Freitag, 12. Januar 2024

Ein Buch wie ein Glas Wein am Abend

Gerade, als ich mir Nils Sulings Buch "Wir Helden von Rom" gönnte, lief die Nachricht vom Tod Franz Beckenbauers über die Ticker. Die Bild-Zeitung, die sich bei verstorbenen Promis an sich regelmäßig damit brüstet, dass sie mit ihnen das aller-aller-allerletzte Interview geführt habe, wies im Falle Beckenbauers darauf hin, dass seine letzte öffentliche Äußerung das Vorwort zu Sulings 2023 erschienem Buch gewesen sei. Ob das nun stimmt oder nicht - auf jeden Fall wäre es ein durchaus passendes, würdiges Schlusswort des Kaisers gewesen. Man mag über Beckenbauer und seine Rolle beim Sommermärchen 2006 denken wie man will, eines sollte nie vergessen werden: Egal, mit welchem ehemaligen Trainer oder Spieler man spricht, egal, in welche Biographie der Branche man schaut: Unisono wird darauf hingewiesen, dass der unerreichte "Kaiser Franz" Zeit seines Lebens ein unfassbar höflicher und umgänglicher, sympathischer, bodenständiger Mensch ohne jegliches Stargehabe, ohne Allüren und ohne die Überheblichkeit, die so viele seiner deutlich minderbemittelten Nachfolger im Fußball-Geschäft auszeichnet, gewesen sei. Das - neben seinen überragenden Fähigkeiten als Spieler - zeichnete ihn aus, und das wird immer bleiben.  Machen Sie es gut, Herr Beckenbauer!

Nun aber zu unserem eigentlichen Thema, dem Buch von Nils Suling. Der hat die Helden der WM 1990 versammelt und lässt sie - jeweils nur durch kurze einleitende Texte begleitet - durchgehend selbst von ihrem Triumph erzählen, wobei er von der Vorbereitung bis zur späteren triumphalen Rückkehr nach Deutschland alles, wenngleich nicht streng chronologisch, abdeckt. Für mich war die WM 1990 seinerzeit eine Phase höchsten Glücks - Glück, wie ich es mit der Nationalelf nicht annähernd mehr erlebt habe. Und nachdem ich mich in den seither vergangenen dreißig Jahren immer weiter vom DFB-Team entfernt habe, gelingt es Suling auf wunderbar lockerleichte Weise, die Erinnerung an das damalige Gefühl zurückkehren zu lassen - allein dafür gebührt ihm Dank! Die WM 1990 war eine Wohlfühl-WM, bei der einfach alles passte - es war die richtige Mannschaft mit dem richtigen Trainer (sorry, Teamchef natürlich), die WM fand im richtigen Land statt, die Deutschen spielten (jedenfalls anfangs) in der richtigen Stadt - man sieht förmlich, wie sich Jürgen Klinsmann gelegentlich abends aus dem Hotel gestohlen und in seine eigenen vier Wände vor den Toren Mailands zurückgezogen hat - und das richtige Team wurde Weltmeister. Sich dies jetzt durch die aneinandergereihten O-Töne in aller Ruhe und Gemütlichkeit noch einmal in Erinnerung zu rufen, die damalige Stimmung wieder aufleben zu lassen, ist wie ein Glas Rotwein am Abend nach einem harten, langen Tag oder ein Glas Bier in der Wüste oder eine Tasse Kakao, während der Regen gegen das Fenster prasselt - das geht immer, und es ist ein riesiges Vergnügen.

Nun ist so ein Original-Ton-Projekt schwieriger als man denkt. So sind hier Redundanzen unvermeidlich: Spieler 1: "...und plötzlich stand Franz Beckenbauer in Unterhose vor uns..." Spieler 2: "...und dann war da noch die Geschichte, als der Franz plötzlich in Boxershorts in der Tür stand..." Spieler 3: "Ich habe gehört, dass Beckenbauer einmal in Unterhose..." JA, ICH HABE ES JA VERSTANDEN! Hinzu kommt, dass manche Äußerungen in Duktus und Wortwahl verblüffend ähnlich sind - aber jeder, der mal ein Interview geführt hat, weiß, wie mühsam das sein kann und wie unvermeidlich es mitunter ist, als Fragesteller den einen oder anderen Gedanken selbst in Worte zu fassen und vorzugeben. Was gibt es noch zu nörgeln? Suling widmet den mitunter infantilen Späßen der Kicker vielleicht etwas zu viel Raum: Ein Eimer Wasser im Bett, eine Katze im Medizinkoffer, Pfeffer im Schnupftabak - "bruuahh", würde Günter Hetzer alias Philipp Köster in 11Freunde schreiben. Und ich hätte mir gewünscht, dass ein Lektor die gefühlt eintausend "(lacht)"-Zusätze nach irgendwelchen augenzwinkernden Zitaten streicht. Dass dies kein bierernstes Buch ist und die eine oder andere Äußerung nicht 100%ig ernst gemeint ist, bekommt auch so jeder mit.

Auf der Plus-Seite stehen die vielen neuen Informationen, neu jedenfalls für mich, und die vielen herrlichen Bilder, die im Kopf entstehen. Die Gespräche, die auf der Bank geführt wurden, Schimpftiraden Beckenbauers über seinen Kapitän Lothar Matthäus, die erfolglosen Versuche der Bild-Zeitung, Stefan Kuntz ins WM-Team zu schreiben (an seiner Stelle kam Günter Hermann), die spannenden Vergleiche, die die Protagonisten mit der WM 1986 oder der WM 2014 ziehen - oder auch nur die Stelle, als im Jugoslawien-Spiel der oben auf der Tribüne sitzende und mit einem Walkie-Talkie ausgerüstete Berti Vogts nach unten meldet, man möge doch "ein bisschen mehr mit langen Diagonalbällen von der rechten auf die linke Seite spielen" und ein entnervter Beckenbauer brüllt: "Wir haben aber keinen, der die spielen kann.“: Das ist erstklassige Unterhaltung, und es macht einfach nur Spaß, in diesem Buch zu versinken.

Danke, Herr Suling!

Nils Suling: "Wir Helden von Rom", Verlag Edel Sports