(KL) Seit Russland im Februar 2022 die Ukraine überfallen hat, ist es auch von der fußballerischen Landkarte weitgehend verschwunden. Zog die dortige Premier League mit ihren finanzkräftigen Klubeigentümern und Mäzenen zuvor auch zahlreiche deutsche Spieler und Trainer an - von Kevin Kurányi über Benedikt Höwedes bis hin zu Dietmar Beiersdorfer, Markus Gisdol, Sandro Schwarz und Daniel Farke -, sind Engagements in Moskau inzwischen moralisch bedenklich und wirtschaftlich schwierig. Als Sandro Schwarz seine Zelte bei Lokomotive Moskau nach Kriegsausbruch nicht umgehend abbrach, riet ihm der "Kicker", seine "blutbesudelten Rubel" doch bitte an die Ukraine-Hilfe zu spenden. Es geht auch weniger melodramatisch: Im Juni 2025 gab der schweizerische Trainer Fabio Celestini seinen Wechsel zum Armeesportklub ZSKA Moskau bekannt - laut "11Freunde" für das Fünffache seines bisherigen Gehalts beim FC Basel. Der "Blick" wies darauf hin, dass es für Celestini aufgrund der aktuellen Sanktionen schwierig werden dürfte, dieses Geld aus Russland heraus und in westliche Staaten hineinzubringen. Es bleibt abzuwarten, wie der Schweizer dieses Dilemma löst.
Fakt aber ist: Zumindest für ein paar Jahre dachte man, dass die russische Premier League ein neues, sportlich reizvolles und finanziell attraktives Eldorado für deutsche Kicker - und zwar nicht nur für angehende Fußballrentner - werden könnte. Für mich war das damals Anlass, dieser Liga etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Einen guten Einstieg bot der britische Journalist Marc Bennetts mit seinem 2008 erschienen Buch "Football Dynamo - Modern Russia And The Peoples Game", das die Entwicklung der Premier League nach dem Zerfall der Sowjetunion und die Rolle der russischen Nationalelf beleuchtet. Bennetts beginnt mit der Hauptstadt Moskau, in der unter anderem die Traditionsklubs Spartak, Dynamo, ZSKA, Lokomotive und Torpedo beheimatet sind. Dann zieht er weiter nach St. Petersburg und schließlich in die Provinz und berichtet gleichzeitig, wie sich der russische Fußballverband nach etlichen Misserfolgen im Sommer 2006 schweren Herzens zur Verpflichtung eines Ausländers - Guus Hiddink - durchrang und erste Anfangserfolge bei der Europameisterschaft 2008 feierte. Er spricht über Eintrittsgelder und die Eingewöhnungsschwierigkeiten ausländischer Spieler, lässt Fans zu Wort kommen und nimmt sich auch so brisanter Themen wie etwa dem "Match-fixing" an.
Der Leser erhält durch das Buch nicht nur einen Überblick über die Entwicklung des Fußballs zwischen Wolga und Ural, sondern erfährt auch viel über die "russische Seele" und das Lebensgefühl der Menschen. Bennetts, der selbst mit einer Russin verheiratet ist, schildert seine (oft schwierigen) Recherchen - Treffen mit Klubpräsidenten und Spielern, Besuche in gut bewachten Trainingskomplexen, die oft wiederholten und mitunter vergeblichen Interviewanfragen. Teilweise erhielt er von seinen Gesprächspartnern auch "wohlmeinende" Ratschläge wie jenen, sich doch lieber auf den Fußball an sich zu beschränken und die Skandale unbeachtet zu lassen. Seine stärksten Momente hat das Buch bei der Schilderung dieser und ähnlicher Situationen. Etwa, wenn der Leser erfährt, dass der neuverpflichtete Nationaltrainer Guus Hiddink an seinem ersten Arbeitstag im "Schlabberloook" und in Sandalen erschien - für viele ein Unding, denn, so Bennetts, "Russians are sticklers for dress codes". Oder bei der Schilderung, wie Präsident Putin das Team von ZSKA Moskau nach dem UEFA-Cup-Sieg 2005 in seiner Datscha empfing. Obgleich er sich bekanntlich bei jeder Gelegenheit als "sportlicher" Staatsmann geriert (gern mit freiem Oberkörper), ist Putin überraschenderweise kein Fußballfan. In seinen ersten Jahren als Präsident, so Bennetts, habe er zwar gelegentlich einige Spiele besucht, inzwischen aber längst darauf verzichtet, irgendein echtes Interesse an dem Sport zu heucheln. Als er die Kicker von ZSKA empfing, hielt er zunächst eine kurze Rede, um dann ein wenig mit einem ihm gereichten Ball herumzujonglieren. Obwohl er ihn nur einige wenige Male in der Luft halten konnte, applaudierten die Spieler höflich - und die Brasilianer im Team grinsten betreten, "als der Führer des größten Landes der Welt Fußballfertigkeiten zeigte, mit denen sich jedes fünfjährige Mädchen an den Stränden daheim blamieren würde".
Mein Problem mit derartigen Passagen war, dass es ihrer zu wenige sind. Über weite Strecken bleibt Bennetts' Buch zu distanziert, zu wenig atmosphärisch. Ich sehe die supermodernen Trainingszentren nicht, in denen die Spieler vor den Partien kaserniert werden. Ich sehe nicht, wie die Legionäre in Moskau oder in der Provinz leben. Stattdessen finden sich, mitunter ein wenig wahllos aneinander gereiht, kurze geschichtliche Abrisse, schematische Schilderungen von Spielen, etwas bemüht anmutende Verweise auf die russische Literatur und Ausflüge in die Politik, die häufig überhaupt keinen oder bestenfalls einen entfernten Bezug zum Sujet haben. So erfährt der Leser, dass der frühere sowjetische Geheimdienstchef Berija auf Moskauer Straßen von seinen Schergen ihm gefallende Frauen aufsammeln ließ, die er später in seiner Wohnung vergewaltigte, und dass viele Jahre später bei der Renovierung seiner Residenz überall Skelette gefunden wurden. Der Leser wird auch darüber informiert, dass in der russischen Armee Rekrutenmisshandlungen gang und gäbe sind und in einem besonders schlimmen Fall Ende 2005 die Amputation beider Beine und der Genitalien eines Soldaten erfolgen musste. Das alles ist furchtbar und grausam, hat aber in einem Buch über den russischen Fußball nichts zu suchen. Ohnehin gelingt dem Autor die notwendige Selbstbeschränkung nicht. Zu viel will er in die dreihundert Seiten hineinpacken, zu sehr will er dem Leser "sein" Russland zeigen, als dass wirkliche Dichte oder gar Spannung erzeugt werden könnten. Dennoch lohnt die Lektüre, weil es ein vergleichbares Konkurrenzwerk zum russischen Fußball auch fast zwanzig Jahre nach Erscheinen des Buches nicht gibt.
Wie gesagt, derzeit ist die russische Premier League wie so viele andere Dinge aus diesem einst faszinierenden Land vom Radar verschwunden, das war unvermeidbar angesichts der Gräueltaten in der Ukraine. Aber es wird eine Zeit nach diesem sinnlosen Krieg kommen, nach Putin, Medwedew und Co. und nach all dem, was Russland derzeit von der zivilisierten Welt trennt. Und dann, irgendwann, wird das Land, das so großartige Fußballer wie Lew Jaschin hervorgebracht hat, vielleicht auch wieder eine Wahlheimat deutscher Kicker. Bis dahin müssen wir uns mit Büchern wie dem hier begnügen.
Marc Bennetts: "Football Dynamo - Modern Russia And The Peoples Game", Virgin Books
