(KM) Die Möglichkeiten, die der technische Fortschritt uns eröffnet, sind einfach nur grandios. Ein Buch wie Christoffer Stig Christensens im Jahr 2016 ausschließlich auf Dänisch erschienenes Werk "Sepp: En biografi om manden, der ændrede dansk fodbold", eine umfassende, fundierte, überaus lesenswerte Biographie des früheren deutschen Nationalspielers und langjährigen dänischen Nationaltrainers Sepp Piontek, wäre mir noch vor zehn, zwanzig Jahren verschlossen geblieben. Sicher, ich hätte es vermutlich in irgendeiner "Internationalen Buchhandlung" - ja, so hieß das damals - als Printexemplar zu einem horrenden Preis bestellen können. Und dann? Mein Dänisch, nun ja, beschränkt sich auf ein einziges Wort: Smørrebrød. Und sich mit einem Wörterbuch hinzusetzen, um ein Buch zu lesen, ist eine mühsame und schnell frustrierende Angelegenheit. Im Jahr 2024 läuft das anders: Denn jetzt gibt es E-Books, also elektronische Daten, mit denen sich etwas anfangen lässt - und das ändert so ziemlich alles. Auch "Sepp" wird auf verschiedenen Portalen als E-Book angeboten. Also schnell zugeschlagen und das dänische Original durch ein Translation-Tool meiner Wahl gejagt. Wer hier weise wählt, bekommt inzwischen eine Übersetzung in wirklich phantastischer Qualität. Klar, an der einen oder anderen Stelle merkt man, dass es eine maschinelle Translation ist. Aber zu 97 % ist es ein perfekt lesbares Buch: Wenn man wie unser Chef Tim Bender außerdem noch Hörbücher bevorzugt, schickt man die übersetzte Datei anschließend noch durch einen Text-to-Speach-Reader und bekommt satte 15 Stunden Hörzeit mit bzw. über Sepp Piontek.
Und die lohnen sich!
Christoffer Stig Christensen, der Piontek übrigens einfach per Mail gefragt hat, ob er für ein solches Projekt zur Verfügung stehen würde, beleuchtet die gesamte Karriere des einst als knüppelhart verschrienen Verteidigers auf höchst farbenfrohe und lebendige Weise: Da sind beispielsweise der unverhoffte Wechsel vom Rasen auf den Bremer Trainerstuhl, die ersten Schritte als Coach bei Werder, bis Piontek einer Spielerintrige, angeführt von einem gewissen Rudi Assauer, zum Opfer fiel, die zwei abenteuerlichen Jahre beim berüchtigten haitianischen Diktator "Baby Doc", der seinem Coach mal so eben ein paar tausend Euro Taschengeld für eine Auslandsreise mit der Nationalelf in die Hand drückte, die Rückkehr nach Deutschland mit einem Job in der dritten Reihe - St. Pauli war seinerzeit ein mittelmäßiger Zweitligist am Rande der Pleite und Lichtjahre vom heutigen Kult-Status entfernt - und schließlich der Jackpot: Der dänische Fußballverband entscheidet sich gegen Udo Lattek, gegen Eckhard Krautzun - und für den eher unbekannten Sepp Piontek! Der Start misslingt - der neue Trainer verpasst mit seinem Team die Qualifikation zur WM 1982 in Spanien. Doch schon hier deutet sich an, dass Piontek im Begriff ist, etwas Großes aufzubauen, wobei er allerdings auch auf eine Generation großartiger Kicker zurückgreifen kann: von Morten Olsen und Sören Lerby über Frank Arnesen, Jesper Olsen und Michael Laudrup bis hin zum legendären Preben Elkjær Larsen, der Piontek bis heute freudschaftlich verbunden ist. Und in den Folgejahren kommen die Erfolge - 1984 scheitert Danish Dynamite bei der EM erst im Halbfinale an Spanien, bei der WM 1986 beendet das Team die Vorrunde als Gruppenerster.
Allerdings hat Piontek, der als Trainer mitunter ebenso rauhbeinig und kompromisslos wie als Spieler agierte, aber eben auch mit der Gelassenheit ausgestattet war, die einem zwei Jahren Vodoo-Haiti verleihen, die Herzen der Dänen nicht allein mit seinen Erfolgen als Trainer gewonnen. Nein, er hat sich mit Haut und Haaren auf dieses Land eingelassen, hat dort seinen Wohnsitz genommen, schon bald ein einzigartiges Kauderwelsch aus Dänisch und Deutsch gesprochen, das dem Autor zufolge allseits gut verstanden wurde, hat Ligaspiele besucht, Vorträge vor Unternehmern oder Handwerkern gehalten, sich streitbar auch zu politischen und sozialen Fragen geäußert und obendrein unsterblich in eine Dänin verliebt, weshalb er auch bis heute in der Nähe von Odense lebt. Leider hat ihn dies nicht vor einem unschönen Ende als Coach des Danish Dynamite bewahrt. Denn als die Nationalelf in der zweiten Hälfte der 80er Jahre nicht mehr an ihre früheren Leistungen anknüpfen konnte, wurde in den Boulevardmedien plötzlich genüsslich diskutiert, ob Piontek für die kostenlosen Mahlzeiten, die er beim Fußballverband bekomme, überhaupt Steuern bezahle, und dass er angeblich eine Deckadresse in Liechtenstein habe, über die er Werbezahlungen abwickele. Piontek war davon so erbost, dass er die Brocken kurzerhand hinwarf.
Auch wenn der Autor mittendrin, so zwischen EM 1984 und WM 1986, mal kurz ein wenig den Faden zu verlieren scheint und etwas Leerlauf zu überstehen ist, bietet das Buch alles in allem einen faszinierenden Einblick in den Alltag der dänischen Nationalmannschaft in den achziger Jahren und die ungewöhnliche Karriere eines deutschen Fußballprofis und -Trainers. Hierbei ist insbesondere hervorzuheben, dass das Buch nicht mit Pionteks Demission als dänischer Nationaltcoach abrupt endet. Knapp, aber dennoch sehr lebendig und nah am Sujet werden auch seine anschließenen Stationen als türkischer National- und Klubtrainer sowie seine Zeiten mit zwei dänischen Erstligaklubs beleuchtet, wobei der Autor auch hier die Stimmung jener Zeit und jener Orte wunderbar einfängt. Ganz klare Leseempfehlung an alle, die Dänisch sprechen - oder der obigen Handlungsanleitung folgen.
Christoffer Stig Christensens: "Sepp: En biografi om manden, der ændrede dansk fodbold", Gyldendal Verlag