(KM) Es gab eine Zeit, in der europäische Klubs noch nicht saudischen Staatsfonds, russischen Oligarchen oder amerikanischen Investmentfirmen gehörten. An ihrer Spitze standen nicht selten harte, skrupellose Selfmade-Millionäre, die wie Sonnenkönige regierten, ohne großes Nachdenken Trainer heuerten und wieder feuerten und speziell ausländische Kicker mit horrenden Summen anlockten, um dann aber auch sehr schnell wieder das Interesse an ihnen zu verlieren. Obwohl diese Klubbosse nach damaligen Maßstäben als "reich" galten, nehmen sie sich gegenüber den heutigen Milliardärseignern zumeist nur noch wie unbedeutende Provinzkrämer aus. Unser Nachbarland Frankreich hatte hier einige besonders schillernde Figuren zu bieten: Ich denke da an den Modezaren Daniel Hechter (Racing Straßburg), den Rüstungsmagnaten Jean-Luc Lagardère (Matra Paris), den Wirtschaftsprüfer Claude Bez (Girondins Bordeaux) und den Firmensanierer Bernard Tapie (Olympique Marseille). Speziell die letzten beiden lieferten sich Ende der 1980er Jahre ein erbittertes Duell um die Vorherrschaft im französischen Fußball - ein Duell, gegen das sich "Dallas" und "Denver Clan" wie Kindergeburtstage ausnehmen.
Wer sich näher für die damaligen Ränkespiele und Intrigen interessiert, sollte zu "Je dis tout : les secrets de l'OM sous Tapie" (übersetzt etwa "Ich sage alles. Die Geheimnisse von Olympique Marseille unter Bernard Tapie") von Jean-Pierre Bernès aus dem Jahr 1995 greifen. Vordergründig geht es in dem Buch um - wir haben mal wieder Thementage im Fußballbücher-Magazin (siehe schon unseren gestrigen Beitrag über Horst-Gregorio Canellas) - einen Bestechungsskandal. Diesmal in der französischen Ligue-1, und zwar im Titelrennen 1993. Damals sollen – kurz vor dem Champions-League-Finale, das Olympique Marseille (OM) gegen den AC Mailand bestreiten würde – Funktionäre des Klubs Spieler von US Valenciennes bestochen haben, damit Valenciennes im Ligaspiel gegen OM absichtlich weniger Widerstand leistet, um Marseille so einen sicheren Sieg zu ermöglichen und optimale Voraussetzungen für das anschließende Europapokalfinale zu schaffen. Marseille gewann das Ligaspiel 1:0 und wurde französischer Meister. Kurz darauf gewann die Mannschaft auch die Champions League gegen den AC Mailand.
Jean-Pierre Bernès, Generaldirektor von OM und Tapies rechte Hand, war je nach Betrachtungsweise der eigentliche Drahtzieher dieses Skandals, der die entscheidenden Gespräche mit den Kickern aus Valenciennes führte, oder ein von Tapie nur zu gern geopferter Sündenbock, dem plötzlich nachträglich Kompetenzen und Entscheidungsspielräume unterstellt wurden, die er bei OM als reiner Handlanger des mächtigen Klub-Bosses nie hatte. Es kann dahinstehenden, welche Version stimmt und ob Bernès, der für kurze Zeit sogar im Gefängnis saß, hier Täter oder Opfer oder beides war. Sein Buch votiert wenig überraschend für die zweite Variante. Den eigentlichen Reiz dieser Biographie machen in meinen Augen indes die Schilderungen des ganz normalen Alltags eines Klubmanagers in der Ligue-1 aus, eines Managers, dessen Chef wie gesagt eine erbitterte Fehde gegen den Girondins-Boss Claude Bez austrug. Bernes verstand sich mit Bez recht gut und musste immerzu lavieren, um nicht zwischen die Fronten eines Konflikts zu geraten, der nichts für zartbesaitete Gemüter war. "Im Krieg ist alles erlaubt", lautete Tapies Motto - etwas, das Bez vermutlich nicht anders sah. Der Klubchef aus Bordeaux mit dem markanten Walross-Schnauzer bezichtigte OM öffentlich des Betruges, wickelte Transfers selbst gern über diskrete Schweizer Konten ab und schickte bei Europapokalbegegnungen den Schiedsrichtern auch mal Escort-Girls ins Hotel: "Man muss sich angemessen um seine Gäste kümmern.