Donnerstag, 17. Oktober 2024

"Auges" Erinnerungen: Viel mehr als eine Biographie

Albrecht Breitschuh hat bereits 2020 mit seinem Buch "Rainer Zobel: Ein Glückskind des Fußballs" (Arete Verlag) eindrucksvoll bewiesen, dass er es versteht, wunderbar atmosphärische, durch und durch "runde" Biographien zu schreiben, Bücher der Sorte, "von der ich sehr gern noch mehr lesen möchte", wie ich damals notiert hatte. Die Erwartungen waren also durchaus hoch, als nun vor einigen Tagen - wiederum im Arete Verlag - Breitschuh neuestes Buch "Klaus Augenthaler: Immer nur rot-weiß gedacht" erschien.

Der Autor, der im Laufe der 264 Seiten erfreulich viel zum Entstehungsprozess des Buches verlauten lässt, drückt gleich zu Beginn jenes Erstaunen aus, das auch mich beim Blick auf etliche Stars der Vergangenheit regelmäßig überkommt: Ja, richtig, es gab bislang keine Biographie über Klaus Augenthaler. Über 400 Spiele für den FC Bayern mit sieben Meisterschaften und drei Pokalsiegen, der Gewinn der Weltmeisterschaft 1990, dazu eine Karriere, die schon begann, als Franz Beckenbauer noch beim FC Bayern spielte, und das gesamte anschließende Jahrzehnt überdauerte - und trotzdem gab es bislang kein Buch, das sich diesem ganz Großen des deutschen Fußballs widmete. Dafür aber gibt es Bücher über Leroy Sané oder Florian Wirtz, die sich - und das ist das eigentlich Absurde - vermutlich auch noch besser verkaufen.

Aber ich will gar nicht klagen, sondern mich freuen. Denn Albrecht Breitschuh ist es nicht nur gelungen, die hohen Erwartungen deutlich zu erfüllen, er liefert auch viel mehr als eine reine Klaus-Augenthaler-Biographie. "Immer nur rot-weiß gedacht" ist obendrein eine wunderbar zu lesende Chronik (vor allem) der 80er Jahre des FC Bayern. Im Buch kommen neben "Auge" etliche weitere Bayern-Akteure aus dieser Zeit zu Wort, etwa Hans Dorfner oder Norbert Nachtweih oder Raimond Aumann - und zwar nicht mit wohlfeilen Lobhudeleien über die Hauptperson des Buches, sondern mit subjektiven Einschätzungen und Meinungen und Innenansichten, die das Buch ungeheuer gehaltvoll machen. Ich hatte schon bei der Besprechung der Markus-Babbel-Biographie darauf hingewiesen, dass viel zu viele Bücher vor klaren Positionierungen inzwischen leider zurückschrecken. Doch für bloße wikipediaartige Geschehensabläufe a la "In der Saison X machte er 30 Spiele und wurde Meister und in der Saison Y 35 Spiele und schoss drei Tore." muss ich kein Buch kaufen. Nein, ich will erfahren, wie das Sujet über jenen Spieler und diesen Trainer denkt, warum er mit dem einen nicht klarkam und dem anderen doch, ob und wieso er einen anderen für überschätzt hielt, wieso das Team in der einen Saison versagte und in der anderen eine Sensation schaffte. Und es ist überhaupt nicht schlimm, dass das, was der Spieler/Trainer sagt, häufig nicht mit dem korrespondiert, was in anderen Büchern steht - denn es geht ja gerade darum, durch die Sammlung vieler verschiedener höchst subjektiver Erinnerungen und Sichtweisen und Bewertungen ein Gesamtbild zu gewinnen.

Ein Beispiel: So vertritt Augenthaler im Buch ganz entschieden die Meinung, dass Trainer Pal Csernai - dessen menschliche Defizite von den meisten seiner Spieler von München bis Frankfurt bestätigt werden - sehr genau wusste, wen er in der Mannschaft an den Pranger stellen konnte (die Jüngeren, die Schwächeren) und wen besser nicht: "Der Paul hat nie etwas zu hören gekriegt, der Kalle auch nicht." Eine Einschätzung, die übrigens auch in dem bitterbösen und in weiten Teilen gar nicht fiktiven Fußball-Roman "Pallmann" von Hans Blickensdörfer vorgenommen wird, in dem sich Trainer Durkovic alias Pal Csernai an den heimlichen Anführer Furtner alias Breitner nie herantraut. Ganz anders allerdings hat Jürgen Wegmann, der später ebenfalls das Trikot des FC Bayern tragen sollte, Csernai 1985/86 in Dortmund erlebt. Der sei, so erzählte er einst dem "Fußball-Magazin", sein bester Trainer gewesen, denn er habe "keine speziellen Lieblinge in der Mannschaft gehabt, sondern alle gleich gut oder schlecht behandelt". Ich finde solche (scheinbaren) Widersprüche hochspannend.

