siehe auch meine Besprechung von Raacks Basler-Biographie) oder zu Philipp Lahm ("Philipp ist einer dieser Menschen, die gar nicht so viel machen müssen, man mag sie einfach."), der in meinen Augen einer der unangenehmsten Opportunisten ist, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat. Mit recht bitteren Worten beschreibt Babbel, wie ihn ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein bei einem "Sportstudio"-Besuch über den Tisch zog, indem beide vorab verbindlich vereinbarten, dass keine privaten Fragen gestellt werden und Müller-Hohenstein anschließend vor einem Millionenpublikum dennoch genau das tat. Das wiederum passt durchaus zu meinem Bild von der fachlich zumeist überforderten und menschlich unangenehmen ZDF-Journalistin. So kritisch, wie Babbel andere einschätzt, geht er auch mit sich selbst ins Gericht - etwa wenn er über seine wilde Party-Zeit nach seiner schweren Erkrankung in Liverppol berichtet oder über seinen Fehlgriff mit Tim Wiese, den er in seiner Zeit als Trainer in Hoffenheim als neuen Anführer des Teams verpflichtete und einen von brutalen Selbstzweifeln geplagten Mann bekam, der sich hinter seinen Machogehabe versteckte.

Recht ausführlich beleuchtet Babbel seine Spielerzeit in München (mit dem Abstecher nach Hamburg) und in England, geht auf seine Zeit in der Nationalelf ein (wo er das Pech hatte, Erich Ribbeck wiederzubegegnen, mit dem ihn schon beim FC Bayern eine gepflegte Abneigung verband) und auf seine ersten Trainerstationen in Stuttgart und Berlin. Im Vergleich dazu kommen die (immerhin fast vier) Jahre in Luzern und die Zeit in Australien etwas kurz weg - dabei sind Auslandsstationen immer besonders interessant. Babbel spricht über sein Gehalt - wie die meisten Spieler zwar mit zunehmender Höhe zunehmend allgemeiner, aber man bekommt doch einen Eindruck, was man Anfang der neunziger Jahre als Kicker aus dem eigenen Nachwuchs beim FC Bayern verdiente, was dann als Leihspieler beim HSV und wie ungleich höher der Verdienst später in England lag, wohlgemerkt einige Jahre vor dem ganz großen Fernsehgeld. Das finanziell beste Jahr seiner Karriere hatte Babbel übrigens in Stuttgart, als zu seinem dortigen Verdienst noch eine Ergänzungszahlung aus Liverpool hinzukam. Auch diese Einblicke in die Welt und die Gepflogenheiten des Profifußballs schätzte ich sehr.

Es gibt, der Buchtitel deutet es an, noch wesentlich mehr in Babbels Biographie - der frühe Selbstmord des Bruders, die lebensgefährliche Erkrankung während seiner Liverpooler Zeit -, aber wer meine früheren Besprechungen kennt, weiß, dass mich diese Passagen tatsächlich am wenigsten interessieren und ich sie lieber überblättere. Schicksalsschläge kennen wir aus dem eigenen Alltag genug - davon muss ich in Fußballbüchern nicht auch noch etwas lesen. Da freue ich mich - wenn es denn schon einmal etwas abseits des Fußballs sein soll - lieber, wenn Markus Babbel launig ausspricht, was ich schon immer dachte: "Ich habe noch nie die Männer verstehen können, die [den Tag der Geburt ihres Kindes] als schönsten Tag ihres Lebens abgespeichert haben. Ich habe inzwischen fünf Kinder gezeugt, und jedes Mal musste ich dabei zusehen, wie die Frauen mit unglaublichen Schmerzen zu kämpfen hatten und mir dabei fast die Hand zerbrachen." Genauso ist es!

Unter dem Strich bleibt eine freudige Überraschung, ein wunderbares, starkes Buch, das ich mit großer Freude gelesen habe!