“ Tapie warb Bez' Mann fürs Grobe, Ljubo Barin, kurzerhand nach Marseille ab, ließ anschließend Bernés Büro verkabeln und wies seinen Angestellten an, mit Barin dort vermeintlich vertraulich und ausgiebig über alle schmutzigen Tricks von Bez zu sprechen. Dies geschah, und die von Tapie installierte Abhöranlage zeichnete jedes Wort auf. Als Bernés, in Marseille zunehmend unglücklich, seinerseits mit einem Wechsel nach Bordeaux liebäugelte, verdoppelte Tapie mal eben sein Gehalt. Einfach so, von jetzt auf gleich. Das hielt ihn allerdings später, nach Aufdeckung des Valenciennes-Skandals, nicht davon ab, den gerade aus der Haft entlassenen Bernés zwar öffentlichkeitswirksam mit einen Privatflieger nach Marseille bringen zu lassen, ihm hierfür dann aber die Rechnung zu schicken.
Auch im Übrigen vermittelt das Buch wunderbare Einblicke in Tapies erratisches Agieren und den Alltag im Klub. Nach einer Niederlage von OM in einem Ligaspiel etwa zitierte Tapie seinen Generaldirektor Bernés und Stürmerstar Eric Cantona in sein Pariser Büro. Die beiden bestiegen brav die nächste Maschine von Marseille in die Hauptstadt, wo Tapie Cantona auf rüdeste Weise abkanzelte. Das Ergebnis laut Bernés: "Cantona war gebrochen. Er war weg vom Fenster. Und Tapie verkündete ihm im gleichen Atemzug, dass er gefeuert sei." Mit seinen dreimaligen Trainer Raymond Goethals, einem mit allen Wassern gewaschenen Belgier, lag Tapie im Dauerclinch. Einmal forderte er ihn bei einem Ligaspiel auf, einen in seinen Augen schwachen Innenverteidiger auszuwechseln. Als Goethals das ablehnte und der Kicker im zweiten Durchgang ein großartiges Spiel machte, verkündete Tapie gegenüber den Journalisten, dass er persönlich Goethals gebeten habe, den Spieler auf der fraglichen Position aufzustellen: "Ich war mir sicher, dass das funktionieren würde. Es war zwar ein Risiko, aber im Fußball muss man manchmal Risiken eingehen. Und ich liebe Risiken!"
Natürlich kommen im Buch auch Olympiques deutsche Akteure jener Jahre vor, Karlheinz Förster und Klaus Allofs und vor allem Franz Beckenbauer, aber alles in allem nur am Rande. Von Beckenbauer, dem, so Bernés, "Kaiser von Preußen", den Tapie 1990 als neuen Trainer verpflichtet hatte, hielt der Generaldirektor ohnehin nicht allzuviel: "Die Stimmung hatte sich [mit Beckenbauers Ankunft - KM] verändert. Die Freude am Spiel war nicht mehr dieselbe. Es war für alle schwierig, mit Beckenbauer und seinem Assistenten Osieck zu kommunizieren, die unsere Sprache nicht sprachen."
Man muss nicht alles, was Bernés schreibt, für bare Münze nehmen (Holger Osieck spricht übrigens sehr gut Französisch). Aber seine Biographie gewährt einen Blick ins Innenleben von OM und seine ganz persönliche Sicht auf die Regentschaft Bernard Tapies und einen der größten Skandale des französischen Fußballs.
Jean-Pierre Bernès: "Je dis tout : les secrets de l'OM sous Tapie", Albin Michel
