Samstag, 16. November 2024

Ein vielversprechendes Debüt

Der Journalist Carsten Kulawik hat sich mit "Rudi Assauer. Macher der Herzen: Wie die Schalke Legende wirklich war" (Klartext Verlag) an ein ausführliches Porträt des 2019 verstorbenen früheren Schalke-04-Managers gewagt, mit dem ihn weniger eine berufliche (Kulawik ist Jahrgang 1991, Assauer 2006 bei Schalke ausgeschieden) als eine sehr enge private Beziehung verband. Mir hat diese Ausgangskonstellation durchaus Respekt eingeflößt. Denn zum einen existiert mit "Wie ausgewechselt: Verblassende Erinnerungen an mein Leben" bereits seit einigen Jahren eine umfassende und sehr gelungene Autobiographie Assauers (geschrieben mit Patrick Strasser). Zum anderen sind persönliche Verbundenheit und Wertschätzung ja nicht das Gleiche wie Nähe zum Geschehen. Letzteres hat Kulawik indes durch eine Reihe von Interviews kompensiert, die er mit Weggefährten, früheren Mitarbeitern Assauers und anderen Zeitgenossen führte. Deren Erinnerungen in Verbindung mit dem engen persönlichen Bezug des Autors ergeben eine sehr lesenswerte Würdigung des Menschen Rudi Assauer.

Auch wenn im Buch Assauers Kindheit sowie seine Karrierestationen als Spieler und später als Manager skizziert werden, ist es keine Biographie, die den Anspruch auf Vollständigkeit erheben könnte. Dafür bleiben - was vor allem auch mit den verfügbaren beziehungsweise vom Autor gewählten Gesprächspartnern zu tun haben dürfte - etwa die Karrierestationen Bremen und Oldenburg letztlich zu knapp, zu schemenhaft, zu blutarm. Der Schwerpunkt liegt auf der Zeit Assauers - besser: den Zeiten - bei Schalke 04, aber auch hier pickt sich das Buch einzelne Momente, einzelne Beobachtungen und Alltagssituationen heraus. Und genau dort, wo uns der Autor tief ins Innere mitnimmt und zum Beispiel die allmählich erodierende Beziehung zwischen Trainer Jörg Berger und der Mannschaft und das Lavieren Assauers hierbei beschreibt, wird es hochspannend. Gleiches gilt, wenn der Leser anhand vieler kleiner Beispiele erfährt, wie Assauer mit anderen sprach, stritt, verhandelte, gerade auch mit Kollegen wie Reiner Calmund oder Michael Meier. Und zwischendrin kommen dann auch immer wieder interessante hochpersönliche Momente wie Assauers Besuch in Kulawiks Elternhaus. Was macht man, wenn die geschätzte und verehrte Schalke-Ikone im heiligen Wohnzimmer der Eltern, in dem an sich strenges Rauchverbot herrscht, plötzlich ungeniert (und letztlich rücksichtslos) seine Zigarre hervorholt?

"Macher der Herzen" ist für mich nicht unbedingt ein Stand-alone-Buch, weil es sich der Person Assauer unter einem sehr speziellen Blickwinkel nähert und eben - siehe oben - in biografischer Hinsicht etliche Lücken bleiben. Aber es ist eine sehr schöne, warmherzige Ergänzung zu "Verblassende Erinnerungen" und als solche zweifellos Pflichtlektüre jedenfalls für echte Schalker. Mehr noch als das Buch selbst hat mir indes gefallen, wie Kulawik dieses Vorhaben angegangen ist und es umgesetzt hat, wie er Gesprächspartner aufgetrieben und befragt und ihre Erinnerungen in seinem Buch zusammengeführt hat. Das macht in jedem Fall Lust auf mehr. Ich wünschte, er würde sich weiteren derartigen Projekten widmen, denen dann zwar der persönlich-private Einschlag fehlen mag, die aber dennoch auch anderen Größen des Geschäfts würdige Denkmäler setzen würden. Kandidaten hierfür gibt es allein im Ruhrgebiet ja wahrlich genug.

