Sonntag, 28. Juli 2024

Canellas, Brandt & Reiser: Chronik eines turbulenten Jahres

Jedes Buch hat seine Zeit - und manchmal ist man eben auch zu früh dran. Ich hatte mir Bernd-Michael Beyers "71/72: Die Saison der Träumer" recht schnell nach Erscheinen zugelegt, war aber nach den ersten Seiten ebenso schnell wieder ausgestiegen. Nicht nur, dass mich der Zeitraum fußballerisch nicht übermäßig interessierte und die Anfangspassagen des Buches es auch nicht schafften, daran etwas zu ändern, ich wollte in einem Fußballbuch auch weder etwas über die Probleme der sozialliberalen Koalition Willy Brandts und den Terror der RAF noch etwas über Rio Reiser und "Ton Steine Scherben" hören, und ich wollte auch nicht, dass all diese Dinge zusammen in einen großen Topf geworfen werden. Um so mehr hat mich verblüfft, wieviel Freude und Genuss mir dieses Buch jetzt - gute drei Jahre später - bereitet hat, als ich es mal wieder hervorgeholt habe.

Dem war allerdings eine Fokuserweiterung meinerseits vorausgegangen: Aus mehrerlei Gründen und über mehrere Stationen, darunter nicht zuletzt Beyers grandiose Helmut-Schön-Biographie, war ich fußballerisch dann doch in den 60er und 70er Jahren gelandet (und teilweise sogar in der Zeit davor). Nachdem ich mir neulich schon Roland Rengs Gesellschaftsgemälde "1974 - Eine deutsche Begegnung" mit großem Vergnügen zu Gemüte geführt hatte, war es nur folgerichtig, nun auch der ganz ähnlich angelegten, vermutlich sogar als Vorbild dienenden "Saison der Träumer" eine zweite Chance zu geben.

Auf den ersten Blick hat sich Beyer als Betrachtungszeitraum eine Art fußballerisches Niemandsland ausgewählt: Der Bestechungsskandal, der die Bundesliga nach Canellas Enthüllungsparty in ihren Grundfesten erschütterte, hatte sich in der Saison zuvor ereignet, das ganze Ausmaß der Manipulationen kam aber erst nach und nach in den Folgejahren zum Vorschein. Dennoch gelingt es Beyer auf meisterhafte Weise, genau jenen Schwebezustand mit den immer neuen scheibchenweisen Erkenntnissen und Geständnissen, den vielen offenen Fragen, den Rückzugsgefechten der (sportlich groß aufspielenden) Schalker und dem ausschließlich reagierenden, getriebenen DFB anschaulich zu beschreiben. Der Leser taucht ein in eine Saison, die Gerd Müller zwar mit einer Rekordzahl an Toren beenden sollte, in die er aber formschwach startete und vom nicht allzu geduldigen Münchner Publikum übel geschmäht wurde. Er verfolgt Spieltag für Spieltag den Meisterschaftszweikampf zwischen dem FC Bayern und Schalke 04, in den Weisweilers Borussia Mönchengladbach nach schwachem Start nie nennenswert eingreifen konnte. Er nimmt an den endlosen und wendenreichen Diskussionen um einen möglichen Abschied Müllers vom FC Bayern und dem Pokern von Uli Hoeneß und Paul Breitner um neue Verträge teil, und begleitet die Nationalelf, in der Beckenbauer und Netzer ihre wohl beste Zeit hatten, bis ins 72er EM-Endspiel von Brüssel. Nach Lektüre des Buches habe ich mir bei YouTube übrigens nochmal einige der damaligen Szenen angeschaut, fand mich aber in meinem alten Vorurteil bestätigt: Die Leistungen der "besten DFB-Elf aller Zeiten" werden heute doch arg verklärt. Ich habe mich beim Zuschauen häufig gefragt, ob da gerade die Zeitlupe läuft. Wie schon Rudi Völler zutreffend festgestellt hatte: "Der Günter [Netzer], was die früher für einen Scheiß gespielt haben, da konntest du doch überhaupt nicht hingehen, die haben doch Standfußball gespielt."

Aber zurück zu Beyers Buch: Der Ansatz, nicht nur den Fußball zu betrachten, sondern ihn als Teil eines riesigen aus Politik, Gesellschaft, Sport und Musik bestehenden Mosaiks in den Blick zu nehmen und die Ereignisse jener Zeit nebeneinander dazustellen, überzeugt hier mindestens genauso wie bei Reng. Beyer handelt die Saison und das Geschehen in Politik, Gesellschaft und Musik chronologisch und wunderbar erzählt ab, gönnt sich dabei aber auch immer mal wieder Rückblenden und Ausblicke in die Zukunft. Es gelingt ihm meisterhaft, die einzelnen Erzählstränge immer mal wieder loszulassen, ohne sie aus dem Blick zu verlieren, sie dann wieder aufzugreifen und weiterzuverfolgen. Es wird deutlich, wie ungleich geringer der gesellschaftliche Stellenwert des Fußballs damals war (kein Politiker wäre auf die Idee gekommen, sich beim EM-Finale in Brüssel oder gar anschließend in der Kabine zu zeigen), wie berechtigt das Schmuddelimage des Fußballs (siehe die widerwärtigen Auftritte deutscher Schlachtenbummler beim EM-Finale gegen die Sowjetunion), wie ungleich dilettantischer die Vereine seinerzeit von Ehrenamtlichen geführt wurden und um wieviel geringer der Abstand zwischen gut entlohnten Bundesligastars und dem deutschen Durchschnittsverdiener war. Und zwischendurch erfährt der Leser eben auch, wie Brandt (vorerst erfolgreich) ums politische Überlegen kämpfte, wie Reiser (der sich für Fußball nicht interessierte) mit seiner Band versuchte, Im Musikgeschäft Fuß zu fassen, derweil sich Andreas Baader und Co. für Terror und Gewalt entschieden.

Neben den wie bei Reng auch hier gelegentlich ein klein wenig konstruiert wirkenden Querverbindungen zwischen Politik, Fußball und Musik gibt es übrigens auch einige tatsächliche:  Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass der Offenbacher Früchtehändler Horst-Gregorio Canellas, nachdem er als ein Hauptprotagonist des Bundesligabestechungsskandals unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten war, wenige Jahre später nochmals in gänzlich anderer Rolle auf die große Bühne zurückzukehren würde? Extrem gering - und dennoch passierte genau das: Canellas war einer von 86 Touristen, die 1977 als Passagiere des Ferienfliegers "Landshut" von islamistischen Terroristen entführt wurden.

"71/72: Die Saison der Träumer" - Fußballbuch des Jahres 2021 - ist kein lockerleichtes, unbeschwertes Buch, aber die Zeit, die Beyer betrachtet, war das auch nicht, weder im Fußball noch in der Politik. Aber es ist ein spektakuläres, begeisterndes und sehr berührendes Gesamtbild jener Zeit und ein großer Genuss. Vorausgesetzt natürlich, man liest es zur richtigen Zeit.

Bernd-M. Beyer: "71/72 - Die Saison der Träumer", Verlag Die Werkstatt