Markus Babbel & Alex Raack: "It's not only football", Verlag Edel Sports

Dienstag, 23. Januar 2024

Eine starke Buchidee - und doch fehlt mir etwas

Die Buchidee ist - jedenfalls für mich - schlichtweg ein Traum: Eine umfassende Biographie über Günter Eichberg, den wohl letzten großen Sonnenkönig unter den Bundesliga-Präsidenten, der Ende der 80er/Anfang der 90er bei der ewigen Skandalnudel Schalke 04 verrückte Transfers tätigte, eine Schar hochkarätiger Trainer (Neururer, Ristic, Lattek) heuerte und feuerte und auch sonst mit allerlei wilden Aktionen wie dem Doppelbegräbnis von Ernst Kuzorra für Zwecke eines Fototermins auffiel - da läuft mir quasi das Wasser im Mund zusammen. Und mich stört auch nicht, dass es sich - Untertitel und Klappentext deuten es an - um eine eher wohlwollende Betrachtung handelt. Allzu kritische Artikel über Eichberg gab es seinerzeit ja mehr als genug. Autorin Katharina Strohmeyer tut auch alles, was nötig ist, damit das Buch mehr wird als das sterile Ergebnis einer Internetrecherche. Sie verfügt über die nötigen Insidereinblicke, sie nimmt uns mit, wenn Eichberg in Rom mit Vertretern von Dnjepr Dnjepropetrowsk wodkageschwängerte Verhandlungen über einen Spielertransfer führt, und es gibt zum Text auch die richtigen (und teils unbekannte) Fotos, die die im wahrsten Sinne des Wortes zu Eichbergs Bild beitragen.

Warum bin ich nach der Lektüre trotzdem nicht zufrieden? Wieso packt mich dieses Buch nicht (genug)? Vielleicht weil an den entscheidenden Stellen dann doch die Tiefe und die wirklich umfassende Betrachtung fehlen? Ein schönes Beispiel hierfür ist der Transfer von Radmilo Mihajlovic vom FC Bayern zu Schalke 04 im Jahr 1991, der vermutlich ein eigenes Kapitel rechtfertigen würde und von dem die Beteiligten alle höchst unterschiedliche Versionen erzählen. Hier hätte ich mir schon mehr gewünscht als eine knappe Seite. Vielleicht ist mir das Buch auch nicht atmosphärisch genug, zu sehr kühle und dann doch aus gewisser Distanz erfolgende Rekapitulation anstatt ein Augenzeugenbericht (den zu liefern die Autorin aber auch nie behaupet).

Wer sich für das Leben und die maßgeblichen Meilensteine Eichbergs und vor allem natürlich seine Schalker Zeit und die weitgehend unbekannten Jahre danach interessiert, der ist mit diesem Buch nicht schlecht bedient. Es ist eine faire, informative und gut recherchierte Zusammenfassung des Wirkens eines der verrücktesten und irgendwie auch sehr sympathischen Präsidenten der Bundesliga-Geschichte. Kann man jederzeit kaufen.

Katharina Strohmeyer: "Günter Eichberg - Schalkes vergessener Retter?", Verlag Neue Buchschmiede

Sonntag, 14. Januar 2024

Kluge, gut zu lesende Analyse mit geschicktem Aufhänger

Obwohl das Thema an sich hochspannend ist und ungeheuer viel hergibt, sind Buchprojekte über die Entwicklung und Kommerzialisierung des Fußballs seit Anfang der 90er Jahre alles andere als Selbstläufer. Regelmäßig geraten sie seltsam blutarm und steril. Ein bitteres Beispiel hierfür ist "Um jeden Preis: Die wahre Geschichte des modernen Fußballs von 1992 bis heute" von Christoph Biermann, ein von mir mit Spannung erwartetes Buch, zu dem ich aber nie einen wirklichen Zugang gefunden habe und das aus mir unerfindlichen Gründen als "Fußballbuch des Jahres 2023" ausgezeichnet wurde. Sogar noch schlechter geraten war in meinen Augen "Der Kick des Geldes oder wie unser Fußball verkauft wird" von Jens Berger, das als merkwürdige Mischung aus "zu wissenschaftlich-trocken" und "zu sehr aus naiv-idealistischer Fan-Sicht geschrieben" daherkam. 