Carsten Kulawik: "Rudi Assauer. Macher der Herzen: Wie die Schalke Legende wirklich war", Klartext Verlag

Montag, 4. November 2024

Ärgerliche Zweit-, Dritt- und Viertverwertung

Heute wählen wir mal wieder etwas aus der Kiste mit den schon angestaubten Werken. Als ich neulich in einem Berliner Antiquariat Waldemar Hartmanns Büchlein "Born to be Waldi" liegen sah, griff ich für kleines Geld zu - und wurde bitter enttäuscht. Das 2009 erschienene Buch wurde seinerzeit als Enthüllungsbuch beworben ("Deutschlands beliebtester Sportmoderator packt aus."). Das ist es nicht ansatzweise. Und selbst wenn ich Hartmann mal zugute halte, dass es vermutlich mehr oder weniger eine zwischen zwei Buchdeckel gepresste Variante seines damaligen Bühnenprogramms ist, habe ich mich über die wirklich üble Mischung aus schlüpfrigen Altherrenwitzen, albernen Plattheiten, bemühten Wortspielen und schon tausendmal gehörten Stories sehr geärgert. 

Ein Beispiel: Über zwei Seiten erzählt Waldi in schlaumeierischem Ton die Geschichte des legendären Schiedsrichters Wolf-Dieter Ahlenfelder, der - nachdem er 1975 vor einem Spiel von Werder Bremen gegen Hannover 96 sein Mittagessen mit zu viel Bier und Aquavit heruntergespült hatte - die erste Halbzeit bereits nach 32 Minuten abpfiff. Das führte unter anderem dazu, dass man am seinerzeitigen Ort des Geschehens, der Bremer Vereinsgaststätte, (angeblich) bis heute einen "Ahlenfelder" bestellen kann und folgerichtig Bier und Schnaps serviert bekommt. Das Problem hierbei ist: Waldi hat nicht das geringste Recht, uns diese Geschichte aufzutischen und mit solchem Zeug ein Buch zusammenzuschustern. Denn er hatte damals weder mit den Spiel noch mit Ahlenfelders Aussetzer irgendetwas zu tun und die Story stand seither schon in gefühlt einer Million Zeitungsartikeln und Büchern. Auch zu Mehmet Scholls dümmlichem Spruch, "Hund bei Uli Hoeneß" sein zu wollen, hat Hartmann keinerlei speziellen Zugang oder Bezug, ebenso wenig zu Willi Lemkes Tätigkeit als Doppelagent für BND und KGB. Und darüber wurde an anderer Stelle ebenfalls bereits zigfach geschrieben, oft weitaus fundierter und berechtigter. Derartige Zweit-, Dritt- und Viertverwertungen prägen leider das ganze Buch. 

Was mich weiterhin ärgert: In anderen Besprechungen hatte ich ja wiederholt darauf hingewiesen, dass ich mir meinungsstarke Autoren wünsche, die Klartext reden. Auf den ersten Blick tut Waldi genau das. So arbeitet er sich beispielsweise engagiert am früheren Bundestrainer Berti Vogts ab, dem "mausgrauen Trainer von der traurigen Gestalt", von dem er offensichtlich nichts hält. Mit Franz Beckenbauer, so Waldi, wäre das DFB-Team 1994 locker erneut Weltmeister geworden, das Finale Brasilien - Italien sei ein so grausamer Kick gewesen, den hätte die deutsche Elf, von Franz auf Linie gebracht, problemlos gewonnen. Mit "meinungsstark" meine ich natürlich: "Meinungsstark in Bereichen, in denen der Autor tatsächlich Insidereinblicke und/oder Expertise hat." Völlig unsubstantiierte, durch nichts begründete, einfach mal aus der Hüfte geschossene Behauptungen, die so oder so ähnlich genauso gut von Otto Normalfan nach dem dritten Bier kommen, sind hingegen eine Verschwendung meiner Zeit.

