Der brasilianische Stürmer Ailton Goncalves da Silva, hierzulande nur als Ailton oder "Der Kugelblitz" bekannt (1998 bis 2004 bei Werder Bremen, danach u.a. Stationen bei Schalke 04, in Hamburg und Duisburg), hat mich nie übermäßig interessiert. Aber der Name des Co-Autors seiner vor einem Monat bei Edel Sports erschienenen Erinnerungen elektrisierte mich: Fred Sellin. Der hat einst mit "Ich bin ein Spieler: Das Leben des Boris Becker" eine der besten Sportler-Biographien vorgelegt, die ich je gelesen habe. Für mich Grund genug, dem Ailton-Buch einen zweiten Blick zu schenken. Zumal: Nachdem ich mir gerade erst die Willi-Lemke-Biographie zu Gemüte geführt hatte, passten diese Erinnerungen auch thematisch wunderbar. Werder-Bremen-Wochen im Fußballbücher-Magazin, sozusagen. Um es vorwegzunehmen: Es ist ein schönes, ein wirklich interessantes, lesenswertes Buch, aber so ganz ungetrübt war meine Freude nicht.
Das geht schon mit Fred Sellin los. Nichts, rein gar nichts deutet an "Ailton. Mein Fußballmärchen" darauf hin, dass es von dem gleichen Mann geschrieben wurde, der auch "Ich bin ein Spieler: Das Leben des Boris Becker" verfasst hat. Vielleicht vergleiche ich Äpfel mit Birnen, weil Sellin hier eher Chronist der Erinnerungen Ailtons ist, während das Becker-Buch "sein" Projekt war. Vielleicht kommen, wenn ein Autor sich ganz und gar auf sein Sujet einlässt, bei grundverschiedenen Menschen zwangsläufig eben auch grundverschiedene Bücher heraus. Vielleicht schreibt der Sellin von heute auch völlig anders als der vor zwanzig Jahren. Aber die Klarheit, Präzision und Schärfe, die das Becker-Buch auszeichnen, habe ich hier schon etwas vermisst.
Und: Wäre das Buch ein Fußballspiel, würde man von einem holprigen Start sprechen. Die Kapitel über Ailtons fußballerische Anfänge in Brasilien sind eher mühsam zu lesen - es ist, als würde man in eine Waschküche oder in ein Dampfbad schauen. Praktisch alles bleibt schemenhaft und verschwommen, kaum einmal werden Bilder im Kopf erzeugt. Das liegt vor allem daran, dass Ailton seine Erinnerungen in fast jedem Satz relativiert. "Vielleicht" habe er dies und jenes gemacht, "möglicherweise" war es aber auch so, "kann aber auch sein", dass es ganz anders ablief, "wahrscheinlich" war es aber nochmal anders. Nur selten entsteht in diesen ersten Kapiteln so etwas wie Atmosphäre, etwa wenn Ailton schildert, wie bei einem Brasilien-Scouting-Trip des damaligen Werder-Trainers Wolfgang Sidka ein in Sao Paulo ansässiger Deutsche-Bank-Manager als Dolmetscher fungierte und ein Fernsehkorrespondent als Chauffeur. Der Fußball erzeugt solche Konstellationen.
Interessanterweise ändert sich das Buch nahezu schlagartig mit Ailtons Wechsel nach Mexiko, auch wenn sein Gedächtnis hier und da auch weiterhin Lücken aufweist. Mit einem Mal, wirklich quasi von einer Seite zur nächsten, wird es hochspannend und wunderbar atmosphärisch. Der Leser bekommt herrliche Einblicke in das Geschäft mit südamerikanischen Spielern: Da erhält Werder-Manager Willi Lemke, der sich bereits einige Male vergeblich um Ailton bemüht hatte, mitten im Urlaub - "in Kalifornien oder Florida. Es kann auch Jamaika gewesen sein..." - einen Anruf von einem Mann, der einfach mal so behauptet, einen Transfer des Spielers nach Bremen einfädeln zu können. Anstatt dem Typen ordentlich die Meinung zu geigen, fliegt Lemke tatsächlich nach Mexiko, wo der Unbekannte für ihn bereits ein Hotelzimmer reserviert hat - und wo der Deal letztlich auch zustande kommt. Lemke: "Damals liefen solche Geschäfte häufig so ab, vor allem in den südamerikanischen Ländern und in einigen osteuropäischen. Da kam jemand, und mit dem verhandelte man dann." Und für den Anrufer lohnte sich die Sache - für ihn sprang laut Ailton eine hohe fünfstellige Vermittlungsgebühr heraus. Herrlich auch die Schilderung des anschließenden gemeinsamen 20-Stunden-Fluges von Lemke und Ailton nach Deutschland, des später so betitelten "Zwei-Worte-Fluges": Da saßen sie nun einen ganzen Transatlantik-Flug lang nebeneinander, der leutselige Werder-Manager und sein frischverpflichteter Millionen-Einkauf, aber sie konnten sich nicht verständigen, weil der eine kein Portugiesisch sprach und der andere kein Deutsch oder Englisch. Da können zwanzig Stunden verdammt lang werden - und im Grunde ist es unglaublich: Wir reden hier über ein 5-Millionen-DM-Geschäft, damals für Werder verdammt viel Geld, zuzüglich der o.g. Vermittlungsgebühr und der ganzen Reisespesen für diverse Scouting-Trips - und dann gibt Lemke nicht einfach noch weitere 10.000 DM für eine Dolmetscherin aus, die ihm nicht von der Seite weicht, und nimmt stattdessen die Tortur eines endlos langen Fluges ohne echte Verständigungsmöglichkeit auf sich?
