Freitag, 24. Oktober 2025

Wilde Achterbahn-Fahrt mit Thomas Schaaf

Den Spieler Thomas Schaaf hatte ich in der Schublade "Fußballerische Dutzendgesichter" abgelegt. Ein fleißiger, aber unauffälliger Arbeiter - und dann auch noch einer im Trikot von Werder Bremen, und zwar ausgerechnet jenem Team der Rehhagel-Ära, das meinen Bayern in meiner ersten richtigen Saison (1987/88) den Titel wegschnappte. Später, als Schaaf an gleicher Wirkungsstätte als Trainer agierte, sah ich das mit der Meisterschaft 1988 und auch vieles andere im Verhältnis der beiden Klubs längst etwas differenzierter. Aber allzu intensiv verfolgte ich seinen Weg gleichwohl nicht - und entsprechend zurückhaltend klappte ich nun seine von Daniel Cottäus verfasste Biographie (Verlag Die Werkstatt) auf. Nur um höchst angenehm überrascht zu werden. Denn Cottäus findet im Buch von Beginn an einen wunderbar atmosphärischen und gleichzeitig lockerleichten Ton, der den Leser sofort einfängt. Ich erlebe mit, wie Schaaf als C-Jugend-Spieler Wolfgang Rolff begegnet, einem späteren langjährigen Bundesliga-Kollegen und Weggefährten. Ich bin dabei, wenn beide mit A-Jugend-Nationaltrainer Dietrich Weise ins ferne Wolgograd reisen und vorher strenge Benimmregeln ("Keine Jeans!") erhalten. Schaafs Kindheit in den 1970er Jahren, die Stimmung jener Zeit - das alles wird überaus lebendig. Angesichts von noch über 300 vor mir liegenden Seiten wuchs meine Vorfreude mit jedem Umblättern. 
 
Aber dann - wie bei einer Achterbahn-Fahrt, wo man sich gerade noch auf dem Weg nach oben wähnt und unvermittelt wieder abwärts rast -  kommen die Kapitel über Schaafs Jahre in Werders Profiteam. Und die fallen in meinen Augen etwas enttäuschend aus. Ich hatte das Gefühl, dass ich zu wenig Neues erfahre, es mitunter zu durcheinander und - gemessen daran, dass Cottäus weit über dreißig Stunden mit Schaaf zusammensaß - zu wenig ins Detail geht. Beim zweiten Lesen habe ich dann gemerkt, dass es auch hier sehr wohl wunderschöne Anekdoten und Innenansichten gibt, etwa über Gastspiele des Teams in Tokio, Gehaltsverhandlungen in griechischen Restaurants oder eine 24-Stunden-Anreise nach Moskau, die Schaaf über Wilna nicht etwa in die russische Hauptstadt, sondern an den Abflugort Bremen zurückbringt. Aber in meiner Erinnerung bleibt vor allem, dass das Buch häufig genau dort, wo eine Positionierung des Insiders Schaaf nahegelegen hätte, schweigt: Wie veränderte sich das Verhältnis Otto Rehhagels zur Klubführung, zu Manager Willi Lemke und zur Mannschaft in seinen letzten Monaten in Bremen? Wie standen sich 1993 der egozentrische Neuzugang Mario Basler und der Rest des Teams gegenüber? Welche Rolle spielte Trainer-Gattin Beate Rehhagel im Klub? Hinzu kommt, dass sich Cottäus mitunter einen unnötigen Ausflug über den Spielfeldrand hinaus gönnt, etwa wenn allzu breit die sattsam bekannte Geschichte von Günter Schabowskis Mauerfall-Pressekonferenz noch einmal erzählt wird. Und manchmal wartet man auf etwas, etwa das zweite "Wunder von der Weser" - Werders legendärer 5:0-Sieg gegen den BFC Dynamo im Europapokal 1988 nach einem 0:3 im Hinspiel -, das dann erst im Jahr darauf erzählt wird. Inzwischen blätterte ich die Seiten einigermaßen missmutig um. 

Doch mit einem Mal geht es auf der Achterbahn wieder steil bergauf: Denn nun kommen die Jahre Schaafs als Nachwuchs- und Cheftrainer, und es ist, als hätte man einen Schalter umgelegt. Plötzlich geht wieder alles: Einblicke, Analysen, Atmosphäre vom Feinsten. Schaafs Erinnerungen bringen - jedenfalls für mich  - die erste differenzierende Betrachtung der Amtszeit von Aad de Mos in Bremen und dazu herrliche Ankekdoten, etwa wenn de Moos am Montag zum Familienvater Schaaf meint: "Pass auf, du musst am Donnerstag zu einer Spielerboeobachtung nach Brasilien fliegen." Es gibt hochspannende Schilderungen, wie Schaafs Samstag nach einem Spiel (zumal nach einem verlorenen) und der anschließende Sonntag aussehen. Wir kehren zurück in eine Zeit, in der Jounalisten den Bremer Chefcoach unter seiner Privatnummer anriefen, öfter mal seine Frau dran war ("Der Thomas saugt gerade sein Auto aus. Er ruft Sie zurück.") und Schaafs Äußerungen später ohne jegliche Autorisierung in Druck gingen. Heute ist so etwas undenkbar. Wir erfahren, wie Schaafs Spieler Torsten Frings ob eines vermeintlich perfekten Transfers nach Italien schon einen Mietvertrag für ein Haus in Turin unterschrieb, um dann doch nicht zu wechseln, und wie die Medien nach Schaafs Ende in Bremen dem Coach eine Flucht in sein "Ferienhaus in Salzburg" unterstellten, obwohl es ein solches Domizil nie gab. Auch Schaafs eher unglückliche Auswärtsspiele, die beiden Trainerstationen in Frankfurt und Hannover, werden zwar kurz, aber in meinen Augen hervorragend beschrieben.

Am Ende dieser Achterbahnfahrt war ich vollumfänglich versöhnt und hochzufrieden mit einer Biographie, die meine Sammlung von Büchern über Werder Bremen und seine Protagonisten (Rehhagel, Lemke, Fischer, Ailton, Borowka, Legat, Klose) wahrhaft bereichert. Klare Kaufempfehlung!

Daniel Cottäus: "Thomas Schaaf: Die Biographie", Verlag Die Werkstatt