Selbst in den Bereichen, in denen Hartmann sicherlich Insidereinblicke hat, bleibt er oberflächlich und allgemein. "Natürlich weiß jeder, dass er seine Kolumnen nicht selbst schreibt", heißt es da beispielsweise über Lothar Matthäus. "Er gibt seinen Namen dafür her." Das wäre doch nun die Gelegenheit gewesen, mal aus der Schule zu plaudern. Wer ist beziehungsweise war denn Lothars Ghostwriter? Raimund Hinko? Oder Wolfgang Ruiner? Und was genau weiß Waldi darüber? So aber bleibt "Born to be Waldi" am Ende tatsächlich nur die Verschriftlichung eines auf billige Punkte und alkoholisierte Lacher ausgerichteten Comedy-Programms. Schade!

Waldemar Hartmann: "Born to be Waldi", Heyne Verlag

Freitag, 25. Oktober 2024

Heißer Herbst - Teil 2: Der nächste Kracher

Nach Norbert Nachtweihs Biographie griff ich mit zwiespältigen Gefühlen. Einerseits - darauf hatte ich schon in meiner Ankündigung hingewiesen - war „Zwischen zwei Welten“ das Buch, auf das ich mich unter allen Herbst-Neuerscheinungen am meisten freute. Denn Nachtweih, dessen Werdegang ich stets mit großem Interesse verfolgt hatte, blickt mit seiner DDR-Flucht, der Zeit bei Bayern in den 80er Jahren, der Legionärserfahrung in Südfrankreich und den Waldhof-Jahren in der zweiten Liga auf eine unglaublich spannende Karriere zurück. Anderseits hatte Klaus Augenthaler mit seinen Erinnerungen „Immer nur rot-weiß gedacht“ die Latte (und damit auch meine Erwartungen) extrem hochgelegt. Nun fragte ich mich: Kann sein alter Bayern-Kumpel Nachtweih dieses Niveau halten? Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ja, er kann - genau wie das Buch von Klaus Augenthaler und Albrecht Breitschuh ist auch das Gemeinschaftswerk von Norbert Nachtweih und Mathias Liebing ein unglaublich gutes Buch geworden: hochspannend, ungeheuer atmosphärisch, sehr meinungsstark und aus der Perspektive des Insiders geschrieben, ein absolutes Muss für jeden, der mit dem FC Bayern (80er) und/oder der Frankfurter Eintracht (70er/80er) etwas am Hut hat.

Ein prägendes Thema des Buches ist naturgemäß Nachtweihs Flucht in den Westen 1976 während eines Türkeitrips der DDR-U21-Nationalelf. Damit einher geht die Auseinandersetzung mit den daraus resultierenden Folgen und Konsequenzen für den Kicker selbst, seine Familie und für Dritte. Dabei hat mich die Fluchtgeschichte selbst gar nicht übermäßig gepackt. Hier musste ich oft an das schöne Wort von Wolf Biermann denken: „Was Du erinnerst, das warst Du nicht.“ Soll heißen: Erinnerung ist immer etwas, was man sich im Laufe der Jahre Stück für Stück unbewusst zurechtgelegt hat. Und wenn man sich Norbert Nachtweih in der von ihm im Buch mehrfach erwähnten NDR-Dokumentation oder in einen recht aktuellen SWR-Interview zum Buch anschaut, merkt man: Er hat die Geschichte seiner Flucht schon tausendmal erzählt, da ist viel Routine im Spiel, und vielleicht sind ein paar Dinge - der riesige Schnurrbart eines Vernehmers, der rauchvernebelte Raum, in dem das Gespräch stattfand - in der Rückschau auch peu à peu immer prägnanter geworden.  Interessanter ist da schon die Frage nach Schuld und Verantwortung. Muss oder kann ein 19jähriger, der während einer Auslandsreise eine vergleichsweise impulsive Entscheidung trifft, die Folgen dieser Entscheidung für seine Familie oder Dritte überblicken oder gar berücksichtigen? Im Buch wird deutlich, dass Nachtweihs Mutter unter der Trennung von ihrem Sohn arg zu leiden hatte. Und Burkhard Pingel, Nachtweihs Teamkollege und engster Freund beim Halleschen FC und im U21-Nationalteam ("Wir galten als die Zwillinge."), der in der Türkei die Möglichkeit gehabt hätte, Nachtweih auf seiner Flucht zu begleiten, sich aber dagegen entschied, bekam laut Nachtweih die ganze Härte der DDR-Staatsmacht zu spüren: Endlose Verhöre, vorerst keine weiteren Länderspiele, Einberufung zur NVA. Wobei man fairerweise sagen muss, dass die nackten Zahlen nicht ohne weiteres bestätigen, dass Pingel für die Flucht seines Freundes quasi mit seiner Karriere bezahlte: Er machte anchließend noch weit über 100 Oberligaspiele und kam 1978 auch in der U21-Nationalelf wieder zum Einsatz. Wie dem auch sei - Nachtweih duckt sich hier nicht weg, sondern stellt sich diesen Fragen offen und sehr reflektiert.

