Sonntag, 1. Dezember 2024

Überfällige Würdigung des "Alles-Machers"

Willi Lemke war Ende der 80er/Anfang der 90er Jahre für mich in erster Linie der Gegenspieler von Uli Hoeneß. Und auch wenn man mit dem Wort sparsam umgehen sollte, habe ich ihn damals gehasst. Der Kontrast zwischen den beiden Alphatieren hätte kaum größer sein können: Hier der barocke Lebemann Hoeneß, als Spieler Welt- und Europameister, Europacupsieger - dort der schrille Asket Lemke mit dem Aussehen und dem Charisma eines Buchhalters, der Fußballtrikots bestenfalls aus dem Fanshop kannte. Hier der soziale Münchner Manager, der sich selbstlos um vom Leben gebeutelte Ex-Bayern-Spieler wie Helmut Winklhofer oder Lars Lunde kümmerte. Dort der allzu clevere Werder-Strippenzieher, der einen peinlichen Bordellbesuch von Bremer Kickern nutzte, um ihnen Vertragsverlängerungen zu unveränderten (= für ihn höchst günstigen) Konditionen abzunötigen. Und genau dieser Typ setzte viel zu gekonnt Nadelstich um Nadelstich in Richtung meines geliebten FC Bayern, spielte perfekt das Spiel "Wir ach so armen, bodenständigen Bremer Arbeiter gegen die abgehobenen Millionarios aus München" und schürte die allgemeine Abneigung gegen den FC Bayern. Dass Werder den Münchnern in "meinem" (und Jupp Heynckes') ersten Bayern-Jahr 1987/88 auch noch die Meisterschale wegschnappte, machte die Sache naturgemäß nicht besser. Ja, ich habe Willi Lemke damals gehasst. Und - darauf habe ich an anderer Stelle schon mal hingewiesen - es hat eine ziemlich lange Zeit gedauert, bis ich ihn als einen der wichtigsten, kompetentesten und auch sympathischsten Protagonisten der Bundesliga jener Zeit anerkennen konnte. Einer im Übrigen, der mit seiner Kritik an Hoeneß gar nicht so selten richtig lag.
 
Lemke, im Sommer leider und viel zu früh verstorben, hatte sich 1999 aus dem operativen Bundesligageschäft zurückgezogen, um einen Posten in der Bremer Landesregierung zu übernehmen. Bis heute steht er gemeinsam mit Trainer Otto Rehhagel für die mit Abstand erfolgreichste Periode der Bremer Vereinsgeschichte - 1985 bis 1995 - mit zwei Meistertiteln, diversen Vizemeisterschaften, drei Pokalsiegen und dem legendären Coup im Europapokal 1992 gegen AS Monaco. Und ich würde mich mal so weit vorwagen und behaupten: Werder wird mit seinen - damals wie heute - sehr überschaubaren finanziellen Möglichkeiten und dem im bundesweiten Vergleich auch viel geringeren wirtschaftlichen Potential nie wieder in die Situation kommen, dem Branchenprimus über zehn Jahre ernsthaft Paroli zu bieten und ihn mitunter sogar zu übertrumpfen. "Leider", sage ich heute, nachdem mir zwölf bayerische Meistertitel in Folge die Freude an der Bundesliga weitgehend verdorben haben. Nimmt man nun noch hinzu, dass Lemke als Manager in vielerlei Hinsicht Vorreiter und Taktgeber der Branche war, erscheint eine Würdigung dieses Mannes in Buchform wahrlich überfällig.
 
Genau eine solche Würdigung liegt nun mit "Herr Lemke, übernehmen Sie!" (Edition Einwurf) vor. Dass sich mit den Autoren Helmut Hafner und Ralf Lorenzen ein Duo aus Politik und Sport gefunden hat, um Lemkes Biographie zu verfassen, macht bei einem solchen Wanderer zwischen den Welten - Lemke war einst Geschäftsführer der SPD in Bremen und organisierte Wahlkämpfe, übernahm dann den Posten als Manager bei Werder und trat später als Bildungssenator in die Landesregierung ein, um seine Karriere als UN-Sonderbotschafter für Sport ausklingen zu lassen - nun wirklich Sinn. 
 