Aber zurück zum Buch: Breitschuh hätte sich darauf beschränken können, Augenthalers Weg zum und beim FC Bayern und in der Nationalelf nachzuzeichnen - und schon das wäre vermutlich ein lesenswertes Buch geworden. Aber indem er sich Saison für Saison vornimmt, auf die jeweilige Ausgangssituation und auch die Neuzugänge eingeht, teilweise Augenthalers Einschätzung zu diesen niederschreibt oder ihre Beziehung skizziert, dies um die Meinungen und Eindrücke seiner anderen Interviewpartner ergänzt, werden Stimmung und Konflikte einer jeden Saison wunderbar spürbar. Über den erbitterten Zweikampf zwischen Jean-Marie Pfaff und Raimond Aumann etwa erfahre ich in "Immer nur rot-weiß gedacht" zehnmal mehr als in Pfaffs eigener Biographie. Auch die Ausführungen, wieso Udo Lattek ein so herausragender Trainer und eine absolut respektierte Autorität war, obwohl das Tagesgeschäft weitgehend von seinem Assistenten Egon Coordes erledigt wurde, oder zu Matthäus, der in seiner Bayern-Zeit nie die oberste Kategorie der Hackordnung erreichte (Norbert Nachtweih: "Wir haben ihm immer gesagt, dein Platz ist in der zweiten Gruppe bei Wohlfarth, Kögl und ein paar anderen, aber nicht bei Klaus, Dieter Hoeneß oder mir.") oder zum vermeintlichem Kult-Schiedsrichter Ahlenfelder (Augenthaler: "Der nervte mich schon wegen seiner Gestik und Mimik, bei ihm hatte ich immer den Eindruck, dass er sich für die wichtigste Person auf dem Platz hielt.") habe ich förmlich verschlungen. Wunderbar finde ich auch, dass im Buch mehr als ein Satz über einen Mann wie Reinhold Mathy verloren wird, der auf Augenthalers Karriere vermutlich keinen größeren Einfluss hatte, aber Mitte der 80er Jahre eben als eines der größten Talente des deutschen Fußballs galt und in einer Bayern-Chronik jener Zeit in der Tat durchaus Erwähnung finden sollte. 

Ein klein wenig zu flapsig für meinen Geschmack führt Breitschuh den oben schon erwähnten Jürgen Wegmann, der 1987 zum FC Bayern wechselte, ein. Nach meiner Erinnerung kam Wegmann keineswegs bereits als "Kobra" nach München, sondern wurde dies erst während seiner beiden Jahre an der Isar. Und mit zweimal 13 Saisontoren für die Münchner, eine Quote, die weder Mark Hughes noch Johnny Ekström oder Alan McInally, Radmilo Mihajlovic und später der Brasilianer Mazinho auch nur ansatzweise erreichten, sollte man Wegmann auch nicht nur auf verbesserungswürdige Grammatik ("Ich bin giftiger wie die giftigste Schlange.") reduzieren. Außerdem, wenn ich schon mal beim Nörgeln bin, hätte ich mir im Buch die Passagen zu den späteren Trainer-Stationen Augenthalers - immerhin fast zwanzig Jahre seines Berufslebens, darunter Zeiten als Co-Trainer des FC Bayern in einer überaus kritischen Phase Anfang der 90er sowie später als Chef in Graz, Nürnberg und Leverkusen - genauso ausführlich und atmosphärisch gewünscht wie jene zu den Spielerjahren, aber hier werden die Jahre deutlich mehr zusammengerafft, wohl auch, weil das Buch sonst vermutlich über 450 Seiten dick geworden wäre (was mich nicht gestört hätte). Last but not least hätte ich gern ein klein wenig mehr zum Thema "Geld" erfahren. Zwar wird das Thema keineswegs ausgespart - sowohl Augenthalers Verdienst in seiner erster Saison (4.000 DM pro Monat) als auch in seinem ersten Meisterjahr (250.000 DM) werden erwähnt. Aber speziell bei Augenthaler, einem Spieler, der zwar nie das ganz große Geld heutiger Bayern-Stars, aber über viele Jahre für damalige Verhältnisse sehr gut verdiente, hätte mich überaus interessiert: Musste er nach Beendigung seiner aktiven Karriere noch als Trainer arbeiten oder hätte er unter finanziellen Aspekten, wenn er es denn gewollt hätte, auch gleich "Privatier" (wie der Boulevard immer euphemistisch über Gerd Müller schrieb) werden können. Es macht ja einen riesigen Unterschied, ob man arbeiten will oder muss. Aber ich weiß aus eigenen Gesprächen mit diversen Ex-Kickern, dass Geld nie ein einfaches Thema ist. Und diese drei Punkte sind auch auch schon alles, was ich am Buch zu bemängeln habe. 

Positiv hervorzuheben ist bei "Immer nur rot-weiß gedacht" demgegenüber schlussendlich noch, dass Breitschuh bei aller Sympathie und Wertschätzung für sein Sujet stets die nötige Distanz wahrt und auch vor kritischen Passagen nicht zurückschreckt. Wenn etwa Hans Dorfner im Buch über "Auge" sagt: "Ich habe mit ihm fünf Jahre zusammengespielt und wir haben in dieser Zeit keine drei Sätze miteinander gesprochen.", dann darf man das ja durchaus auch als eine Beanstandung der Führungsqualitäten des Bayern-Kapitäns und als einen der Gründe einstufen, wieso Dorfner nie so recht heimisch wurde beim FC Bayern und sich ein im Buch erwähnter Brief seines Nürnberger Trainers Heinz Höher als schmerzhaft prophetisch erwies. Auch der Frage, ob Norbert Nachtweih, der Augenthaler während dessen Verletzung in der Saison 1987/88 vertrat, nicht der bessere Libero war, weicht der Autor nicht aus. 

Fazit: Die längst überfällige Biographie Klaus Augenthalers setzt einem der wichtigsten Spieler des FC Bayern der 80er Jahre ein verdientes literarisches Denkmal und ist gleichzeitig ein wunderbares Stimmungsbild jener Zeit. Für Fans der Münchner sollte das Buch ohnehin Pflichtlektüre sein, für alle anderen, die speziell der Fußball in den 80er und 90er Jahren interessiert, ist es ebenfalls absolut lohnenswert. Ganz klare Kaufempfehlung! 

Albrecht Breitschuh: "Klaus Augenthaler: Immer nur rot-weiß gedacht", Arete Verlag