Dienstag, 20. Mai 2025

Der "blonde Engel": Erinnerungen mit Weichzeichner

(KM) Kurz nach Diego Maradonas Tod erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Bernd Schuster. Der "blonde Engel" sprach darin in sehr berührender und warmherziger, fast schon poetischer Weise über seinen einstigen Barca-Teamkollegen. Ich hatte das Gefühl, dass damals der eine das Genie des anderen erkannt hatte und sie sich deshalb auf Anhieb mochten. Denn, ja, es gab eine Zeit, da war Bernd Schuster vermutlich der beste Mittelfeldspieler Europas. Irgendwie umwehte ihn auch immer der Hauch des Geheimnisvollen und in gewisser Hinsicht des Exotischen. Er war ein Star des FC Barcelona, schon damals einer der ganzen großen Vereine, der in den Vor-Internet-Zeiten für den deutschen Fußballfan jedoch unendlich weit weg war. Doch wann immer Schuster mit seinem Team mal in einem Europapokalspiel im deutschen Fensehen auftauchte, war er unübersehbar mit seiner blonden Mähne und seinem charakteristischen Laufstil. Dann waren da noch die ständigen Diskussionen über sein mögliches Comeback in der Nationalelf, sowohl unter Jupp Derwall als auch unter Franz Beckenbauer und selbst zu Berti Vogts' Zeiten spielte das Thema noch eine Rolle. Und dann gab es noch Gaby, Schusters Ehefrau, blond, attraktiv, einige Jahre älter als er und deutlich zu selbstbewusst und präsent für den engstirnigen, stockkonservativen DFB der Hermann-Neuberger-Zeit.

Zwar wurde Schuster 1980 mit der DFB-Elf Europameister, aber seine besten Jahre verbrachte er in Spanien und (leider) ohne weitere Länderspiele: Er errang Meistertitel mit dem FC Barcelona (1985) und mit Real Madrid (1989, 1990), wurde mit beiden Vereinen und dazu noch mit Atletico Madrid insgesamt sechsmal spanischer Pokalsieger und räumte obendrein auch die eine oder andere persönliche Trophäe ab. Wieviel Klasse in Schuster steckte, wurde dem deutschen Fußballpublikum eindrucksvoll vor Augen geführt, als er im Spätherbst seiner Karriere in die Bundesliga zurückkehrte: Bei Bayer Leverkusen bestimmte er mit Traumpässen das Spiel und schoss 1994 drei wunderschöne Tore des Monats, die bei der Wahl zum Tor des Jahres auf den Plätzen eins, zwei und drei landeten.

Es passt zu diesem ebenso eigenwilligen wie wunderbaren Spieler und seiner ungewöhnlichen Karriere, dass seine Autobiographie nicht in seinem Heimatland, sondern (bislang nur) in seiner Wahlheimat Spanien erschienen ist: Der Journalist Javier Ares überredete den "blonden Engel", der nach einigen Trainer-Wanderjahren nun wieder in Madrid lebt, seine Erinnerungen aufzuschreiben. 2018 erschien "Amor a primera vista" in einem spanischen Sportbuchverlag. Wie man heute mit Büchern umgeht, die in Sprachen veröffentlicht wurden, die man selbst nicht spricht, hatte ich ja schon bei der Besprechung der Sepp-Piontek-Biographie skizziert: Als E-Book kaufen, mit einem der etwas besseren Online-Tools übersetzen und mit Calibre wieder in ein E-Book-Format umwandeln oder auf Wunsch noch durch einen Text-to-Speech-Reader jagen - fertig ist das Hörbuch. In diesem Fall höchst unterhaltsame acht Stunden.

Gleich zu Beginn des Buches weist Schuster darauf hin, dass er keinesfalls schmutzige Wäsche waschen wolle. Daran hält er sich auch überaus streng - was dem Buch allerdings in meinen Augen nicht zum Vorteil gereicht. Denn die Karriere des "blonden Engels" war nun einmal von zahlreichen Konflikten geprägt - mit Trainer Karl-Heinz Heddergott in Köln, mit dem mächtigen Präsidenten Josep Lluís Núñez i Clemente in Barcelona, mit Jupp Derwall in der Nationalelf oder mit Erich Ribbeck in Leverkusen. Es ist noch nicht einmal so, dass Schuster diese Konflikte in seinem Buch verschweigt oder mit wenigen Worten abhandelt, er spricht sie durchaus substantiiert an. Aber über allem scheint eine Schicht Zuckerwatte zu liegen, vieles wirkt weichgezeichnet und zu versöhnlich, fast alle Menschen, die er erwähnt, sind liebe Freunde, geschätzte Kollegen, großartige Mitspieler, phantastische Gegenspieler und so weiter. Aber dadurch begibt er sich nach meinem Eindruck der Möglichkeit, Differenzierungen vorzunehmen und Kipppunkte prägnanter herauszuarbeiten. Beispielsweise würde ich, wenn ich mir die Fernsehbilder anschaue, mal behaupten, dass der berüchtigte Verteidiger Andoni Goikoetxea (Athletic Bilbao) Schuster 1981 - wie übrigens zwei Jahre später auch dessen Teamkollegen Diego Maradona - mit voller Verletzungsabsicht gefoult hat. Schuster fiel damals ein Dreivierteljahr aus, Maradona später sogar ein ganzes. Wie fühlt man sich als begnadeter Techniker, wenn man einem "Spieler" gegenübersteht, der nur ein Ziel hat - den anderen so zu verletzen, dass er nicht weitermachen kann? Oder: Barca-Präsident Núñez hat Schuster Mitte der 80er Jahre, weil er dem Publikum neue Stars präsentieren, der "blonde Engel" aber nicht weichen wollte, ein Jahr kaltgestellt - mittels eines wohlgesinnten Psychiaters wollte er ihn sogar für psychisch krank erklären lassen. Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass die eigene Karrierezeit auf vielleicht fünfzehn Jahre beschränkt ist, einem davon aber ein ganzes Jahr gestohlen wird? Hier hätte ich mir mehr Biss, mehr Deutlichkeit gewünscht.