Auch nachdem Ailton in Deutschland eingetroffen ist, bleibt das Buch in bestechender Form: Bremen, Parkhotel, am See gelegen, mit Sauna und Pool. Der Brasilianer futtert drei Wochen tapfer Spaghetti Bolognese, weil es das einzige Gericht in der Speisekarte ist, das er kennt. Mit Trainer Felix Magath, Nachfolger des schon bald entlassenen Ailton-Protegés Wolfgang Sidka, kommt Ailton gar nicht zurecht. Klar und ohne falsche Zurückhaltung beschreibt der Brasilianer, wieso Magath aus seiner Sicht der falsche Mann am falschen Ort war und scheitern musste: Ein kleiner Bonus an dieser Stelle, jedenfalls für mich, ist Ailtons kritische Auseinandersetzung mit Magaths – hier ebenfalls bereits besprochener – Biographie, in der dieser laut Ailton über seine Bremer Zeit "schwadroniert". Diese Passagen sind einfach nur großes Lesevergnügen. Gleiches gilt für die folgenden Abschnitte über den umstrittenen Wechsel zum FC Schalke 04 im Jahr 2004 - nach dem Double mit Werder – und die enormen Schwierigkeiten mit Ralf Rangnick, dem alsbald nach Ailtons Ankunft auf Schalke neu verpflichteten Trainer.
Leider geht dem sympathischen Stürmer dann jedoch ebenso die Luft aus wie früher auf dem Rasen. Denn die anschließenden Stationen werden nur noch in wenigen Sätzen kurz durchgehechelt. Dabei hätten sie in meinem Augen sogar Stoff für ein eigenes Buch geboten. Ailton flüchtete nämlich vor Rangnick zu Besiktas Istanbul, wurde von dort zum HSV ausgeliehen, ging dann nach Belgrad, um von wiederum dort an Grashoppers Zürich verliehen zu werden, machte später noch in Duisburg Station, unterschrieb einen 2-Jahres-Vertrag bei Metallurg Donezk, um aber schon nach zwei Spielen ins österreichische Altach weiterzuziehen. Dem schlossen sich Stationen in seinem Heimatland und in China an. "Wie kam ich da eigentlich hin?", fragt er selbst an einer Stelle mit Blick auf Donezk. Ja, das hätte mich auch sehr interessiert. Oder wie man aus der Türkei ausgerechnet nach Serbien wechselt und wie es ihm als dunkelhäutigen Spieler im latent fremdenfeindlichen Osteuropa ergangen ist. Wieso hat es in China nicht funktioniert und wie war die Bezahlung dort? Hier haben Ailton und Sellin meines Erachtens die wunderbare Chance, ein paar großartige Geschichten aus dem Alltag eines Fußball-Weltenbummlers zu erzählen, unnötig vergeben. Zwar mögen all diese Stationen sportlich keine größere Rolle gespielt haben, aber Ailton hat eben ein halbes Jahr in Belgrad gelebt und mehrere Monate in der Ukraine und mehrere Monate in China.
Wie gesagt, hier hätte ich mir mehr gewünscht, aber allein der Mittelteil des Buches mit Ailtons Werder-Zeit ist den Kauf wert.
Ailton Goncalves da Silva und Fred Sellin: "Ailton. Mein Fußballmärchen", Edel Sports