Samstag, 8. Juni 2024

Besser gehts nicht: Die Schön-Biographie schlechthin!

Mitunter - wenn man sich durch ein Buch zum nächsten führen lässt - gerät man beim Lesen auf Wege, die man jahrelang als "Interessiert mich nicht" ignoriert hatte und die sich dann doch als ungeheuer bereichernd erweisen. In meinem Fall war ich durch Christoph Bausenweins Beckenbauer-Biographie auf Florian Kinasts Werk "Mensch, Kaiser!" gestoßen. Ich hatte dem Buch nicht allzu viel zugetraut, war dann aber angenehm überrascht, als ich zwischen all den schon tausendmal erzählten und hier nochmal aufgewärmten Anekdoten doch erstaunlich viel Neues fand. Unter anderem bekam ich durch dieses Buch wiederum Lust, mich mit den Jahren zwischen der WM 1974 und der WM 1978, also der Spätphase der Ära Helmut Schön, zu befassen, ein Zeitraum, der mich bis dahin nicht übermäßig interessiert hatte. Dies wiederum führte mich zu Schöns 1978 erschienener Autobiographie "Fußball - Erinnerungen" und von da landete ich nach einem Abstecher bei Ronald Rengs Buch "1974: Eine deutsche Begegnung" schließlich bei Bernd-Michael Beyers 544-Seiten-Epos "Helmut Schön: Eine Biographie", dessen zweite Auflage 2018 im Verlag Die Werkstatt erschienen ist.

Vorweg, nachdem ich an dieser Stelle vor einigen Wochen über die Thematik "Biographien, für die das Sujet nicht (mehr) zur Vergügung steht" geschrieben hatte: Es ist einfach nur faszinierend, wie Beyer es schafft, ein weitgehend auf Archivmaterialien basierendes Werk - und das ist es trotz der ergänzenden Interviews mit einstigen Spielern Schöns und dessen Sohn - mit Leben zu erfüllen und an vielen Stellen ein wunderbares Kopfkino entstehen zu lassen. Schöns Karriere als Spieler des Dresdner SC und der Nationalelf und später als Trainer dreier deutscher Staaten - der DDR (ohne offizielles Länderspiel), des Saarlandes und der Bundesrepublik - wird chronologisch und in einer jedenfalls für mich wunderbaren Detailfülle vertieft beleuchtet. Dabei scheut sich Beyer nicht, auch heikle Themen - etwa Schöns Rolle in der Nazizeit und die Umstände, unter denen er anders als die meisten seiner Teamkollegen eine Einberufung zur Wehrmacht vermeiden konnte - ebenfalls vertieft anzusprechen. Ausführlich wird Schöns Verhältnis zu seinem Mentor und Vorgänger Sepp Herberger mit all seinen hochspannenden Höhen und Tiefen betrachtet. Immer wieder streut Beyer gesonderte Betrachtungen (Exkurse etwa zu Schöns Verhältnis zu den Medien, zu seiner Haltung zum Doping oder zu seiner Rolle beim umstrittenen Besuch des Wehrmacht-Offiziers Oberst Rudel im deutschen WM-Quartier 1978) ein, die hier auch nicht - anders als in vielen anderen Büchern - künstlich hineingeboxt wirken, sondern sehr organisch als "Das schauen wir uns mal näher an"-Einschübe daherkommen. Ebenfalls hochspannend für mich war auch die ausführliche Darstellung, wie es zu Schöns im Ullstein-Verlag erschienener Biographie kam, mit der Co-Autorschaft von Will Tremper - ein seltsameres Gespann als den schmuddelig-krawalligen Boulevardschreiber und den betulichen Schön kann man sich in der Tat kaum vorstellen - und wie das Buch trotz überschaubarer Verkaufszahlen aufgrund lukrativer Vorabdrucke doch ein wenig zur Altersversorgung Schöns beitrug. Apropos Geld: Überhaupt widmet sich Beyer auch diesem Thema recht ausführlich - immer wieder geht es um die wirtschaftliche Situation Schöns, seine verzweifelte Wohnungssuche in Wiesbaden und den späteren Kauf eines Neckermann-Fertighaus-Bungalows, seinen Verdienst als Bundestrainer und den Umstand, dass er das Amt nach der WM 1974 nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen weiter ausüben zu müssen glaubte.

Beyer bezieht, auch das ein weiterer Pluspunkt, stets selbst klar Stellung, ordnet ein und bewertet. Recht interessant fand ich in diesem Zusammenhang übrigens seine Einschätzung, dass "das Engagement bei Cosmos New York nicht die klügste Entscheidung in Beckenbauers Karriere" gewesen sei, weil sie ihn in ein fußballerisches Exil geführt habe. Schon spannend, zu welch unterschiedlichen Sichtweisen man an dieser Stelle kommen kann. In meinen Augen war diese Entscheidung eine der mit Abstand klügsten, die der "Kaiser" je getroffen hat: Nicht nur, dass er sowohl auf Klub- als auch auf DFB-Ebene sterbende Mannschaften ohne jegliche Zukunft zurückließ, die - mit oder ohne ihn - ihre besten Jahre unwiderruflich hinter sich hatten, nicht nur, dass er vor zermürbendem Steuerärger in Deutschland und einem (ob seiner Affäre mit Diana Sandmann) hysterisch geifernden Boulevard fliehen konnte, er wechselte für drei wunderbare Jahre in eine komplett andere Welt - mit einer anderen Sprache, anderem Essen, anderer Kultur und Lebensweise. Auch wenn das New York der späten siebziger Jahre längst nicht das New York von heute war - für einen, der in einem großzügigen Apartment am Central Park leben und - fürstlich entlohnt - zusammen mit den einst größten Fußballern der Welt entspannt kicken und so etwas für die Etablierung des Soccer in Amerika tun konnte, war es mit Sicherheit wie ein Märchen aus tausendundeiner Nacht. Vielleicht hätte Beckenbauer in München noch einen oder zwei Meistertitel errungen, vielleicht wäre mit ihm als Leitwolf bei der WM 1978 doch ein dritter Platz drin gewesen - aber hätte das mehr zu seiner Karriere (auch später als Teamchef, WM-Organisator und Mann von Welt) beigetragen als die Jahre als Aufbauhelfer in New York? Wohl kaum.

Aber allein, dass ich jetzt schon wieder einen langen Absatz zu einem Thema geschrieben habe, das in Beyers Schön-Biographie nun wirklich nur eine Randnotiz ist, zeigt: Es ist ein großes Werk, mit dem man sich stundenlang beschäftigen und auseinandersetzen kann und darüber diskutieren kann, und es wird vermutlich für immer das Buch, das Standardwerk sein, wenn es um das Leben und Wirken des Helmut Schön geht. Ganz klare Kaufempfehlung! Und ich wünschte, dass es über Jupp Derwall, Berti Vogts und Erich Ribbeck ähnliche Bücher gäbe.

Bernd-M. Beyer: "Helmut Schön. Eine Biographie", Verlag Die Werkstatt