Freitag, 9. August 2024

DDR-Fußball: Zwei wunderbare Themenbücher

Mitunter kann ich mich über die Kollegen vom Magazin 11Freunde auch so richtig ärgern. Als die sächsischen Journalisten Jürgen Schwarz und Frank Müller, in der Dresdner (Schwarz) beziehungsweise Leipziger (Müller) Amateurfußball-Szene seit Jahren feste Größen, 2015 ihr Buch "Freigespielt: DDR-Fußballer auf der Flucht" vorlegten, griff Frank Willmann in 11Freunde zum ganz groben Besteck: "Rührselige, überlange und boulevardeske Texte" mute man ihm zu, watschte er die Autoren ab, "ärgerliche Homestorys" voller "überflüssiger Floskeln, billiger Polemik, Mutmaßungen und Halbwahrheiten". Und weil Willmann schon einmal dabei war, bekamen auch gleich die potentiellen Käufer des Buches ihr Fett weg. "Versimpelte Leser" seien das. 
Maßlos geärgert habe ich mich über diese Bewertung aus zweierlei Gründen. Nicht nur, dass sie völlig unnötig gallig und reichlich unkollegial ist - Willmann, selbst Autor diverser Fußballbücher, kennt das Geschäft und den Markt und weiß um die Schwierigkeiten, derartige Vorhaben im aktuellen Umfeld zu realisieren. Vor allem aber ist Willmann mit seiner Einschätzung ungefähr so treffsicher wie Uli Hoeneß 1976 beim Elfmeterschießen. Denn "Freigespielt" ist ein wunderbares kleines, aber sehr feines Buchprojekt, das eine echte Lücke füllt, Bekanntes zusammenfasst und um Neues ergänzt. Ein Buch aus der Kategorie "Das hätte ich als Verleger sofort ins Programm genommen". Und was die "versimpelten Leser" angeht: Ich bekenne mich gern schuldig. Vermutlich war ich damals einer der ersten, die sich das Buch zugelegt haben.

Die Zahl der in den Westen geflüchteten Fußballer - zuzüglich jener, denen das nur unterstellt wurde - ist überschaubar, und die Idee der Autoren, jedem der bekannteren Spieler ein eigenes Kapitel zu widmen, in dem es um Hintergründe und Umstände der Flucht, das Leben davor, danach und heute geht, hat mir wunderbar gefallen. Was die von Willmann kritisierten "boulevardesken Texte" angeht: Wenn damit gemeint ist, dass das Buch - anders als diverse Schinken aus dem Hochschulbereich, die eigentlich wissenschaftliche Arbeiten sind, nachträglich für den Mainstream zurechtgebürstet wurden und sich auch genau so lesen - hervorragende Unterhaltung ist, hat er vollkommen recht. Und dafür müssen sich Jürgen Schwarz und Frank Müller nicht entschuldigen.

Die Leistung des Buches lässt sich an einem Beispiel ganz gut illustrieren: Im Sommer 1989 hatte ich die Flucht der drei Auer Wismut-Kicker Jens König, Andre Köhler und Thomas Weiß während eines Intertoto-Spiels in Göteborg mit großem Interesse verfolgt. Es war die Zeit, in der es im Arbeiter-und-Bauern-Staat bereits gehörig rumorte. Tausende fuhren nach Ungarn, um über die grüne Grenze nach Österreich zu gelangen. Der DDR-Fußball-Verband hatte seine Spieler vor der neuen Saison langfristige Verträge als "Nicht-Amateure" unterschreiben lassen. Bedeutete: Die Zeiten der etatmäßigen 12-Monate-Sperre nach einer Flucht in den Westen waren vorbei - die DDR wollte harte Devisen sehen oder die geflohenen Kicker würden vier, fünf Jahre zur Untätigkeit verdammt bleiben. Damals musste man sich Infoschnipsel über die Flucht der drei Spieler und ihre ersten Tage im Westen sowie ihre letztlich gescheiterten Versuche, in der Bundesliga Fuß zu fassen, mühsam aus diversen Zeitungen und Zeitschriften zusammenklauben. "Freigespielt" führt diese Informationen zusammen, ergänzt sie durch neue, weil die Autoren u.a. den heutigen Pensionsbesitzer König aufgespürt und befragt haben, und macht daraus ein jedenfalls für mich wunderbares Gesamtpaket. Aber, klar, ich bin ja auch nur ein "versimpelter Leser".
 
Was mir bei Erscheinen des Buches ins Auge fiel: Als Verlag ist eine "saxophon GmbH" genannt, vermutlich ein Vorläufer der heutigen DDV Edition der Sächsischen Zeitung - das Buch war nach meiner Wahrnehmung einer der ersten Versuche der SZ, auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen. Mit ihrem zweiten Buch "Die Delegierten: Verdeckte Transfergeschäfte im DDR-Fußball" sieben Jahre später gingen die Autoren dann zu einem etwas etablierteren Haus, wenngleich auch die Eulenspiegel Verlagsgruppe - hier mit ihrer Marke Neues Leben - alles andere als ein Fachverlag für Fußballbücher ist.
 
Das bewährte Prinzip aus dem ersten Buch - ein Kapitel pro Spieler, hier mit der Betrachtung eines erzwungenen oder gescheiterten Wechsels zu einem anderen DDR-Klub - wurde beibehalten. Die Autoren nehmen den Leser mit in eine Zeit, in der der Fußball zwar mangels Medaillenträchtigkeit von der Staats- und Parteiführung der DDR wenig gemocht wurde, aber leider eben dennoch beim gemeinen Volk die Sportart Nummer eins war. Die mächtigen SED-Bezirksfürsten und die mitunter noch etwas mächtigeren Kombinats-Bosse, meist näher an der Realität als die Oberen in Berlin, wussten das und rangelten mit harten Bandagen und überaus kapitalistischen materiellen Anreizen um die besten Spieler für "ihre" Vereine. Anhand von über 30 Einzelschicksalen - von Joachim Streich über Rüdiger Schnuphase bis zu Frank Lieberam und Andreas Wagenhaus - erfährt der Leser, welche Spieler unter Zwang oder aber für ein Haus, ein Auto oder sehr üppige Geldbeträge zu Vereinen wechselten, die ihnen aufgrund der starren Regularien des DDR-Fußballverbandes mit klar abgesteckten Interessensphären an sich nicht offen standen. Ebenso wird beleuchtet, welche Transfers scheiterten und welche Hoffnungen sich erfüllten oder auch nicht. Auch das ist durchweg großes Lesevergnügen und eine wunderbare Zusammenfassung eines speziellen und brisanten Aspektes des DDR-Fußballs.

Klare Kaufempfehlung für beide Bücher, selbstverständlich nur an "versimpelte Leser" wie mich.

Jürgen Schwarz und Frank Müller: "Freigespielt: DDR-Fußballer auf der Flucht", Saxophon Verlag (DDV-Edition)

Jürgen Schwarz und Frank Müller: "Die Delegierten: Verdeckte Transfergeschäfte im DDR-Fußball", Verlag Neues Leben