Sonntag, 7. April 2024

Deutliche Steigerung nach schwachem Start

Das Timing für das Erscheinen dieses Buches hätte kaum besser sein können. Als es Anfang März 2024 auf den Markt kam, wurde gerade mal wieder hitzig über einen möglichen Investoreneinstieg in die DFL diskutiert. Wenige Wochen zuvor hatten die Klubs zum zweiten Mal über diese Frage abgestimmt - und ein Vertreter hatte sich dabei nicht so ganz im Rahmen seiner internen Bindungen bewegt und so einen positiven Beschluss ermöglicht, der nun allerdings - nachdem die Spielfelder der Bundesliga von protestierenden Fans mit gelben Tennisbällen geflutet wurden - nicht umgesetzt werden soll. In Darmstadt ließen sich Mannschaft und Trainer nach einem verlorenen Spiel von einem wildgewordenen Ultra vor laufenden Kameras öffentlich zusammenstauchen. In Stuttgart wurde der "Fan-Präsident" auf Druck eines Investors als Vorsitzender des Aufsichtsrates der Profifußball-AG abgesetzt - was wiederum massive Proteste der Fans nach sich zog. 11Freunde-Chefredakteur Philipp Köster musste Sonderschichten schieben, denn im "Sport1-Doppelpass" wurde gleich mehrfach erörtert, wem der Fußball "gehört" und ob die Vereine erpressbar werden, wenn sie den Forderungen der Fans allzu schnell und allzu oft nachgeben. Ein Buch über die "Irrwege der Bundesliga" - so der Untertitel von Christoph Rufs "Genug geredet!" - passte da wirklich wie die Faust aufs Auge. Wenn Programmplanung heißt, zur richtigen Zeit mit dem richtigen Thema zur Stelle zu sein, um eine aktuelle Diskussion mitzugestalten, haben die Macher vom Verlag Die Werkstatt alles richtig gemacht.

Allerdings darf man aus dem Umstand, dass DFB, DFL, vermeintliche Investoren-"Heuschrecken" und abgehobene Klubbosse, die Fans nur als trikotkaufendes Klatschvieh ansehen, höchst dankbare (weil kaum zu verfehlende) Zielscheiben sind, nicht den Schluss ziehen, dass sich solche Bücher quasi von selber schreiben. Es ist meist keine gute Idee, in ausnahmslos jedes Horn zu stoßen, das auf dem Tisch liegt, und man sollte auch immer schauen, auf wessen Beifall man abzielt. Ausgerechnet zu Beginn des Buches, im großen "Corona"-Kapitel, läuft da bei "Genug geredet" meines Erachtens einiges nicht optimal. Extrawürste wie kein anderer gesellschaftlicher oder wirtschaftlicher Bereich habe der Profifußball seinerzeit bekommen, heißt es da, es habe in der Pandemie doch viel wichtigere Dinge gegeben als einen schnellen Re-Start der Bundesliga, und aus den Vertragsverlängerungen von Manuel Neuer oder Thomas Müller beim FC Bayern - jeweils zu verbesserten Bezügen um die 20 Millionen Euro/Jahr zuzüglich Prämien - erkenne man, dass von der zeitweise zur Schau gestellten Demut der Vereine nichts geblieben sei. Obendrein sei nach dem Re-Start dann auch ein Verein wie Dynamo Dresden massiv benachteiligt worden, weil die von Infektionen und Quarantäne geplagten Sachsen im Abstiegskampf sieben Spiele innerhalb von 19 Tagen absolvieren mussten. Die Dresdner Fans hätten ihr ohnehin kritisches Verhältnis zum DFB danach nicht revidiert. 

Okay, reden wir zunächst mal über die Dresdner Fans: Wer schon mal im Dynamo-Stadion war und miterlebt hat, wie sich - weil der Schiedsrichter es doch wirklich gewagt hat, auf Höhe der Mittelinie einen glasklaren Einwurf für die Gäste zu pfeifen - eine ganze Wand aus vor Wut und Zorn hochroten Gesichtern erhebt, wie sich eine Welle von unbändigem, unfassbarem Hass und Geifer über dem armen Schiri entlädt und en passant mindestens vier Straftatbestände tausendfach verwirklicht werden, der fragt sich, ob die Dresdner Fans wirklich die besten Zeugen der Anklage sind. Wie der Profifußball im Frühjahr 2020 unter widrigsten Bedingungen wieder ins Laufen gebracht wurde, war in meinen Augen eine Meisterleistung - dass es schon terminlich nicht ansatzweise möglich gewesen wäre, auf jede individuelle Besonderheit eines Klubs Rücksicht zu nehmen, verstand sich meines Erachtens von selbst. Alle Klubs - auch Dynamo Dresden - musten heilffroh sein, dass der Ball überhaupt wieder rollte. Und das Argument "Es gab während der Pandemie doch viel Wichtigeres als Fußball" ist in meinen Augen eines der eher billigeren Sorte, denn das alles gilt heute ja genauso: In München fehlen Kita-Plätze, in Gaza Medikamente, im Sudan droht 18 Millionen Menschen eine Hungersnot und in der Ukraine sterben Soldaten und Zivilisten in einem sinnlosen Krieg - und, ja, es wäre ausnahmslos wichtiger, Geld für die Lösung all dieser Probleme einzusetzen, als es für Fußball auszugeben. Aber es ist eben nicht die Aufgabe der Bundesliga, dies zu tun. Und was die Vertragsverlängerungen von Neuer und Müller angeht: Offenbar hatten beide Spieler das Gefühl, diese Gehälter fordern zu können - und der FC Bayern ging davon aus, sie bezahlen zu können und zu müssen, wenn er sie halten will. Daran ist nichts falsch und nichts verwerflich - und eine Kritik, die eher an den Neid des Lesers appelliert, in meinen Augen überflüssig. Wenn ich Bundesliga-Profis um etwas beneide, dann um die Möglichkeit, mit ihrem Sport Geld zu verdienen - und ich gönne jedem Spieler das, was er hier für sich verhandeln kann.

