Ronald Reng hat sich als Autor diverser hochkarätiger Fußballbücher einen Namen gemacht. Auch auch wenn er für die hochgelobte Robert-Enke-Biographie einst seine Seele verkauft hat, siehe hier, gehört er doch zu den Großen der Branche. Sein Name in Verbindung mit Titel "1974: Eine deutsche Begegnung" und dem Cover ließen bei seinem neuesten Werk auf ein weiteres Fußballbuch hoffen. Das ist es nicht, jedenfalls nicht nur. Denn Reng begnügt sich keineswegs mit einer umfassenden Aufarbeitung des legendären 1974er WM-Spiels zwischen der Bundesrepublik und der DDR (0:1) und des ganzen Drumherums. Vielmehr entwirft er ein opulentes Zeit- und Ost-West-Gesellschaftsgemälde, das mich aus unerfindlichen Gründen an Werner Tübkes Bauernkriegspanorama denken lässt, auch wenn Reng nicht ansatzweise so lange gebraucht hat wie seinerzeit Tübke.
Natürlich bedeutet dies, dass es bei weitem nicht nur um Fußball geht. Man liest viel, sehr viel (und manchmal zu viel) über die Ostpolitik Brandts, den Terrorismus der RAF, die Gefängniszeit und den Hungerstreik des Terroristen Klaus Jünschke, über die Brandt-Sommerurlaube in Norwegen (und wie langweilig sie für dessen Sohn Matthias waren) und die DDR-Schauspielerin Jutta Wachowiak und ihre Karriere in der DDR und ihr späteres Comeback in Essen lange nach der Wiedervereinigung. All das hat mit Fußball und auch mit dem damaligen WM-Spiel rein gar nichts zu tun und hier und da muss Reng sich an argen Kunstgriffen versuchen, um einen Zusammenhang herzustellen. Aber das ist nicht schlimm. Denn zum einen ist das Gesamtergebnis trotzdem spektakulär, zum anderen kommt der Fußball nicht zu kurz. Der Weg beider Mannschaften bis zum Spiel und danach wird in der für Reng typischen intensiven und atmosphärischen Weise beleuchtet - egal, ob es um Netzers verzweifelte (und letztlich nutzlose) individuelle Fitness-Vorbereitung oder um das missratene Bankett nach dem WM-Sieg geht. Das lässt sich alles wirklich wunderbar lesen beziehungsweise - das Buch wird auch als Audiobook angeboten - hören und kann ohne jegliche Einschränkung empfohlen werden.
Gewundert hat mich nur eins: Obwohl Reng unglaublich viel hinterfragt und analysiert, spielt ein Punkt im Buch praktisch gar keine Rolle, nämlich die Frage, ob die westdeutschen Kicker nicht (mehr oder weniger) absichtlich verloren haben. Für Helmut Schön, den gebürtigen Dresdner und einstigen Kurzzeit-DDR-Nationaltrainer, mag die Begegnung ein emotionaler Höhepunkt seiner Karriere und ein Sieg eine Herzensangelegengheit gewesen sein. Aber die abgezockten urwestdeutschen Elitekicker Beckenbauer, Maier, Müller und Co., die mit Politik im Allgemeinen und der DDR im Besonderen nichts am Hut hatten, dürften sich sehr wohl ausgerechnet haben, dass sie als Gruppenerster schon in der Zwischenrunde auf den Favoriten Niederlande treffen würden, dazu auf Brasilien und Argentinien. Durch die Niederlage gegen die DDR kamen sie in den Genuss einer vergleichsweise einfachen Zwischenrunde mit Polen, Schweden und Jugoslawien. Felix Magath hat in seiner Biographie sehr schön und nachvollziehbar erklärt, wie es 1982 zum vermeintlichen Skandalspiel gegen Österreich (der angeblichen "Schande von Gijon") kam. So ähnlich dürfte es auch 1974 gewesen sein: Beckenbauer und Co. wussten sehr genau, dass sie den Zenit erreicht (bzw. sogar schon überschritten) hatten und diese WM ihre letzte Chance war, Weltmeister zu werden. Und sie wussten weiterhin, dass die Chance auf den Titel ungleich größer war, wenn sie dem Favoriten Niederlande und dem Mehrfachweltmeister Brasilien vorläufig aus dem Weg gingen. Was kümmerte sie da das ganze politische Geschwätz vom Klassenkampf auf dem Rasen? Gar nicht. Ich habe keinerlei Zweifel, dass den westdeutschen Kickern die Niederlage gegen die DDR nicht unrecht war, mochten ihr Trainer und die geifernde BILD-Zeitung das auch anders sehen und sich ein anderes Ergebnis wünschen. Und am Ende wurden sie ja auch mit dem Titel belohnt.
