Dienstag, 28. November 2023

Nicht viele, aber überraschend interessante Einblicke

Ich hatte es an anderer Stelle schon einmal angedeutet: Wenn (ehemalige) Spieler oder Trainer Biographien vorlegen, dann möchte ich in erster Linie, dass sie den Vorhang lüften und mir exklusive Einblicke in die faszinierende Welt des Profifußballs gewähren. Mich interessiert ihr Alltag im Verein, das Training und die Reisen und Spiele, mich interessiert, wie Transfers zustande kommen, wie die Zusammenarbeit mit Journalisten erfolgt, wie sie über andere Spieler und Trainer denken. Über Schicksalsschläge jenseits des Fußballs, die sie in gleicher Weise wie andere Menschen ereilen, muss ich hingegen nicht allzuviel erfahren. Deshalb habe ich in der - ansonsten ausgezeichneten - Biographie Dieter Müllers das Kapitel über seinen an einem Hirntumor gestorbenen Sohn überblättert, deshalb habe ich bis heute die Biographie Erwin Kosteddes nicht angefasst (weil in ihr die düsteren Passagen überwiegend dürften), deshalb war ich von Andreas Bocks Buch über Kriminalfälle im Fußball nicht 100%ig begeistert - und deshalb habe ich in Thorsten Legats Buch auch alle Kapitel weggelassen, in denen es um seine Kindheit und den sexuellen Missbrauch durch seinen Vater geht.

Ohnehin war Legats Buch - immerhin schon 2014 erschienen - für mich kein No-brainer. Zum einen hatte ich ihn nach seiner Samurai-Schwert-Aktion und seiner Dschungelcamp-Teilnahme in der Kategorie "Leicht irre" abgelegt, zum anderen hat er bei keinem Verein gespielt, der mich überdurchschnittlich interessiert - und er war auch nie ein Spieler, der mich sonderlich interessiert hätte. Andererseits deckt Legat, der Ende der achtziger Jahre ins Profilager wechselte, natürlich genau "meinen" Zeitraum ab. Und als ich neulich in einer älteren 11Freunde-Ausgabe las, dass er sich seinem Buch z.B. über Beate Rehhagel äußert, gab mir das den entscheidenden Impuls, mir das Buch doch einmal vorzunehmen.

Nach entsprechender Kürzung des Buches - siehe oben - blieb zwar gar nicht mehr sooo viel übrig, etwa viereinhalb Stunden im Text-to-Speech-Reader, aber weniger ist ja manchmal mehr: Tatsächlich waren diese verbleibenden Teile des Buches hochinteressant, überraschte Legat doch mit unerwarteten Einschätzungen Otto Rehhagels (erstaunlich negativ), Willi Lemkes (erstaunlich positiv) oder Ralf Rangnicks (Tendenz zum Mobbing). Hochinteressant deshalb, weil sie meinen bisherigen Bildern widersprechen. So bin ich beispielsweise immer davon ausgegangen, dass Rehhagel, der seine Spieler siezte und auf Strafenkataloge verzichtete, nicht zuletzt deshalb so erfolgreich war, weil er es geschafft hat, seine Spieler für sich einzunehmen und eine auf gegenseitigem Respekt beruhende Beziehung aufzubauen. Legat hat dies anders empfunden: "Totgequasselt" habe ihn Rehhagel beim ersten Treffen, er selbst sei praktisch gar nicht zu Wort gekommen. Und später, so Legat, habe ihm Rehhagel "hinterfotzig" die Teilnahme an der WM 1994 vermasselt, indem er ihn in einem Spiel, das laut Vogts über sein Ticket entscheiden sollte, ohne jeden Grund nicht aufgestellt habe. Willi Lemke sei demgegenüber ein prima Kerl gewesen, der immer ein Ohr für die Spieler gehabt habe. Für mich war Lemke immer der ein klein wenig zu geschäftstüchtige Manager, der, als er zwei Spieler im Bordell erwischte, die Gelegenheit nutzte, ihre Verträge zu den bisherigen (also für den Verein günstigen) Konditionen zu verlängern. Nette Story am Rande: Von Beate Rehhagel, so Legat, habe er einst in der Kabine mit dem Zusatz "Knackig, knackig!" einen Klaps auf den nackten Hintern bekommen. Man stelle sich heute so etwas in umgekehrter Konstellation - etwa der männliche Trainer eines Frauen-Teams - vor.

Nun ist bei allen derartigen Erinnerungen klar, dass sie immer höchst subjektiv gefärbt sind und nicht 100%ig korrekt sein müssen. Es ist auch nicht alles stimmig, was Legat berichtet: So sollen Rehhagl und seine Frau sich kurz vor jenem Spiel, bei dem er dann auf der Bank saß, bei einem geneinsamen Café-Besuch mit dem Ehepaar Legat intensiv um eine Vertragsverlängerung des Kickers bei Werder bemüht haben. Dass daraus noch etwas wird, durfte Rehhagel indes kaum annehmen, wenn er Legat - so dessen Sichtweise - einige Tage später ohne ersichtlichen Grund um die WM-Teilnahme bringt. Ähnliches gilt für Legats späteren Missverständnis-Wechsel nach Frankfurt: Wieso überraschte es ihn komplett, dass er dort die Rolle Uwe Beins übernehmen sollte? Mal abgesehen davon, dass sich das nun wirklich nicht aufdrängte (genauso gut könnte man Lionel Messi bitten, beim VfB Stuttgart die Position Guido Buchwalds zu übernehmen), gab es doch mit Sicherheit Vorgespräche über die Pläne des Vereins bzw. des Trainers. Aber wie gesagt: Es ist nicht so entscheidend, ob das alles absolut akkurat ist. Es sind Legats Erinnerungen, die ich neben die Erinnerungen anderer Spieler und Trainer lege und die zum Gesamtbild beitragen.

Was bleibt, ist übrigens eine für Legat durchaus bitte Erkenntnis: So wenig er Otto Rehhagel geschätzt hat und so froh er war, als er Werder verlassen konnte - nie wieder feierte er so große Erfolge wie dort. Für mich bleibt ein überraschend kurzweiliges Buch, dessen Lektüre sich auch zehn Jahre nach Erscheinen noch lohnt.

Thorsten Legat: "Wenn das Leben foul spielt", Verlag Die Werkstatt