Dienstag, 19. September 2023

Die Ernst-Middendorp-Biographie: Definitiv ein Thema für deutsche Verlage

Wow! 510 prallgefüllte Seiten - oder, wenn man wie ich einen Text-to-Speech-Reader nutzt, mehr als 20 Stunden Hörzeit - über einen Trainer, der vielleicht nicht zur ersten oder zweiten Reihe der deutschen Top-Coaches gehört, aber gleichwohl eine schillernde Karriere mit überaus spannenden Auslandsstationen vorzuweisen hat. Für mich ist so etwas einfach ein Traum. Denn all die Guardiolas, Mourinhos und Ancelottis mögen ja interessante Persönlichkeiten sein und die größten, reichsten und besten Vereine der Welt coachen. Aber genauso, wie ich mir tausendmal lieber ein Spiel in der zweiten griechischen Liga anschauen würde als eines einer künftigen europäischen Super-League, ist für mich die Geschichte eines Trainers, der nach Südafrika oder Zypern geht und im Iran und in China  gearbeitet hat, ungleich spannender als die Stories der ganz Großen der Branche.

Nun ist es natürlich kein Zufall, dass ein derart umfassendes Werk über Ernst Middendorp nicht (jedenfalls nicht zuerst) in Deutschland erschienen ist. In Südafrika, wo Middendorp nach insgesamt zehn Stationen (und weiteren in Ghana) noch ein ganzes Stück bekannter und populärer ist als in Deutschland, hat es der Journalist Saul Kamionsky übernommen, die Karriere des studierten Berufsschullehrers im Detail nachzuzeichnen. Den Leser erwartet ein hochspannender Wandel zwischen den Welten - von Bielefeld, Uerdingen und Bochum geht es nach Accra (Hearts of Oak SC), in den Iran (Tractor Sazi Täbris), nach China (Changchun Yatai), Zypern (Anorthosis Famagusta FC), Thailand (Bangkok United) und vor allem und immer wieder nach Südafrika (Kaizer Chiefs, Golden Arrows, Maritzburg United, Bloemfontein Celtic, Moroka Swallows). Dazwischen kommt Middendorp immer mal wieder nach Deutschland zurück, übernimmt Rot-Weiß Essen, ein zweites Mal und später drittes und viertes Mal Arminia Bielefeld und den SV Meppen.

Was mich überrascht und gefreut hat: Die zwangsläufig größere Distanz, die Kamionsky zum deutschen Fußball im Vergleich zur südafrikanischen Premier Soccer League hat, merkt man dem Buch an keiner Stelle an. Im Buch begegnet man Namen wie Dixie Dörner und Markus Wuckel, Peter Vollmann und Reinhard Saftig - Protagonisten, die Middendorps Karriere allenfalls am Rande bis gar nicht tangierten, die aber von Kamionsky mühelos und mit großer Vertrautheit ins Spiel gebracht werden. Er betrachtet auch etliche Randfragen des Traineralltags, die mich aber schon immer extrem interessiert haben. So hat Middendorp bei Anorthosis Famagusta ja eine der in Griechenland, der Türkei und auch auf Zypern leider gängigen Kurzstationen absolviert - nach knapp drei Monaten und einer Niederlage in der zweiten Runde der Europa-League-Qualifikation wurde ihm bereits wieder der Stuhl vor die Tür gestellt. Ich habe mich immer gefragt: Wie läuft das eigentlich mit der Bezahlung bei derart kurzen Stationen, zumal die Zahlungsmoral in den o.g. Ländern ohnehin oft nicht die beste ist. Folgerichtig musste auch Middendorp über die FIFA sein Geld einklagen, die Sache landete später sogar in der nächsten Instanz (CAS), die Middendorp ebenfalls recht gab. Leider erfährt man nicht, um wieviel Geld es genau ging - und wieviel davon Middendorp am Ende tatsächlich bekommen hat. Auch im Übrigen hätte ich mir, wobei ich das bei fast jedem Buch sage, gewünscht, dass der ökönomische Teil der Trainertätigkeit noch etwas mehr Beachtung findet: Was verdient man denn als Trainer in Ghana, was in Südafrika, was in Thailand, was auf Zypern? An einer Stelle im Buch sagt Middendorp, dass die südafrikanische Premier Soccer League in wirtschaftlicher Hinsicht in den vergangenen zehn Jahren massiv zugelegt habe: "Meanwhile, you can compete with teams in Belgium, Holland or at a lower level in Germany or England." Ist das so? Ein ähnliches Gehaltslevel wie in Belgien oder Holland? Schön wäre es. Anhand der bei Transfermarkt.de veröffentlichten Marktwerte und der bekannten Durchschnittsgehälter in den Top-Ligen komme ich bei Holland und Belgien auf Durchschnittsgehälter um die 350.000 Euro/Jahr. Ich würde mich freuen, wenn die südafrikanische PSL ähnlich gut bezahlen kann.

11Freunde-Chefredakteur Philipp Köster, bekanntermaßen eingefleischter Arminia-Bielefeld-Fan, müsste an sich begeistert sein angesichts einer 510-Seiten-Biographie über den "Arminia-Trainer des Jahrhunderts". Und da er neben dem monatlichen 11Freunde-Magazin ja auch ab und an ein Buch auf den Markt wirft, das nicht unbedingt allein aufgrund kommerzieller Erfolgsaussichten ausgewählt wurde, kann er sich vielleicht auch dafür erwärmen, eine deutsche Ausgabe von "Resilience" herauszubringen. Wobei vermutlich schon allein die Übersetzungskosten ein solches Vorhaben in einer Weise in die roten Zahlen rutschen lassen würden, die auch Köster abschreckt. Lohnen aber würde es sich durchaus, denn umfassende, gut geschriebene Biographien von Trainern aus der zweiten und dritten Reihe sind hierzuland leider Mangelware.

Saul Kamionsky: "Resilience: The Ernst Middendorp Authorised Biography", Eigenverlag