Auch an späterer Stelle greift Ruf leider immer mal wieder ins Regal mit den eher wohlfeilen Argumenten. Wenn die WM 2034 nach Saudi-Arabien gehe, führt aus, dann in ein Land, das "von Frauenrechten noch viel weniger hält als Katar. In Saudi-Arabien durften Frauen bis vor wenigen Jahren nicht einmal den Führerschein machen." Das ist ohne Zweifel beklagenswert - aber dummerweise war das 1974 in Deutschland auch noch nicht viel anders, und ich habe noch keinen der heutigen Katar- und Saudi-Arabien-Kritiker sagen hören, dass auch die WM 1974 seinerzeit niemals an Deutschland hätte vergeben werden dürfen. Frauen durften damals in Westdeutschland nur arbeiten, wenn das "mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar" war. Erst seit einigen Jahren durften sie  überhaupt ein eigenes Bankonto eröffnen (1962) und ohne Zustimmung des Ehemannes eine Arbeit aufnehmen (1958). Wollten sie die Scheidung, verloren sie jegliche Unterhaltsansprüche (das änderte sich erst 1977), Vergewaltigung in der Ehe war selbstredend straflos. Und nur zur Erinnerung: Homosexualität war in der Bundesrepublik bis 1994 (!) formal eine Straftat, nur in den meisten Konstellationen straflos gestellt (vgl. dazu hier). Etwas weniger deutsche Selbstgerechtigkeit, wenn es um die Entwicklung in anderen Ländern geht, könnte der ganzen Diskussion also nicht schaden.

Glücklicherweise findet Ruf nach dem eher holprigen Start zunehmend besser ins Spiel und erzielt Tor um Tor. Mehr als nachdenklich stimmt einen beispielsweise die Passage über Nationalspieler Antonio Rüdiger. Der hatte 2020 nach einem islamistischen Terrorakt gegen einen französischen Lehrer und der anschließenden Verurteilung dieses Terroraktes durch Staatspräsident Macron einen Instagram-Beitrag gelikt, der einen Stiefelabdruck quer über Macrons Gesicht zeigte. Nachdem dies bekannt wurde, ließ er sich von der Presseabteilung des DFB eine politisch korrekte, konturenlose Mitteilung drechseln, die wie Audruck von Bedauern klingen sollte, aber sorgfältig die Frage vermied, wieso ein Nationalspieler derartige Beiträge öffentlich überhaupt gut finden kann. Ebenfalls informativ und aufrüttelnd sind die Ausführungen über die unsinnigen Vorgaben an deutsche Profivereine, auch bei Tageslicht stets das Flutlicht einzuschalten (mindestens 1.600 Lux in der Bundesliga, damit die TV-Bilder gut und vor allem ähnlich ausfallen), den unsäglichen VAR, den unfassbaren Dilettantismus, der dem Einstieg von Investor Lars Windhorst bei Hertha BSC folgte, und zu den aktuellen Diskussionen um Investoreneinstiege und 50+1 insgesamt. Bei letzterem habe ich zwar nochmals einen Hauch von Ärger verspürt, weil Ruf es offenbar für durch und durch verwerflich hält, wenn Investoren mit ihrem Einsatz doch tatsächlich Gewinne erwirtschaften wollen. Das ist es aber nicht: Die Vereine haben es ganz und gar in der Hand, ob und zu welchen Bedingungen sie Investoren ins Boot holen. Und die Art und Weise, wie die Hertha-Verantwortlichen das Windhorst-Geld schlichtweg vertrottelt haben und sich jetzt anschließend einem weitaus unangenehmeren Partner ausliefern mussten, spricht weniger gegen Investorenmodelle und mehr gegen die Leute, die seinerzeit das Sagen hatten.

Rufs Buch, heißt es im Magazin 11Freunde, sei eine bitterböse Abrechnung mit dem modernen Fußball, "wie man sie in [...] dieser Klarheit selten gelesen hat". Das ist unnötig bescheiden, denn an zumindest einer Stelle lese ich derartige Abrechnungen seit Jahren in ähnlicher Form - nämlich bei 11Freunde selbst. Und so, wie ich mich dort immer mal wieder bei dem Gedanken "Das ist nicht unbedingt mein Blick auf das Spiel." ertappe, tue ich das auch bei Ruf. Aber das ist nicht schlimm. Denn jenseits der oben genannten Ärgernisse, speziell zu Beginn des Buches, ist es eine die gesamte Diskussion nicht nur zusammenfassende, sondern auch wirklich bereichernde Analyse, die - zumal in Buchform - stets hochwillkommen ist.

Deshalb: Ich freue mich über diese Neuerscheinung - und ich finde es großartig und anerkennswert, dass ein Buch trotz der "Reifezeit", die es benötigt, trotz des im Vergleich zu einem Magazin viel schwerfälligeren Produktions- und Auslieferungsprozesses so hochaktuell sein kann. Chapeau!

Christoph Ruf: "Genug geredet! - Die Irrwege der Bundesliga und die Inkonsequenz der Fans", Verlag Die Werkstatt