Freitag, 29. März 2024

Bitte eine baldige Fortsetzung: Starkes Debüt von Brdaric

Der SIBOST Verlag hat Ende 2023 ein Buch über Thomas Brdarics Trainerstation beim Chennaiyin FC in Indien herausgebracht ("Matchplan Indien") - und für Anfang 2025 die Autobiographie von Michael Boris, Trainer unter anderem bei MTK Budapest und Fehérvár FC, angekündigt? Um mit Franz Beckenbauer zu sprechen: Ja, is' denn heut' scho' Weihnachten? Für jemanden, der wie ich Legionärs-Stories über alles liebt, sind derartige Bücher schlichtweg ein Traum. 

Da mögen Kritiker noch so sehr die vermeintliche Überpräsenz des Profifußballs in den Medien beklagen und eine Übersättigung herbeireden - ich kann nur sagen: Ich bin glücklich, dass solche Buchprojekte heute möglich sind. Denn sie waren es viel zu lange nicht. Zwar haben deutsche Trainer auch früher schon im Ausland gearbeitet: Gerd Prokop zum Beispiel war ab 1982 mehr als ein Jahrzehnt in Griechenland tätig, Eckhard Krautzun hat Anfang der 80er Jahre bei den Fort Lauderdale Strikers in Florida den alternden Gerd Müller getriezt und Jürgen Sundermann übernahm 1983 den französischen Erstligisten Racing Straßburg. Aber wenn man nicht gerade ein Selbstvermarktungsgenie wie Weltenbummler Rudi Gutendorf war, wäre damals kein Verlag auf die Idee gekommen, ein Buch über solche Legionärsstationen zu veröffentlichen. 

Wenn man Glück hatte, gab es vielleicht mal eine kurze Erwähnung auf den Fußball international-Seiten des "Kicker". Und wenn das "Fußball-Magazin" unter der Rubrik Stars, die in die Fremde gingen gar mal eine größere Story brachte, war das wie ein Sechser im Lotto - aber diese Geschichten waren dann eher für Spieler vom Kaliber eines Karlheinz Förster (Olympique Marseille), Bernd Schuster (FC Barcelona), Kalle Rummenigge (Inter Mailand) oder Toni Schumacher (Fenerbahçe Istanbul) reserviert. Einer wie Prokop hingegen, der mit wechselnden Provinzvereinen über Griechenlands verdorrte Dorffußballplätze tingelte, hatte da keine Chance. Dabei hätte ich nur zu gern etwas über seine Jahre bei Apollon Smyrnis (1982-1983, 1986-1987) oder PAS Ioannina (1985-1986) gelesen: Wie war es, im Griechenland der 80er Jahre einen kleinen Klub aus dem Landesinneren zu trainieren, fernab jeglicher Gyros-und-Retsina-am-Strand-Urlaubsromantik? Die "Sport-Bild" hat Prokops Gehalt in Griechenland Anfang der 90er (bei Apollon Kalamarias) übrigens auf 20.000 DM/Monat geschätzt. War das realistisch? Angesichts des Umstandes, dass dies damals auch ungefähr das Gehalt eines Bundesliga-Trainers aus dem unteren bis mittleren Tabellendrittel war, habe ich diese "Schätzung" immer für Jägerlatein gehalten. Leider werden wir es nie erfahren, denn Gerd Prokop ist seit über 20 Jahren tot. 

Heute ist die Fußball-Welt - im positiven Sinne - viel enger zusammengerückt, viel durchlässiger und viel gläserner: Thomas Doll arbeitet in Indonesien (und die ARD bringt eine ausführliche Reportage darüber), Ernst Middendorp in Südafrika (und die ARD bringt eine ausführliche Reportage darüber). Und ein 28jähriger deutsch-mexikanischer No-Name ist  erst als Scout bei Honved Budapest und jetzt als Sportdirektor bei Raków Częstochowa tätig (und bei transfermarkt.de gibt es einen ausführlichen Bericht dazu). Ich liebe diese Welt! Es ist so, also würde man einen 8jährigen in einem Süßigkeitenladen einschließen.