Dietrich Schulze-Marmeling, ein Veteran des Geschäfts, nimmt nicht ungeschickt die WM 1990 als Aufhänger und eine Art Rahmen. So begeben wir uns noch einmal nach Italien und sind dabei, als Matthäus und Co. mit dem furiosen Auftaktsieg gegen Jugoslawien in das Turnier starten, im Achtelfinale die Holländer niederkämpfen, im Halbfinale gegen England bestehen und schließlich in der Neuauflage des 1986er Endspiels über die längst nicht mehr so mitreißenden Argentinier triumphieren. Ob es nun tatsächlich die WM 1990 war (die ich längst nicht als so schlecht empfunden habe, wie Schulze-Marmeling immer wieder betont), die alles veränderte - oder ob die WM einfach zufällig in eine Zeit fiel, in der durch den sich verändernden TV-Markt und das Bosman-Urteil vieles in Bewegung geriet, sei dahingestellt. Fakt ist: Seither vollzog der Fußball eine rasante Entwicklung, die Schulze-Marmeling klug und lesenswert nachzeichnet. Mitunter mag die Analyse etwas sprunghaft geraten - da sind wir eben noch bei der Saison 1992/93 und wenige Sätze später bei Abramowitschs Chelsea-Einstieg 2003. Das liegt allerdings ein wenig an der Aufteilung nach Ländern, denn weiter hinten kommen wir dann wieder zu den letzten großen Italien-Wechseln aus der Bundesliga Anfang der 90er Jahre und vor allem die anschließende Gegenbewegung mit einer Reihe prominenter Rückkehrer.

"1990 - Eine WM, die alles veränderte" ist kein Genussbuch (aber das soll vermutlich keines der Bücher Schulze-Marmelings sein), kein Buch mit atmosphärischen Einblicken, aber vermutlich die gelungenste Analyse der Entwicklung des Profifußballs in den vergangenen drei Jahrzehnten.

Dietrich Schulze-Marmeling: "1990 - Eine WM, die alles veränderte", Verlag Die Werkstatt

Freitag, 12. Januar 2024

Ein Buch wie ein Glas Wein am Abend

Gerade, als ich mir Nils Sulings Buch "Wir Helden von Rom" gönnte, lief die Nachricht vom Tod Franz Beckenbauers über die Ticker. Die Bild-Zeitung, die sich bei verstorbenen Promis an sich regelmäßig damit brüstet, dass sie mit ihnen das aller-aller-allerletzte Interview geführt habe, wies im Falle Beckenbauers darauf hin, dass seine letzte öffentliche Äußerung das Vorwort zu Sulings 2023 erschienem Buch gewesen sei. Ob das nun stimmt oder nicht - auf jeden Fall wäre es ein durchaus passendes, würdiges Schlusswort des Kaisers gewesen. Man mag über Beckenbauer und seine Rolle beim Sommermärchen 2006 denken wie man will, eines sollte nie vergessen werden: Egal, mit welchem ehemaligen Trainer oder Spieler man spricht, egal, in welche Biographie der Branche man schaut: Unisono wird darauf hingewiesen, dass der unerreichte "Kaiser Franz" Zeit seines Lebens ein unfassbar höflicher und umgänglicher, sympathischer, bodenständiger Mensch ohne jegliches Stargehabe, ohne Allüren und ohne die Überheblichkeit, die so viele seiner deutlich minderbemittelten Nachfolger im Fußball-Geschäft auszeichnet, gewesen sei. Das - neben seinen überragenden Fähigkeiten als Spieler - zeichnete ihn aus, und das wird immer bleiben.  Machen Sie es gut, Herr Beckenbauer!

