Dienstag, 17. September 2024

Unerwartet gut: Meine Überraschung des Jahres!

Ein blindes Huhn findet manchmal eben auch ein Korn: Ich hatte zu Thomas Hitzlspergers im Frühjahr erschienenem Buch "Mutproben" (in der Hörbuchfassung) eigentlich nur gegriffen, weil gerade nichts Besseres zur Hand war. Aber schon nach wenigen Passagen wurde mir klar: Das, was ich hier gerade höre, hat gute Chancen, das Fußballbuch des Jahres 2024 zu werden!

Dabei war meine Vorfreude auf "Mutproben" sehr überschaubar. Sportlich hat mich Hitzlsperger nie übermäßig interessiert. Zum einen teile ich die allgemeine Begeisterung über den englischen Fußball, in dem er einen großen Teil seiner Karriere verbracht hat, kein bißchen - und dazu hatte er seine beste Zeit auch noch in den Jahren vor und nach dem vermeintlichen "Sommermärchen" 2006, einer Phase, die mich ebenfalls nur wenig anspricht. Zum anderen war klar, dass "Mutproben" in weiten Teilen ein Coming-out-Bericht sein würde, nachdem der gebürtige Bayer kurz nach seinem Karriereende als erster Nationalspieler seine Homosexualität öffentlich gemacht hatte. Wie schon mehrfach angemerkt, will ich von den sehr persönlichen Schicksalen der Kicker und Trainer, egal ob schwere Krankheit (Eckstein), Tod eines Kindes (Dieter Müller, Lattek), Missbrauch in der Familie (Legat) oder ein Riesenhaufen Schulden (Immel, Nachtweih, Bock), eigentlich gar nicht allzuviel wissen. Und ich habe auch nie die Neigung verspürt, der leider allgegenwärtigen Homophobie des Fußballs nachzuspüren oder die (häufig heuchlerischen) Diskussionen, ob sich schwule Kicker nun outen sollen oder lieber nicht, zu verfolgen. Es interessierte mich schlicht nicht.

Doch Hitzlsperger schaffte es praktisch gleich mit den ersten Passagen seines Buches, mich in seinen Bann zu ziehen. Die ungeheuer sensible Art, wie er Stimmungen und Schwingungen einfängt - etwa angesichts seiner Reservistenrolle beim Sommermärchen 2006 oder während seiner Kurzleihe nach Rom -, wie er Befindlichkeiten, Sorgen und Ängste in der Kabine oder im Spiel erfühlbar macht, wie atmosphärisch er seinen Wechsel vom FC Bayern zu Aston Villa beschreibt oder wie er sich kritisch und sehr substantiiert mit Rudi Völlers verständnisloser Reaktion auf Marcell Jansens Erleichterung ob des eigenen frühen Karriereendes auseinandersetzt, all das ist hochspannend, hochinformativ und einfach nur großes Kino. 

Nur am Rande: Die Schilderungen, wie sich die beiden "Zeit"-Journalisten Moritz Müller-Wirth und Carolin Emcke gemeinsam mit Hitzlsperger über Jahre behutsam dem Thema Coming-out näherten, wie sie ihm zunächst sogar eher abrieten, Für und Wider gründlich abwogen, ihn auf die Situation vorbereiteten und hart um einzelne Formulierungen des Coming-out-Interviews rangen, zeigen auch eindrucksvoll, dass und wie verantwortungsvoller Journalismus funktionieren kann. Diese Passagen stehen in  bemerkenswertem Kontrast zum kürzlich hier behandelten Boulevard-Revolverhelden Christian Falk ("Inside FC Bayern"), der - so scheint es - für eine gute und vor allem schnelle Story notfalls auch seine Mutter verkaufen würde (siehe Besprechungen hier und hier und hier).

Fairerweise muss man einräumen, dass Hitzlsperger das hohe Anfangstempo - oder sagen wir: die hohe Qualität der ersten Kapitel - nicht über das gesamte Buch durchhält. Immer dann, wenn er sich von den autobiographischen Einschüben und Bezügen und damit eigenem Erleben entfernt und eher abstrakt gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen analysiert, schwächelt das Buch. Beispielhaft seien hier die Ausführungen zu Colin Kaepernick, Tommie Smith und Predrag Pašić genannt. Alles, was Hitzlsperger zu ihnen schreibt, weiß er aus der Zeitung oder dem Internet. Ich behaupte mal, dass ich als durchschnittlicher Fußballinteressierter und Zeitungsleser sogar besser über den früheren VfB-Stürmer Predrag Pašić informiert bin als er - und ich muss kein Buch kaufen, um nochmal erzählt zu bekommen, was schon vor Jahren in der Süddeutschen oder der Frankfurter Rundschau stand. Ein wenig geärgert habe ich mich auch, weil Hitzlsperger allzu beifallheischend in die wohlfeile Kritik an Luis Rubiales einstimmt. Spaniens damaliger Fußball-Präsident hatte bei der Siegerehrung der Frauen-Fußball-WM in Australien und Neuseeland 2023 die Spielerin Jennifer Hermoso  ungefragt auf den Mund geküsst und so einen weltweiten Shitstorm ausgelöst. Hier hätte gerade für einen Mann mit Hitzlspergers Standing die wunderbare Gelegenheit bestanden, sich nach dem Abflauen der öffentlichen Erregung mal in Ruhe und sachlich über - zwischen gleichen Geschlechtern - völlig normale Verhaltensweisen im Sport Gedanken zu machen und darüber, was wir an diesen Verhaltenweisen ändern müssen, wenn die Beteiligten plötzlich unterschiedlichen Geschlechts sind. Jeder kann bei YouTube Clips anschauen, in denen sich Volleyballspielerinnen gelegentlich einer Auswechslung ausgiebigst den Po tätscheln, in denen sich jubelnde Fußballer (natürlich ungefragt!) auf Stirn, Wange oder Mund küssen oder der Trainer einem Spieler einen aufmunternden Klaps auf den Allerwertesten gibt. Niemand fand das bisher beanstandenswert - und die Frage, was davon eben nicht mehr geht, wenn sich plötzlich ein Funktionär und eine Spielerin (oder umgekehrt) gegenüberstehen, wäre spannend gewesen. Aber die Möglichkeit, diese Frage ernsthaft zu erörtern, vergibt Hitzlsperger leider so leichtfertig wie Frank Mill seine berühmte Chance gegen die Bayern.

Diese kleinen Makel ändern aber nichts daran, dass das Buch eine wirkliche Bereicherung meiner Bibliothek ist, ein kluges, feinsinniges, unerwartet gutes Werk und zweifellos ein Kandidat für das Fußballbuch des Jahres 2024.

Thomas Hitzlsperger/Holger Gertz: "Mutproben", Kiepenheuer & Witsch