Mittwoch, 1. November 2023

Spannender als jener Grisham-Thriller

An sich interessiert mich der Vor- und Nachkriegsfußball relativ wenig. Neulich bin ich aber zufällig über einen Artikel gestolpert, der sich mit Bela Guttmann beschäftigte, einem jüdischen Fußballspieler und späteren Weltklassetrainer aus Ungarn. Ich hatte zuvor noch nie von Guttmann gehört - dabei war der Trainer Guttmann vermutlich einer der schillerndsten Progagonisten, die es im Profifußball je gab, ein früher José Mourinho, nur mit ungleich größeren Brüchen in der Biographie. Der Artikel wiederum führte mich zu diesem Buch hier:

David Bolchover hat 2018 mit "The Greatest Comeback: From Genocide to Football Glory: The Story of Bela Guttmann" eine umfassende, detailreiche Biographie vorgelegt, die nicht weniger als ein grandioses Meisterwerk ist und an sich ein haushoher Favorit für das "Fußballbuch des Jahres 2018" gewesen sein müsste. Es gab bereits mehrere Bücher über Bela Guttmann, darunter sogar eines, an dem er selbst mitgewirkt hat, das aber, wenn man David Bolchover glauben darf, seltsam selbstbeschränkt daherkommt: Der Holocaust wird in drei Sätzen abgehandelt, das Wort "jüdisch" kommt im ganzen Buch nicht ein einziges Mal vor - und dies bei einem Mann, der die großen Zeiten der Hakoah-Fußballvereine in Wien und New York maßgeblich mitgeprägt hat und als Jude der Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten gerade so entkommen ist.

Schon wenn es nur die Spieler- und vor allem die späteren Trainerstationen Guttmanns geben würde - Budapest, Wien, New York, Bukarest, Enschede, Triest, Padua, Mailand, Sao Paulo, Porto, Lissabon, Genf, Athen -, könnte man damit zwei Bücher füllen. Guttmann aber, der quasi ein  Leben lang mit dem in Europa und gerade auch in Osteuropa allgegenwärtigen Judenhass konfrontiert war, ging Mitte der 20er Jahre (nicht nur, aber auch deshalb) in die USA und war dort Teil der ersten Blütezeit des Soccer, um dann zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt, kurz vor Hitlers Machtergreifung, nach Europa zurückzukehren. Als auch den  Budapester Juden 1944 die Deportation und anschließende Ermordung drohte, schaffte er es, sich vor den Nazis zu verstecken, um nach dem Krieg seine Karriere als Trainer wieder aufzunehmen. In Italien verursachte er später einen Autounfall, der zwei Todesopfer kostete, ging daraufhin nach Südamerika, um einige Jahre später wieder nach Europa zurückzukehren und mit Benfica Lissabon zweimal den Europapokal zu gewinnen. Seine Stationen waren in der Regel kurz - Guttmann war kein langfristig denkender Visionär, sondern ein knüppelharter Schleifer, der ein hartes Regiment führte, keinen Widerspruch duldete und seine Linie konsequent durchzog, dem es dabei aber immer wieder gelang, bei seinen Teams zumindest kurzfristig ein Feuer zu entfachen und ein Wir-Gefühl zu erzeugen. Auch insoweit muss man zwangsläufig immer wieder an José Mourinho denken.

Bolchover beschreibt Guttmanns Leben als das, was es war, einen rasanten Fußball-Thriller vor dem Hintergrund der Grauen des zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Auch wenn der historische Kontext, den ich sonst an sich gar nicht brauche, hier unverzichtbar ist, findet der Autor für meinen Geschmack stellenweise etwas zuviel Gefallen an grausamen Details, etwa wenn es um die Ermordung von Säuglingen und schwangeren Frauen geht. Das wäre nicht nötig gewesen, um den Lebens- und Leidensweg eines der größten Trainer der europäischen Fußballgeschichte nachzuzeichnen, ist aber auch meine einzige Kritik an einem wunderbaren Buch, das schnellstens eine Übersetzung ins Deutsche erfahren sollte.

David Bolchover: "The Greatest Comeback: From Genocide to Football Glory: the Story of Bela Guttmann", Biteback Publishing