Montag, 26. August 2024

Aus traurigem Anlass: Biographie eines Besessenen

2024 ist kein gutes Jahr - jedenfalls nicht für Fußballromantiker mit einer Vorliebe für die 80er und 90er Jahre. Erst ist Kaiser Franz Beckenbauer gestorben, dann der 1990er WM-Held Andreas Brehme, vor einigen Wochen der langjährige Werder-Manager Willi Lemke - und gestern wurde bekannt, dass Christoph Daum den Kampf gegen den Krebs verloren hat.
 
Wer sich wie ich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mit Haut und Haaren dem FC Bayern verschrieben hat, konnte Christoph Daum an sich ebensowenig mögen wie etwa Willi Lemke oder Otto Rehhagel. Letztere schnappten sich 1987/88 mit Werder Bremen den Meistertitel und verdarben damit Jupp Heynckes seinen Einstand bei den Bayern. Daum, damals neuer Coach des 1. FC Köln und ein Nobody im Profifußball, versuchte in der Folgesaison mit forschen Sprüchen und teils unter die Gürtellinie zielenden Attacken den bei seiner ersten München-Station längst noch nicht so souveränen Jupp Heynckes zu verunsichern (was allerdings misslang - 1989 kehrte Bayern auf den Meisterthron zurück). 1999/2000 wollte Daum, inzwischen Coach bei Bayer Leverkusen und designierter Bundestrainer, seinen künftigen Job um jeden Preis gegen die aufkommenden Kokain-Gerüchte verteidigen und nahm dabei - und nur das habe ich ihm seinerzeit übel genommen - die Vernichtung der beruflichen Existenz seines Gegenspielers Uli Hoeneß in Kauf.
 
Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich meine damaligen Sichtweisen relativierte und zum Beispiel reinen Herzens anerkennen konnte, dass Otto Rehhagel vermutlich einer der drei besten Trainer war, die die Bundesliga je hervorgebracht hat. Dass Lemke bei seiner Hoeneß-Kritik den einen oder anderen Punkt hatte. Und dass Christoph Daum ebenfalls ein überaus erfolgreicher Coach war, der Teams wie nur wenige andere motivieren und zusammenschweißen und über ihre Grenzen führen konnte und der nicht ohne Grund sowohl in der Bundesliga als auch im Ausland große Erfolge feierte. Darüber hinaus war Daum ein im positiven Sinne Besessener, ein Mann voller Kanten und Konturen, voller Unverwechselbarkeit und Authentizität, gegen den etliche der heutigen Laptop-Trainer einfach nur wie peinliche Laienschauspieler wirken, austauschbar und gesichtslos.
 
Daums Tod, der mich tieftraurig gemacht hat, ist für den einen oder anderen vielleicht Anlass, sich (noch einmal) seine 2020 im Ullstein-Verlag erschienene Biographie "Immer am Limit: Mein Aufstieg, mein Fall - die ganze Geschichte meines Lebens" zu Gemüte zu führen. Ich habe sie inzwischen bestimmt sechs-, siebenmal gelesen und kann ohne jede Einschränkung sagen: In der Tabelle der Fußballer-/Trainer-Erinnerungen rangiert sie deutlich im oberen Drittel. Ein Buch wie Daum selbst - klar, kompetent, streitbar, unverwechselbar. Speziell die Kapitel über seine Jahre in Köln und Stuttgart sind ungeheuer dicht und sehr atmosphärisch, ebenso über das erste Türkei-Abenteuer. Die späteren Stationen Wien, Brügge und Rumänien (Nationaltrainer) kommen für meinen Geschmack hingegen etwas zu kurz weg.

Fairerweise muss ich dazu sagen, dass Daums Erinnerungen hier und da - sagen wir mal - etwas beschönigend ausfallen. Speziell beim Komplex "Kokainaffäre" rutscht er am Ende doch arg in Verschwörungstheorien ab. Aber nach meinem Eindruck kann man beim Lesen sehr gut trennen. So habe ich Daum jedes Wort geglaubt, das er über den Enke-Berater Jörn Neblung geschrieben hat (siehe hier), aber hingegen eben nicht alles, was er zu den Ursachen seiner überhohen Kokainwerte sagte. Und auch diese eher fragwürdigen Passagen ändern rein gar nichts daran, dass "Immer am Limit" ein wunderbares, ein großartiges Buch ist, das ich mit Genuss gelesen habe - und das jetzt zu einer fabelhaften Erinnerung an einen der ganz Großen der deutschen Trainergilde wird.

Machen Sie es gut, Herr Daum!

Christoph Daum, Immer am Limit: "Mein Aufstieg, mein Fall - die ganze Geschichte meines Lebens", Ullstein-Verlag