Samstag, 31. Mai 2025

"11Freunde" und die selektive Wahrnehmung

Ich gebe es gern zu: Julian Nagelsmann war nicht mein Favorit, als es im Sommer 2023 um die Neubesetzung des Bundestrainer-Postens ging. Keine Ahnung, ob Felix Magath jemals ein ernsthafter Kandidat für das Amt war (siehe dazu hier), aber mir hätte diese Variante, die so einen herrlich nostalgisch-gestrigen Anstrich gehabt hätte, jedenfalls als Übergangslösung hervorragend gefallen. Denn Magath ist ein gestandener Trainer mit entsprechender Vorerfahrung und beachtlichen Erfolgen. Er hat sich im Laufe vieler Jahre bewährt. Und seine Berufung zum Nationacoach wäre der krönende Abschluss einer beeindruckenden Karriere als Spieler und Trainer gewesen. 
 
Gewiss ist Nagelsmann ein großes Trainertalent und sicherlich hat er bei seinen vorherigen Stationen beachtliche Arbeit - wenngleich hier und da mit Abstrichen - geleistet. Aber er war und ist eben genau (noch und nur) das - ein Talent. Und der Beweis, dass die DFB-Entscheidung für ihn die richtige war, steht noch aus. Vermutlich ist mir deshalb die neue "11Freunde"-Ausgabe ein wenig in die Nase gestiegen. Denn das Heft kommt nicht nur mit Julian Nagelsmann in zigfacher Ausfertigung und im Goldanzug auf dem Cover daher, sondern auch mit einem distanzlosen, ziemlich ärgerlichen Anwanz-Artikel über den neuen Bundestrainer, der - "80.000 Fußballfans können nicht irren." - die Nationalelf angeblich wiederbelebt habe: "Inzwischen wissen wir um die Leidenschaft, mit der der Nationalcoach das Amt ausfüllt; die EM 2024 war das erste Turnier, bei dem Publikum und Mannschaft wieder eine Einheit bildeten." Nein, taten sie nicht, Organisatoren und Medien wollten nur, dass es so ist. Und weiter geht es im Text: "Leben heißt siegen. Optimismus als Lebensmotto. Zuversicht als ständiger Gemütszustand. Als Status." So lobhudelnd hat zuletzt "Welt"-Autorin Dagmar von Taube über Jogi Löw geschrieben ("Herr Löw, warum sind Sie so ein moderner Mann?"). Kein Wort davon, dass Nagelsmann - fescher roter Mantel hier, Holzfällerhemd da - mitunter mehr Show als Inhalt ist. Kein Wort davon, dass er gelegentlich auf frappierende Weise Gespür vermissen läst. Ich könnte mich heute noch totlachen über das konsternierte Gesicht von Oliver Kahn, als Nagelsmann zum Oktoberfest 2022 seine "Bild"-Reporterin-Lebensgefährtin mit an den Tisch der Bosse brachte.

Und nachdem ich ob dieses ärgerlichen PR-Stücks als Aufmacher des Mai-Hefts schon missgelaunt genug war, kam mir "11Freunde"-Chefredakteur Philipp Köster mit seiner Antonio-Rüdiger-Verteidigungsschrift gerade recht. Rüdiger hatte im April beim Pokalfinale seines Klubs Real Madrid gegen den FC Barcelona den Schiedsrichter mit allerlei Nettigkeiten ("Hurensohn", "Missgeburt") belegt und Gegenstände in dessen Richtung geworfen. Köster beklagt die daraufhin einsetzende, seiner Meinung nach in einem "unerbittlichen Ton" geführte Diskussion um Rüdigers Eignung für die Nationalelf, die "bei aller berechtigten Kritik und unter Würdigung des stattlichen Sündenregisters", so Köster, vornehmlich dem migrantischen Hintergrund Rüdigers geschuldet sei. Das ist vermutlich noch nicht einmal ganz falsch. Aber leider begeht Köster exakt den Fehler, den ich neulich schon Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling vorwerfen musste: Beim Versuch, Rüdiger gegen rechtsradikale Schlichtmichel in Schutz zu nehmen, kneift er das andere Auge fest zu. Es geht nämlich in erster Linie gar nicht darum, dass Rüdiger jetzt in Richtung des Schiris "Hurensohn" und "Missgeburt" gebrüllt hat und bei anderer Gelegenheit Fans auch gern mal "Spasti" nennt. Sondern es geht darum, dass er bei Instagram einst ein Foto des französischen Präsidenten Emanuel Macron mit einem Stiefelabdruck im Gesicht "geliked" hatte, nachdem der sich gegen islamistischen Terror ausgesprochen und die Meinungsfreiheit verteidigt hatte. In der anschließenden aalglatten Entschuldigung hat sich der Nationalspieler von allem möglichen, aber eben nicht von islamistischer Gewalt distanziert. Davon liest man bei Köster leider nichts. Und, ja, man darf durchaus darüber nachdenken, ob jemand, der Fotos mit Stiefelabdrücken im Gesicht anderer Menschen mag, ein Mann für die Nationalelf ist.

11Freunde - Magazin für Fußballkultur, Heft 283 (Mai 2025)