Dienstag, 24. Oktober 2023

Ein Buch über das Leben mit etwas zuwenig Fußball

Jean-Marie Pfaff ist eines meiner Kindheitsidole: Seine spektakulären Paraden, sein extravagantes Äußeres, seine coole blaue Towartkleidung - in meiner Erinnerung war sie stets blau, obwohl sowohl das Cover seines Buches als auch eine einfache Bildersuche im Internet das Gegenteil beweisen - und seine überaus sympathische Art ließen ihn nicht nur in meiner Beliebtheitsskala ganz oben rangieren. Da er obendrein auch etliche Jahre noch für den FC Bayern München gespielt hat (und dies in einer hochspannenden Zeit in den 80er Jahren), hatte ich mich auf seine Biographie sehr gefreut. 

In "Mein Leben" spricht der in eher einfachen Verhältnissen aufgewachsene Belgier ausführlich über seine Herkunft und Kindheit, seine Frau und seine drei Töchter, seine Eltern und Schwiegereltern und sehr ausführlich über seine Lebensprinzipien. Es geht um Ehrlichkeit und Wertschätzung, um Respekt und Loyalität, um Geradlinigkeit und den Umgang mit Krisen und Niederlagen. All das ist sehr authentisch - ich glaube Jean-Marie jedes Wort, das er schreibt -, und ich habe es mit wirklich großem Interesse gelesen. Aber ... aber leider kam mir dabei der Fußball an einigen (jedenfalls für mich) entscheidenden Stellen zu kurz.

Selbstverständlich geht es in dem Buch auch und gerade um Pfaffs beeindruckende Karriere: Die Anfänge als Halbprofi in Beveren (selbst als Nationaltorwart ging er Anfang der 80er Jahre nebenher noch arbeiten), die erfolgreichen Jahre beim FC Bayern und als Keeper des Nationalteams (mit einer EM- und zwei WM-Teilnahmen), das Gastspiel in Lierse und der Karriereausklang in der Türkei. Und diese Stationen werden keineswegs nur in Wikipedia-Art durchgehechelt: Jeans-Marie Pfaff nimmt uns vielmehr mit in die Kabine des FC Bayern, nachdem er in seinem ersten Bundesligaspiel das berühmte Reinders-Einwurf-Tor kassiert hat. Der Leser erfährt, wie Paul Breitner über seine Verpflichtung dachte, wie Trainer Pal Csernai ihm nach dem missratenen Debüt den Rücke stärkte, wie Manfred Kaltz mit einem Elfmeter an ihm scheiterte, obwohl (oder weil) Pfaff Breitners Eckentipp gerade nicht beherzigte, wie Pfaff bei Trabzonspor aufgenommen wurde und auch dort schnell die Herzen der Fans eroberte usw. 

Wieso mir dennoch etwas fehlt? 

Weil es für mich zum Beispiel auf der Hand gelegen hätte, dass Pfaff im Detail über seinen Konkurrenzkampf mit Raimond Aumann beim FC Bayern spricht. Bekanntermaßen herrschte zwischen beiden eine ausgesprochen eisige Stimmung, und der Kampf um den Platz im Tor wurde mit teilweise harten Bandagen geführt (auch wenn angebliche Handgreiflichkeiten im Training später von Aumann bestritten wurden). Ich meine mich zu erinnern (ohne es noch anhand konkreter Aussagen nachvollziehen zu können), dass dieser Kampf von Aumann, der in der Mannschaft das bessere Standing gehabt haben soll - wohingegen Jean-Marie Pfaff bei den Fans deutlich beliebter war -, nicht immer ganz fair geführt wurde. Ich könnte mir vorstellen, dass es hier etliche Momente im Training, beim Aufwärmen vor dem Spiel etc. gab, bei denen Jean-Maries Prinzipien auf eine harte Probe gestellt wurden. Nun kann und wird man Pfaff nicht vorwerfen wollen, dass er im Buch keine schmutzige Wäsche waschen will (dazu wäre er ohnehin nicht der Typ). Aber der Name Aumann fällt im Buch kein einziges Mal! Nur an einer Stelle heißt es knapp, dass beim Supercupspiel 1987 "ein Kollege" zwischen den Pfosten gestanden habe. Auch der Nami Toni Schumachers - zwar kein direkter Konkurrent Pfaffs, aber doch ein weiterer ganz großer Torwart jener Zeit und ein Gegenspieler nicht nur in der Bundesliga, sondern auch später während Jean-Maries Türkei-Abenteuer - wird kein einziges Mal erwähnt.

Ich hätte mir auch ein paar mehr Worte zu Pfaffs letztem Bayern-Jahr - der ersten Saison unter Jupp Heynckes - gewünscht. Es war ein schwieriges Jahr für die Münchner: Nach drei Meistertiteln in Serie unter Udo Lattek waren die Matthäus, M. Rummenigge, Nachtweih und Co. satt und fremdelten mit dem neuen Trainer ebenso wie er mit ihnen. Auch Pfaff konnte an seine exzellenten Leistungen aus den Vorjahren oft nicht mehr anknüpfen, was seinem Konkurrenten Aumann erst wieder Rückenwind verlieh. Uli Hoeneß war es, der Pfaff in Interviews damals den Rücken stärkte und gegen die aufkommende Kritik in Schutz nahm: "Vor einem Jahr, nach dem Spiel im Madrid, haben wir ihm noch die Füße geküsst! So einen Mann lässt man nicht einfach fallen, nur weil er mal ein oder zwei Spiele verloren hat." Wie hatte der extrem ehrgeizige und selbstkritische Jean-Marie diese Situation erlebt, als er merkte, dass er seinen Zenit wohl überschritten hat und sein jüngerer Konkurrent seine Schwäche wittert? Auch das hätte ich gern erfahren.

Kurz und gut: "Mein Leben" ist ein sehr persönliches, sehr berührendes Buch - mit stellenweise etwas zu wenig Fußball.

Jean-Marie Pfaff: "Mein Leben", Verlag Sicher Wissen