Auf die Biographie von Andreas Möller hatte ich mich sehr gefreut. So sehr, dass ich beim Verlag ein volles Jahr vor dem Erscheingstermin nach einem Besprechungsexemplar fragte. Über einen wie ihn musste es einfach ein Buch geben. Man findet nur wenige deutsche Fußballer mit einer ähnlichen Erfolgsbilanz: Weltmeister 1990, Europameister 1996, Champions-League-Sieger, UEFA-Pokal-Sieger, Deutscher Meister, DFB-Pokal-Sieger - und das sind nur die wichtigsten Titel. Möller galt Mitte der 1980er Jahre als eines der größten Talente des deutschen Fußballs und stand folgerichtig schon bald auf der berüchtigten "Schwarzen Liste" der Bundesliga. Und praktisch jeder einzelne seiner späteren Transfers innerhalb Deutschlands (zwei Stationen in Frankfurt, zwei in Dortmund, eine bei Schalke 04) sowie ins Ausland (Juventus Turin) war umstritten und Gegenstand hitziger Diskussionen. Da sollte es einiges zu erzählen geben. Tja, und da die Zeit zwar mitunter langsam, aber eben doch vergeht, war das Jahr irgendwann rum: Im September kam "Andy Möller: 15 Sekunden Wembley" (Verlag Die Werkstatt) endlich auf den Markt.
Die Kollegen vom Magazin "11Freunde" waren nach der Lektüre allerdings nur mäßig begeistert. "Etwas oberflächlich" sei das Werk, mäkelte Florian Nussdorfer im letzten Heft, "nicht viel mehr als Floskeln" habe Autor Dieter Sattler aus seinem Sujet herausgeholt. Das kann ich indes überhaupt nicht bestätigen. "15 Sekunden Wembley" ist ein unter vielerlei Aspekten lesenswertes und hochinformatives Buch. Gleichzeitig bietet es eine schöne Gelegenheit, einmal darüber nachzudenken, was gelungene von weniger gelungenen Biographien unterscheidet. Wer über die Karriere eines Fußballers schreibt, wird nicht umhinkommen, ein paar wikipediartige Informationen aufzunehmen: X spielte hier und dort, schoss dieses und jenes Tor, feierte solche und solche Erfolge. Aber dafür brauchte man schon in der Vergangenheit nicht unbedingt ein Buch - und inzwischen kann ich mir diese Daten in wenigen Sekunden von einer passablen KI-Anwendung in Prosaform zusammenstellen lassen. Was also sollte eine Biographie darüber hinaus leisten? Meines Erachtens sollte sie exklusive Innenansichten bieten, persönliche Wertungen, subjektive Versionen streitiger Sachverhalte, Einschätzungen über Mitspieler und Trainer - und/oder eine wirklich tiefgehende Persönlichkeitsstudie, wie sie beispielsweise Mathias Schneider mit "Löw: Die Biographie" gelungen ist.