Nun aber zu unserem eigentlichen Thema, dem Buch von Nils Suling. Der hat die Helden der WM 1990 versammelt und lässt sie - jeweils nur durch kurze einleitende Texte begleitet - durchgehend selbst von ihrem Triumph erzählen, wobei er von der Vorbereitung bis zur späteren triumphalen Rückkehr nach Deutschland alles, wenngleich nicht streng chronologisch, abdeckt. Für mich war die WM 1990 seinerzeit eine Phase höchsten Glücks - Glück, wie ich es mit der Nationalelf nicht annähernd mehr erlebt habe. Und nachdem ich mich in den seither vergangenen dreißig Jahren immer weiter vom DFB-Team entfernt habe, gelingt es Suling auf wunderbar lockerleichte Weise, die Erinnerung an das damalige Gefühl zurückkehren zu lassen - allein dafür gebührt ihm Dank! Die WM 1990 war eine Wohlfühl-WM, bei der einfach alles passte - es war die richtige Mannschaft mit dem richtigen Trainer (sorry, Teamchef natürlich), die WM fand im richtigen Land statt, die Deutschen spielten (jedenfalls anfangs) in der richtigen Stadt - man sieht förmlich, wie sich Jürgen Klinsmann gelegentlich abends aus dem Hotel gestohlen und in seine eigenen vier Wände vor den Toren Mailands zurückgezogen hat - und das richtige Team wurde Weltmeister. Sich dies jetzt durch die aneinandergereihten O-Töne in aller Ruhe und Gemütlichkeit noch einmal in Erinnerung zu rufen, die damalige Stimmung wieder aufleben zu lassen, ist wie ein Glas Rotwein am Abend nach einem harten, langen Tag oder ein Glas Bier in der Wüste oder eine Tasse Kakao, während der Regen gegen das Fenster prasselt - das geht immer, und es ist ein riesiges Vergnügen.

Nun ist so ein Original-Ton-Projekt schwieriger als man denkt. So sind hier Redundanzen unvermeidlich: Spieler 1: "...und plötzlich stand Franz Beckenbauer in Unterhose vor uns..." Spieler 2: "...und dann war da noch die Geschichte, als der Franz plötzlich in Boxershorts in der Tür stand..." Spieler 3: "Ich habe gehört, dass Beckenbauer einmal in Unterhose..." JA, ICH HABE ES JA VERSTANDEN! Hinzu kommt, dass manche Äußerungen in Duktus und Wortwahl verblüffend ähnlich sind - aber jeder, der mal ein Interview geführt hat, weiß, wie mühsam das sein kann und wie unvermeidlich es mitunter ist, als Fragesteller den einen oder anderen Gedanken selbst in Worte zu fassen und vorzugeben. Was gibt es noch zu nörgeln? Suling widmet den mitunter infantilen Späßen der Kicker vielleicht etwas zu viel Raum: Ein Eimer Wasser im Bett, eine Katze im Medizinkoffer, Pfeffer im Schnupftabak - "bruuahh", würde Günter Hetzer alias Philipp Köster in 11Freunde schreiben. Und ich hätte mir gewünscht, dass ein Lektor die gefühlt eintausend "(lacht)"-Zusätze nach irgendwelchen augenzwinkernden Zitaten streicht. Dass dies kein bierernstes Buch ist und die eine oder andere Äußerung nicht 100%ig ernst gemeint ist, bekommt auch so jeder mit.