Es wird also niemand verwundern, dass ich wie elektrisiert war, als ich hörte, dass Thomas Brdarić ein Buch über seine knapp einjährige Trainerzeit in Indien veröffentlicht hat. Der Ex-Leverkusener war zuvor bereits Sportdirektor bei Dynamo Minsk in Weißrussland und bei Bunyodkor Taschkent in Usbekistan, errang als Trainer Vizemeisterschaften in Mazedonien (2016/17) und Albanien (2019/20) und heuerte 2022 schließlich beim indischen Team Chennaiyin FC an. Nun mag der eine oder andere einwenden, dass dies alles keine Top-Adressen des Fußballs sind. Aber in Wahrheit spielt das absolut keine Rolle. Als jemand, der selbst schon im Ausland gearbeitet hat, weiß ich: Wer für ein halbes Jahre in Minsk lebt (und das nicht als Tourist!) und später zwei Jahre in Usbekistan, dann eines in Albanien und ein dreiviertel Jahr in Indien, der reift als Mensch und der sammelt einzigartige Erfahrungen, um die ihn so mancher Bundesliga-Trainer zutiefst beneiden wird. Und wie sagte Thomas Doll so schön über all die Spötter, die sein Engagement im vermeintlichen Fußballentwicklungsland Indonesien belächelten: "Was da irgendwelche 'Experten' erzählen, es wäre das Ende meiner Bundesliga-Karriere oder so - diese Leute haben mit meinem Leben oder meiner Karriere nichts zu tun. Die können schreiben, was sie wollen." Thomas Brdaric wird das vermutlich nicht viel anders sehen. 

Im Übrigen: Mir ist - ich habe es ja schon an anderer Stelle ausgeführt - ein authentisches Buch aus der zweiten oder dritten Reihe ohnehin lieber als eines der gehypten, abgehobenen Alphatiere der Branche. Wenn Pep Guardiola sich von seinem Hofschreiber Martí Perarnau ein steril-gelacktes "Deutschland-Tagebuch" erstellen lässt, reizt mich das ungefähr so wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Auf "Matchplan Indien" hingegen, und damit kommen wir nun endlich mal zum Buch, habe ich mich riesig gefreut.

Seine erste richtige Entscheidung hat Brdaric bereits mit dem Format getroffen: Er hat sein Indien-Abenteuer in Tagebuch-Form festgehalten, was zwangsläufig zu atmosphärischen Alltags- und Detailnotizen führt und weniger Raum für allzu abstrakte, grundsätzliche Ausführungen lässt. Auch wenn es ausdrücklich ein Buch über die Zeit beim Chennaiyin FC sein sollte, hatte ich mir vorab gewünscht, dass der Autor auch über seine früheren Stationen als Trainer und vielleicht sogar seine Spielerzeit spricht - und dieser Wunsch wird vom Autor dankenswerterweise ebenfalls erfüllt. Denn hier gibt es einiges zu berichten: Wer als Spieler von Christoph Daum, Berti Vogts, Toni Schumacher, Bernd Schuster, Aleksandar Ristic, Klaus Toppmöller, Jürgen Röber, Klaus Augenthaler und Jürgen Gelsdorf (!!!) trainiert wurde, könnte vermutlich allein damit zwei Bücher füllen. Brdaric erfreut mit knappen, prägnanten Einschätzungen zu einzelnen Trainern und wunderschönen Anekdoten wie jener, als er im Florida-Urlaub überraschend seinem Ex-Coach Christoph Daum über den Weg lief, der nach seiner Kokain-Affäre in die USA geflüchtet war, oder jener, als sich Jürgen Röber und Co-Trainer Bernd Storck beim VfB Stuttgart mehr für seine Akne interessierten, als den Youngster behutsam aufzubauen. Auch seine früheren Funktionärs- und Trainer-Stationen finden Berücksichtigung: Angesichts des andauernden Ukraine-Konflikts kann man nur wehmütig den Kopf schütteln, wenn Brdaric schildert, wie er während seiner Zeit als Sportdirektor in Weißrussland seinen Trainerschein in der Ukraine machte und regelmäßig zwischen Minsk, Kiew und seinem Wohnsitz Düsseldorf pendelte. Das ging damals noch. Von mir aus hätten die Passagen über die Zeiten in Weißrussland, Usbekistan, Mazedonien und Albanien sogar noch deutlich ausführlicher ausfallen können, aber natürlich sollte es vor allem ein Buch über die Indische Super League sein.