Und wenn ich mir jetzt mit diesem Maßstab mal das Andy-Möller-Buch vornehme, ist ohne Wenn und Aber zu konstatieren: Die Innenansichten, Versionen und Wertungen bekomme ich hier sehr wohl. So gab es beispielsweise bislang nicht allzu viele - nach meiner Kenntnis null - Plädoyers pro Klaus Gerster. Anfangs Jugendtrainer und später persönlicher Berater Möllers, teilweise aber gleichzeitig auch Manager des jeweiligen Vereins - da waren Konflikte vorprogrammiert. In der seinerzeitigen Berichterstattung kam der "Schwarze Abt" in der Regel schlecht weg, als windiger Geschäftemacher und gewissenloser Profiteur des naiven Jungstars. Für mich war es hochspannend, nun einmal Möllers deutlich wohlwollendere Version zu lesen. Auch seine Ausführungen etwa über sein Verhältnis zu Torwart Uli Stein oder über das arrogante Auftreten des Noch-Spielers und Managers in spe Wolfgang Kraus bei Eintracht Frankfurt, sein erstaunlich kühler Blick auf seinen frühen Förderer Berti Vogts, die Umstände seines "Treueschwurs" in Dortmund 1989, seine Version des obskuren Optionsvertrages mit Juventus Turin oder die Begründung, warum er bei Borussia nicht unter dem Jungtrainer Matthias Sammer spiele wollte - all das sind Informationen, die mir so keine KI liefert und die eine Biographie wertvoll machen. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass ich alles, was ich hier lese, zwingend für unumstößlich und vollständig halte - aber es ist eben Möllers persönlicher Blick auf die Dinge, der für ein Gesamtbild unerlässlich ist. Und, ja, hier und da gibt es sicherlich Lücken. So hätte mich zum Beispiel schon interessiert, ob sich Möller - wie damals berichtet wurde - zur Erfüllung der Juventus-Optionsklausel aus dem Vertrag mit Eintracht Frankfurt "herauskaufen" musste. Seinerzeit war von fünf Millionen DM die Rede - auch für einen fürstlich entlohnten Bundesligastar Anfang der 90er Jahre eine riesige Summe. Und es ist ein klein wenig schade, dass es im Buch zwar ein eigenes Kapitel "Die Schwalbe" zum deshalb berühmt gewordenen Spiel Dortmund - KSC (2:1) im Jahr 1995 gibt, aber Möllers preisverdächtige Wortschöpfung "Schutzschwalbe" kein einziges Mal vorkommt. Nur wenige Menschen können für sich in Anspruch nehmen, den deutschen Sprachschatz bereichert zu haben - und dann auch noch mit einem so wunderschönen Begriff, der eigentlich nur aus dem Mund eines Juristen hätte kommen können. Ich jedenfalls muss immer breit grinsen, wenn ich ihn lese oder höre - und hätte mich gefreut, wenn es im Buch dazu eine Erläuterung gegeben hätte. Aber das sind eher Feinheiten und Geschmacksfragen.
Allerdings hielt "15 Sekunden Wembley" auch für mich eine kleine echte Enttäuschung parat - und zwar ganz am Ende. Denn Andy Möller blickt ja nicht nur auf eine großartige Karriere als Spieler zurück, sondern auch auf einige Jahre als Trainer. Die waren vielleicht nicht so glamourös, aber mit Sicherheit hochinteressant, gerade aus Sicht eines Spielers, der einst zu den ganz Großen gehörte. Möller stand als Chef in der Ober- und in der Regionalliga an der Seitenlinie und war zwei Jahre Co-Trainer der ungarischen Nationalmannschaft. Und vor allem über letzteres hätte ich nur zu gern etwas gelesen. Wie kam er zu dem Job? Wie war es für den einstigen Ballzauberer, unter seinem ehemaligen Teamkameraden, dem biederen Arbeiter und "Wasserträger" Bernd Storck, zu arbeiten? Was verdient man als Co-Trainer Ungarns? Ist das ein Full-Time-Job? Wie sah sein Arbeitsalltag aus? Hat Möller in dieser Zeit in Budapest gewohnt oder ist er immer nur anlassabhängig eingeflogen? Ja, es hätte viel zu erzählen gegeben - aber Dieter Sattler handelt diese ebenso wie alle anderen Trainerstationen Möllers in insgesamt fünf dürren Sätzen im Epilog ab. Das nenne ich eine vergebene Chance.
Aber Sattler und Möller hatten zuvor so viele starke Szenen im Spiel, pardon, im Buch, dass ich "15 Sekunden Wembley" gleichwohl uneingeschränkt empfehle. Gerade im Regal jener, die mehr oder weniger mit den Weltmeistern von 1990 erwachsen und älter geworden sind, sollte es nicht fehlen.
Dieter Sattler: "Andeas Möller: 15 Sekunden Wembley", Verlag Die Werkstatt