Ronald Reng: "1974: Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte.", Piper Verlag
Natürlich bedeutet dies, dass es bei weitem nicht nur um Fußball geht. Man liest viel, sehr viel (und manchmal zu viel) über die Ostpolitik Brandts, den Terrorismus der RAF, die Gefängniszeit und den Hungerstreik des Terroristen Klaus Jünschke, über die Brandt-Sommerurlaube in Norwegen (und wie langweilig sie für dessen Sohn Matthias waren) und die DDR-Schauspielerin Jutta Wachowiak und ihre Karriere in der DDR und ihr späteres Comeback in Essen lange nach der Wiedervereinigung. All das hat mit Fußball und auch mit dem damaligen WM-Spiel rein gar nichts zu tun und hier und da muss Reng sich an argen Kunstgriffen versuchen, um einen Zusammenhang herzustellen. Aber das ist nicht schlimm. Denn zum einen ist das Gesamtergebnis trotzdem spektakulär, zum anderen kommt der Fußball nicht zu kurz. Der Weg beider Mannschaften bis zum Spiel und danach wird in der für Reng typischen intensiven und atmosphärischen Weise beleuchtet - egal, ob es um Netzers verzweifelte (und letztlich nutzlose) individuelle Fitness-Vorbereitung oder um das missratene Bankett nach dem WM-Sieg geht. Das lässt sich alles wirklich wunderbar lesen beziehungsweise - das Buch wird auch als Audiobook angeboten - hören und kann ohne jegliche Einschränkung empfohlen werden.
Gewundert hat mich nur eins: Obwohl Reng unglaublich viel hinterfragt und analysiert, spielt ein Punkt im Buch praktisch gar keine Rolle, nämlich die Frage, ob die westdeutschen Kicker nicht (mehr oder weniger) absichtlich verloren haben. Für Helmut Schön, den gebürtigen Dresdner und einstigen Kurzzeit-DDR-Nationaltrainer, mag die Begegnung ein emotionaler Höhepunkt seiner Karriere und ein Sieg eine Herzensangelegengheit gewesen sein. Aber die abgezockten urwestdeutschen Elitekicker Beckenbauer, Maier, Müller und Co., die mit Politik im Allgemeinen und der DDR im Besonderen nichts am Hut hatten, dürften sich sehr wohl ausgerechnet haben, dass sie als Gruppenerster schon in der Zwischenrunde auf den Favoriten Niederlande treffen würden, dazu auf Brasilien und Argentinien. Durch die Niederlage gegen die DDR kamen sie in den Genuss einer vergleichsweise einfachen Zwischenrunde mit Polen, Schweden und Jugoslawien. Felix Magath hat in seiner Biographie sehr schön und nachvollziehbar erklärt, wie es 1982 zum vermeintlichen Skandalspiel gegen Österreich (der angeblichen "Schande von Gijon") kam. So ähnlich dürfte es auch 1974 gewesen sein: Beckenbauer und Co. wussten sehr genau, dass sie den Zenit erreicht (bzw. sogar schon überschritten) hatten und diese WM ihre letzte Chance war, Weltmeister zu werden. Und sie wussten weiterhin, dass die Chance auf den Titel ungleich größer war, wenn sie dem Favoriten Niederlande und dem Mehrfachweltmeister Brasilien vorläufig aus dem Weg gingen. Was kümmerte sie da das ganze politische Geschwätz vom Klassenkampf auf dem Rasen? Gar nicht. Ich habe keinerlei Zweifel, dass den westdeutschen Kickern die Niederlage gegen die DDR nicht unrecht war, mochten ihr Trainer und die geifernde BILD-Zeitung das auch anders sehen und sich ein anderes Ergebnis wünschen. Und am Ende wurden sie ja auch mit dem Titel belohnt.
Ronald Reng: "1974: Eine deutsche Begegnung. Als die Geschichte Ost und West zusammenbrachte.", Piper Verlag