Allerdings ändert das nichts daran, dass "Amor a primera vista" ein absolut lesenswertes Buch ist. Selbst die Erinnerungen an die Kinderjahre, die ich sonst meist überblättere, geraten hier hochspannend: Schusters überaus enge Beziehung zur Großmutter, der schmerzhafte Einschnitt, den ihr Tod für ihn bedeutete, oder das komplizierte Verhältnis zum Vater, der, obwohl selbst ein Spieler auf Verbandsliganiveau, seinen Sohn nicht ein einziges Mal im Stadion spielen sah, weder als Kind noch als Erwachsener, der sich nie erkundigte, ob und wie er gespielt habe, und der die Fußballleidenschaft seines Sohnes nie auch nur ansatzweise förderte. Dann ist da die Begegnung des im bayerischen Augsburg aufgewachsenen Nachwuchskickers mit seinem Idol Franz Beckenbauer, als er gemeinsam mit Teamkameraden an dessen Haustür klingelte, erst (wohl von Beckenbauers Frau) barsch abgewiesen wurde, nur um dann zu erleben, dass "Kaiser Franz" im Morgenmantel doch zur Tür kam und sich Zeit für die Jungs nahm. Hier hätte ich mir einen Bezug zur Zeit vor der WM 1986 gewünscht, als Schusters Rückkehr ins DFB-Team im Raum stand, einer Idee, der der nunmehrige Teamchef Beckenbauer nie sonderlich begeistert gegenüberstand - obwohl Schuster damals wahrscheinlich der einzige war, der Beckenbauers Idee von Fußball nahe kam. 

Wir haben hier schon Bücher besprochen, in denen Spieler von Vertragsverhandlungen in Autobahnraststätten zwischen Köln und Aachen berichteten. Bernd Schuster lebte da als Spieler in einer anderen Welt. Er flog mal eben von Madrid nach Genf, um sich mit Vertretern von Juventus Turin zu treffen - und ein Transfer scheiterte auch mal daran, dass es keine passende internationale Schule für die Kinder gab. Wie gesagt - Schuster errang Titel mit allen drei spanischen Top-Vereinen, als erster und einziger Ausländer überhaupt, und gehörte jahrelang zur Weltklasse. Als Trainer musste er etwas kleinere Brötchen backen - Fortuna Köln, 1. FC Köln,  Deportivo Xerez, UD Levante, FC Getafe. Und als er doch einmal eine Chance bei einem Top-Klub bekam, bei den "Königlichen" von Real Madrid - die ihn bei den Gehaltsverhandlungen allerdings wenig königlich über den Tisch zogen - und sogar den Meistertitel errang (2008), da galt das als das Normale und das Scheitern im Europapokal als Mißerfolg.
 
Heute lebt Schuster, inzwischen von Gaby getrennt und zum zweitenmal verheiratet, wieder in Spanien und beschränkt sich auf gelegentliche Kommentatorentätigkeiten. Apropos Gaby: Sie ist nach meinem Eindruck die einzige, die in dem Buch ein klein wenig zu schlecht wegkommt - oder das in den Medien stets gezeichnete Bild von der knallharten Verhandlerin, die für ihren Mann überaus vorteilhafte Verträge herausgeschlagen hat ("Ich will nicht, dass Bernd später auf irgendwelchen Messen Schuhe verkaufen muss.") stimmte so nicht. Zwar hat auch Bayer-Manager Reiner Calmund eingeräumt, dass Gaby Schuster die professionellste Verhandlungspartnerin war, der er jemals begegnet sei, aber im Buch wird das bestenfalls angedeutet.
 
Bernd Schuster mit Javier Ares: "Amor a primera vista", Roca Edit