Auf der Plus-Seite stehen die vielen neuen Informationen, neu jedenfalls für mich, und die vielen herrlichen Bilder, die im Kopf entstehen. Die Gespräche, die auf der Bank geführt wurden, Schimpftiraden Beckenbauers über seinen Kapitän Lothar Matthäus, die erfolglosen Versuche der Bild-Zeitung, Stefan Kuntz ins WM-Team zu schreiben (an seiner Stelle kam Günter Hermann), die spannenden Vergleiche, die die Protagonisten mit der WM 1986 oder der WM 2014 ziehen - oder auch nur die Stelle, als im Jugoslawien-Spiel der oben auf der Tribüne sitzende und mit einem Walkie-Talkie ausgerüstete Berti Vogts nach unten meldet, man möge doch "ein bisschen mehr mit langen Diagonalbällen von der rechten auf die linke Seite spielen" und ein entnervter Beckenbauer brüllt: "Wir haben aber keinen, der die spielen kann.“: Das ist erstklassige Unterhaltung, und es macht einfach nur Spaß, in diesem Buch zu versinken.

Danke, Herr Suling!

Nils Suling: "Wir Helden von Rom", Verlag Edel Sports

Dienstag, 26. Dezember 2023

Bosman und die Folgen

Es lag nahe, dass ich mir - wenn ich schon mal in der Stimmung für Fußball-Romane bin - nach Dominik Bardows "Trainingslager" auch gleich noch "Schweine befreien" von Jens Kirschneck vornehme. Denn die Sportreporter-Helden der beiden Bücher - hier "Holle" Schneise vom "Berliner Boten", dort Theo Grabowski von einem kostenlosen Anzeigenblatt, der über den fiktiven Zweitligisten FC Teutonia berichtet - sind Brüder im Geiste: Beide trinken zu viel, beide sind Relikte aus einer vergangenen Zeit, in der es weder Smartphones noch Internet gab, beide sind abgeranzte, muffig riechende und notorisch abgebrannte Verlierer auf der Jagd nach einem Scoop, der sie aus ihrer Bedeutungslosigkeit herauskatapultiert.

Wo Bardow recht rasant loslegt, nimmt Kirschneck sich Zeit: Es dauert eine ganze Weile, ehe man in der Geschichte und im Geschehen drin ist und mit den Protagonisten mitfiebert. Dann aber liest sich "Schweine befreien", weniger Satire und mehr Krimi als "Trainingslager", ebenfalls gut weg, auch wenn Kirschneck mit Figuren wie der kessen Rezeptionistin Toni Versprechungen macht, die nie so wirklich eingelöst werden. Aber an Grabowskis abenteuerlicher Reise ins kroatische Split, um dubiose Deals des örtlichen Fußballvereins - nicht Hajduk, sondern der fiktiven Ortsrivale aus der 2. Liga - mit zwei deutschen Vereinen aufzuklären, nimmt man gern teil, an seinen Übernachtungen in schäbigen Hotels, an seinen Low-Budget-Mahlzeiten, an seinen alkoholgeschwängerten Gesprächen mit Verdächtigen und Informanten. Ob es des großen Rades, das der Autor mit den Bezügen zum Jugoslawien-Konflikt Anfang der 90er Jahre und zum 11. September 2001 dreht, wirklich bedurft hätte, ist fraglich - aus meiner Sicht hätte allein der Ansatz "Das Bosman-Urteil macht den Weg frei für zwielichte Deals mit zwielichten Balkan-Klubs" genug Stoff für einen Roman hergegeben.

Kirschneck, jüngst nach Belgrad verzogener Redakteur des Fußballmagazins "11Freunde", ist wie Bardow ein Kenner der Szene - und auch er kann schreiben. Deshalb ist "Schweine befreien" auch wunderbare  Unterhaltung - wenngleich mich das Gefühl, dass hier mehr drin war, beim Lesen nie verlässt. Und mir erschließt sich auch bis zum Schluss nicht, was sich der Verlag bei der Covergestaltung gedacht hat - jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass das Cover den Verkauf übermäßig angekurbelt hat. Eigentlich schade, denn von Jens Kirschneck würde ich gern mehr lesen.

Jens Kirchneck: "Schweine befreien", Verbrecher Verlag