Man erfährt, wie der Kontakt nach Indien zustande kam, staunt über die ungewöhnliche Wohnsituation - Brdaric war mit seinem Trainerstab in einem Hotel untergebracht und musste vor jeder längeren Auswärtsreise jeweils komplett auschecken, also alle Sachen packen, um dann nach der Rückkehr ein anderes Zimmer zu beziehen -, freut sich über die genauen Beobachtungen in Bezug auf Land und Leute, Straßen und Gerüche, Gegensätze und Absonderlichkeiten, erfährt, warum ein spontaner Stadtbummel häufig keine Freude ist, und findet sich immer wieder mitten im ganz normalen Traineralltag mit all seinen Problemen, etwa wenn ein wichtiger Spieler seinen Coach durch Schlechtleistung und Missachtung provoziert, weil ihm in einer entscheidenden Phase der Saison keine private Reise in die USA genehmigt wurde. 

Wie schon an anderer Stelle beschrieben, interessieren mich ja immer auch die kleinen Details bei derartigen Auslandsstationen: Wie bekommt der Trainer sein Geld? Wie schickt er es nach Deutschland? Auch hierauf geht der Autor ein. Und es war alles nicht so einfach, denn ein Konto vor Ort durfte Brdaric nicht eröffnen, wobei er aber clever genug war, seine Entlohnung in Dollar (statt in der Landeswährung) zu vereinbaren. Der Verein bezahlte ihn in bar und gab ihm zwei Leute mit, die ihn zur Bank begleiteten und ihm dort die Hälfte seines Gehalts nach Deutschland überwiesen. Gegen Gebühr, versteht sich. Für mich auch immer interessant: Wie kommt der Trainer an den Rest seines Geldes, nachdem er gefeuert wurde? Bei seinem vorherigen Engagement beim KF Vllaznia Shkodër in Albanien feierte Brdaric große Erfolge, wurde Vizemeister, Pokalsieger und Trainer des Jahres. Und dennoch war im Folgejahr abrupt Schluss, als das Team die nunmehr viel zu hohen Erwartungen nicht erfüllte. Plötzlich waren all die gemeinsamen Erfolge mit einem Schlag vergessen: Der Verein feuerte Brdaric und wollte auch nur noch das Gehalt bis Ende des Monats der Freistellung bezahlen, nicht bis Vertragsende. Im Buch klingt an, dass die hierfür gelieferte Begründung überaus unschön war und der Trainer bei der letztendlich vereinbarten Abfindung mutmaßlich auf eine Stange Geld verzichtet hat. 

Über konkrete Zahlen wird dabei nicht gesprochen, aber für alle, die es interessiert: Ich habe anhand der bei transfermarkt.de veröffentlichten Marktwerte und sonstiger verfügbarer Zahlen in einer komplexen Rechnung, die eines Pythagoras würdig wäre, mal die Durchschnittsgehälter der Spieler in sämtlichen europäischen und asiatischen Ligen ermittelt. Nach meiner Berechnung dürften Albanien (ca. 25.000 Euro/Jahr) und Indien (ca. 31.000 Euro/Jahr) ungefähr auf einem Niveau liegen. Die Seite footystats.org gibt für Brdarics Klub Chennaiyin FC ein Durchschnittsgehalt von ca. 47.000 Euro an - welcher Wert näher an der Wahrheit liegt und vor allem was Brdaric selbst als ausländischer Promi-Trainer mit Bundesliga-Vergangenheit bekommen hat, wird er am  besten wissen. 

Leider bekam der Ex-Leverkusener keine Chance, sein Team in eine zweite Spielzeit zu führten: Nachdem der Klub nach Ende der regulären Saison im Super-Cup schwächelte, wollten die Klubverantwortlichen von der zuvor erwogenen Vertragsverlängerung nichts mehr wissen und feuerten den Coach. Das Positive daran ist: Wir werden den Weltenbummler Brdaric, der einige Monate später übrigens noch eine Station bei al-Arabi in Kuweit absolvierte, über kurz oder lang wieder auf einer anderen Trainerbank sehen. Und so sehr ich ihm ein Engagement im deutschen Profifußball von Herzen gönne, hätte ich auch nichts dagegen, wenn es ein Klub in Griechenland, dem Iran oder in Japan wird - und es demnächst ein weiteres spannendes Auslands-Tagebuch aus seiner Feder gibt. Denn sein Debüt hat definitiv Appetit auf mehr gemacht.

Für mich ist "Matchplan Indien" eines der besten, informativsten und atmosphärischsten Fußballbücher der letzten Monate. Klare Kaufempfehlung!

Thomas Brdaric: "Matchplan Indien", SIBOST Verlag