Freitag, 22. März 2024

Würdige Erinnerung an einen der Größten des Spiels

Wie schreibt man eine Biographie über Franz Beckenbauer? Mit dieser Frage habe ich schon so manche schlaflose Stunde zugebracht. Dabei geht es weniger um das Problem, das ich neulich mal am Beispiel Wolfram Wuttkes angerissen habe, nämlich dass das Sujet nicht zur Verfügung steht und damit eine entscheidende Informationsquelle fehlt. Beckenbauer hatte im Laufe der Jahrzehnte über praktisch jeden Schritt seiner einzigartigen Karriere ausführlich - und mitunter auch in unterschiedlichen Fassungen - Bericht erstattet. Nein, bei Beckenbauer ist es vielmehr das andere Extrem - es gibt schon viel zu viel an Literatur von ihm und über ihn. Er hat seinen Namen für allein fünf (!) Autobiographien hergegeben, die mal mehr ("Ich. Wie es wirklich war."), meist aber weniger ("Einer wie ich, "Dirigent im Mittelfeld", "Meine Gegner, meine Freunde") gelungen waren. Daneben erschien im Laufe der Jahre eine ganze Latte biographischer und sosntiger Bücher über ihn, sehr würdevolle (Hans Blickensdörfer - "Der Kaiser"), überraschend informative (Torsten Körner -"Franz Beckenbauer: Der freie Mann"), etliche ältere Sachen (etwa vom großen Ulfert Schröder - "Franz Beckenbauer", 1974) und auch viel belangloser Mist (Daniel Michel - "Franz Beckenbauer: Kleine Anekdoten aus dem Leben einer großen Fußballikone"). Sogar Christoph Bausenwein selbst hat 2020 zum 75. Geburtstag des "Kaisers" bereits ein Buch ("Beckenbauer") beigesteuert.

Nun hat Bausenwein, der bereits 2012 mit "Das Prinzip Uli Hoeneß: Ein Leben für den FC Bayern" bewiesen hat, dass er solide Biographien zu schreiben versteht, mit "Franz Beckenbauer: Kaiserjahre" wiederum im Verlag Die Werkstatt eine Biographie des wohl größten deutschen Fußballers aller Zeiten veröffentlicht, die - wenn ich es richtig sehe - keine reine Neuauflage seines 2020er Werkes ist, aber doch maßgeblich auf diesem beruhen dürfte. Und hier fangen für mich die Herausforderungen an. Wie schreibt man eine Biographie über einen Mann, zu dem es bereits 15, 20 Bücher gibt? Warum sollte man die ganzen Geschichten, die schon zigmal erzählt wurden, nochmal aufwärmen: Die "Watsch'n", die Beckenbauer angeblich als Jugendlicher von einem Gegenspieler vom TSV 1860 München bekommen hat und deshalb zum FC Bayern wechselte, die Hand, die ihm der allzu interessierte homosexuelle Rudolf Nurejew während einer gemeinsamen Taxifahrt in New York aufs Knie legte, der einsame Spaziergang über den Rasen des Olympiastadiums in Rom 1990 usw. Wie kann ich als Autor sicher sein, dass sich in mein Buch nicht eine Passage, ein Satz, ein Gedanke schleichen, die gar nicht von mir stammen, sondern aus einem der früheren Beckenbauer-Bücher, die ich im Rahmen meiner Recherche gelesen habe?

Daneben stellt sich aber auch noch eine ganz andere Frage: An wen genau richtet sich diese aktuelle, reich bebilderte Beckenbauer-Biographie eigentlich? Eine Kritik, der sich meine Besprechung von Andreas Bocks Buch "Das Spiel ist aus" wohl nicht ganz zu Unrecht ausgesetzt sah, lautete: Das Buch ist ja gar nicht für die Nerds gedacht, die den Keller voller Kicker-Hefte von 1986 haben und das 11Freunde-Magazin im Abo lesen (also Leute wie mich), sondern eher für Otto Normalfußballfan. Würde hier bedeuten: All die Leute, die nicht schon vier Beckenbauer-Bücher im Regal  stehen haben, aber jetzt - anlässlich des Todes des "Kaisers" - mal eine Art Gesamtbilanz lesen möchten.

Wenn das der Maßstab ist, muss man einfach mal anerkennen: Mission accomplished! Bausenweins Buch ist eine hinreichend ausführliche, stimmige und wirklich schön geschriebene - dabei aber nie distanzlose, anbiedernde - Erinnerung an einen der Größten, die der Fußball je hervorgebracht hat. Die einzelnen Stationen der Karriere des Kaisers werden abgehandelt, wobei der Autor immer mal wieder für eine Überraschung gut ist: So stellt er etwa die verschiedenen Varianten vor, die Beckenbauer selbst im Laufe der Jahre von der "Watsch'n"-Geschichte verbreitet hat. In einem späteren Kapitel kommen die Ghostwriter der Beckenbauer-Bücher zu Wort. Recht gelungen sind auch der (recht knappe) Abschnitt über Beckenbauers Zeit beim Hamburger SV und - für mich eines der besten Kapitel des Buches - die Analyse, ob der Kaiser tatsächlich so herausragend oder eigentlich nur ein Galeriespieler war ("Ein Kaiser schaut nie nach unten"). Nicht ganz so überzeugend erschien mir das Kapitel über die Jahre bei Cosmos New York, einfach weil mir zu viele Passagen und Textbausteine bereits bekannt vorkamen, aber hier wird das oben Gesagte gelten: Für den Leser ohne Vorbefassung ist es eine faire, informative Zusammenfassung der Zeit in Amerika, auch wenn zum Beispiel die dortigen Begegnungen mit Gerd Müller (Fort Lauterdale Strikers) unerwähnt bleiben und die nochmalige Rückkehr nach New York 1983 in nur einem Satz abgehandelt wird. Sehr gefallen haben mir wiederum die Kapitel über Beckenbauers erste Jahre als Teamchef und seine Zeit in Marseille sowie über seine schleichende Entmachtung als Bayern-Funktionär.

Neben den teilweise wunderbaren Fotos wird der Text mitunter auch um Faksimilies von Artikeln oder sogar ganzen Titelseiten der BILD-Zeitung ergänzt, die recht gut das Klima und den Geist der damaligen Zeit dokumentieren: So stand am 22. Juni 1984, als BILD seinen Kolumnenschreiber auf den Schild hob, die einfühlsame Überschrift "Anhalterin (18) mit Ast gefoltert" unmittelbar neben der damals noch gängigen "Seite-1-Mieze", weiter oben prangte dann in noch größeren Lettern die Schlagzeile "Franz: Bin bereit". Natürlich muss Bauseinwein sich auch der Spätphase der kaiserslichen Karriere widmen, seiner Rolle bei der WM-Vergabe 2006 und den späteren "Enthüllungen" in diesem Zusammenhang, und das gelingt ihm auf eine respektvolle und dabei doch kritische Weise. 

Eine der späteren Fotos Beckenbauers, aus dem Dezember 2022, auf dem er zusammen mit Andy Brehme zu sehen ist, zeigt einen sichtlich gezeichneten "Kaiser", der zu wissen scheint, dass er sich - um mit Ronald Reagan zu sprechen - bereits auf der Reise in den Sonnenuntergang seines Lebens befindet. Es ist ein bemerkenswerter Kontrast zu all den energiegeladenen Sieger-Bildern zuvor und ein nachdenklich stimmender Schlusspunkt einer sehr würdigen und uneingeschränkt lesenswerten Biographie. 

Christoph Bausenwein: "Franz Beckenbauer: Kaiserjahre", Verlag Die Werkstatt