Ich bin, was bei derartigen Biographien gar nicht so selten vorkommt, eher schwer in das Buch hineingekommen. Die üblichen Anfangskapitel über Kinder- und Jugendjahre geraten häufig zäh - oder sie interessieren mich schlicht nicht genug. Doch es dauert zum Glück nicht lange, ehe wir bei Willis Werder-Jahren landen - und hier beginnt für mich ein großes Lesevergnügen. Nicht streng chronologisch, aber dramaturgisch geschickt erzählen sie die Geschichte des "Alles-Machers", der bei Werder keinen Stab, kein großes Team hatte, alle Details selbst im Blick behielt und sich nicht zu schade war, auch mal persönlich Werbebanden von A nach B zu transportieren. Den Autoren gelingt es in hervorragender Weise - in meinen Augen eine der großen Leistungen des Buches -, das komplizierte Bremer Beziehungsgeflecht mit dem Präsidenten Franz Böhmert, der den Verein seriös nach außen repräsentierte, seinem Vize Klaus-Dieter Fischer, dem heimlichen Boss des Klubs, dem sportlich allmächtigen, aber innerlich oft auch unsicheren Trainer Otto Rehhagel und dem Geldbeschaffer Willi Lemke nachzuzeichnen. Es herrschte längst nicht nur Sonnenschein im vermeintlichen Paradies an der Weser. So ging der hauptamtlich tätige und sehr gut bezahlte Lemke dem ehrenamtlichen Präsidum mit seinem Sendungsbewusstsein und seiner medialen Präsenz mitunter ziemlich auf die Nerven. Er und Rehhagel standen sich, obwohl sie Seite an Seite die erfolgreichste Epoche der Vereinsgeschichte prägten, stets mit einer gewissen Distanz gegenüber - und blieben zeitlebens beim "Sie", während Lemke sonst alles und jeden duzte. Aber indem er Rehhagel in sportlicher Hinsicht komplett das Feld überließ und sich darauf beschränkte, dessen Transferwünsche zu erfüllen, ermöglichte er genau jene Arbeitsteilung, die für den Bremer Höhenflug hauptursächlich gewesen sein dürfte. Rehhagels einzigartiges Auge für die richtigen Spieler und Lemkes Verhandlungsgeschick waren einfach eine sensationelle Kombination. Wobei wie immer im Leben hier und da auch das nötige Quäntchen Glück nicht fehlte: Eigentlich wollte Bremen 1982 den Torschützenkönig der zweiten Liga, Dieter Schatzschneider, verpflichten. Weil der sich aber für Hamburg entschied, wies Rehhagel Lemke an, sich um einen gewissen Rudi Völler zu bemühen: "Wenn wir die Nummer 1 nicht kriegen, müssen Sie mit der Nummer 2 telefonieren." Völler war sportlich (119 Tore in 174 Spielen), menschlich und - mit seinem millionenschweren Wechsel nach Rom 1987 - auch finanziell einer der Top-Transfers der Vereinsgeschichte, während Schatzschneider in Hamburg und im Grunde auch bei jeder späteren Station sportlich und menschlich Schiffbruch erlitt.

Apropos Transfers: Ich hätte mir in jenen Werder-Kapiteln manchmal noch mehr Nähe zum Geschehen gewünscht. So hätte ich zum Beispiel gern nachträglich mit am Tisch gesessen, als Lemke 1990 mit den Machern von Lazio Rom den Wechsel von Karl-Heinz Riedle für eine seinerzeit sagenhafte Ablöse von 13 Millionen DM eintütete. Wie laufen solche Gespräche? Wie souverän (oder innerlich aufgewühlt) verhandelt man als Manager eines kleinen Vereins, wenn man weiß, dass eine Summe auf dem Tisch liegt, die den eigenen Klub auf Jahre sanieren kann - und eine Verletzung Riedles im nächsten Spiel alles zunichte machen könnte? Pokert man noch um die dreizehnte Million, wenn eigentlich auch schon zwölf ein riesiges Geschäft sind (Riedle kam 1987 für schlappe 800.000 DM von Blau-Weiß Berlin)? Derartige intime Einblicke gibt es leider nur wenige - aber, um nicht ungerecht zu sein, es gibt sie. So erfährt man, wie Rehhagel die Mannschaft nach Lemkes desaströser TV-Begegnung mit dem Spielervermittler Holger Klemme - der deckte vor Millionen Zuschauern die obige Bordellgeschichte auf - unter Strafandrohung vergatterte, in der Öffentlichkeit ja kein böses Wort über den Manager zu verlieren. Lemke vergaß ihm das nie. Und man erfährt, wie Stefan Effenberg indirekt zu Rehhagels Abschied in Bremen beitrug: Der seinerzeit in Florenz unter Vertrag stehende Spielmacher war der absolute Wunschkandidat des Werder-Trainers. Lemke leitete wie üblich die Verhandlungen ein, erzielte Einigkeit mit Verein und Spieler - doch dann begann Ehefrau Martina Effenberg plötzlich nachzukobern. In Abstimmung mit Fischer nahm Lemke Abstand von dem Deal. Dummerweise war da schon die aktuelle "Sport-Bild" in Druck, in der Rehhagel exklusiv berichtete, wie er Effenberg an die Weser geholt habe. Der Coach war blamiert und wurde Bremen - der "Stadt der kleinen Wege" - nun endgültig überdrüssig. Übrigens habe ich in Erinnerung, dass Rehhagel nach Bekanntwerden seines Wechsels zum FC Bayern 1995 auch plötzlich begann, in der Öffentlichkeit etwas abfällig über Lemke zu sprechen. Leider wird die Verschlechterung ihrer Beziehung in jener Zeit im Buch allenfalls angedeutet.

Wertvoll ist "Herr Lemke, übernehmen Sie!" auch deshalb, weil es Lemkes Pionierleistungen als Manager verewigt. Die Bundesliga verdankt ihm - und nicht Uli Hoeneß  - beispielsweise die Ehrenlogen und die Einlaufjungen. Und der Werder-Manager war 1989 der erste, der ein ganzes Bundesligaspiel an einen Sponsor verkaufte - Lemke kassierte 120.000 DM Festpreis und statt der zu erwartenden mageren 17.000 Zuschauer gegen Waldhof Mannheim kamen dank vom Sponsor verbilligt abgegebener Tickets 37.000. Letztlich geriet das Ganze zu einer Art Volksfest mit Bierzelt und Feuerwerk.

Ich freue mich sehr, dass Willi Lemke mit diesem Buch eine verdiente, bleibende Würdigung erfährt. Klare Kaufempfehlung - und zwar ausdrücklich nicht nur für Werder-Fans.

Helmut Hafner und Ralf Lorenzen: "Herr Lemke, übernehmen Sie!", Edition Einwurf