Spätestens mit der Ankunft des DDR-Flüchtlings in der Bundesrepublik beziehungsweise kurz darauf bei der Frankfurter Eintracht wird das Buch jedenfalls für mich zum Page-Turner. Nachtweih liefert ein wahres Feuerwerk an Insider-Infomationen, Eindrücken und Meinungen. Die ersten Monate im Westen, die Spiele mit der 2. Mannschaft der Eintracht in der hessischen Provinz (für das Profiteam war er ein Jahr lang gesperrt), der fremde Geruch der neuen Welt - ja, der Westen roch wirklich vollkommen anders als die DDR -, die Verlockungen des Nachtlebens und die weitgehende Ungestörtheit, in der er sich auch später als prominenter Bundesligakicker diesen Verlockungen hingeben konnte - hier wird durchweg jede Menge Kopfkino erzeugt. Nachtweih verrät interessante Randdetails - etwa, dass Franz Beckenbauer ab Mitte der achtziger Jahre immer mal wieder beim FC Bayern mittrainierte, ohne dass das für irgendwen inklusive der Journalisten ein besonderes Thema gewesen wäre. Hochspannend waren für mich auch die Einschätzungen zu Friedel Rausch und Jörg Berger, Pal Csernai und Lutz Eigendorf, Dragoslav Stepanović ("als Bundesligatrainer ungeeignet") und Klaus Schlappner ("ein Rassist"). Er erläutert nachvollziehbar, wieso er gemeinsam mit zahlreichen anderen Eintracht-Spielern in die Bauherrenmodell-Falle tappte und wie der FC Bayern das 1987er Europacup-Finale gegen den krassen Außenseiter FC Porto verlieren konnte.  Er hält ein leidenschaftliches Plädoyer für das Gespann Uli Hoeneß/Udo Lattek, das den FC Bayern vor allem mit Empathie und Wertschätzung geführt habe und so ganz maßgeblich für die Erfolge der Münchner MItte der achtziger Jahre verantwortlich gewesen sei. Und er liefert hochinteressante Informationen über sein Gehalt (bei der Eintracht anfangs 100.000 DM, später 200.000 DM, bei den Bayern anfangs 375.000 DM, beim AS Cannes dank Hoeneß' Verhandlungsgeschick unter dem Strich siebenstellig (!) und später in Mannheim 10.000 DM netto/Monat). Apropos Cannes: In vielen Büchern werden derartige Auslandsstationen am Ende der Karriere eher schnell und lieblos abgehandelt. Hier nicht: Detaillierter als irgendwo sonst erfahre ich hier, wie es zum Wechsel an die Côte d'Azur kam, wie er dort wohnte,  lebte und arbeitete - und auch hier läuft wieder jede Menge Kopfkino. Ich sehe Nachtweih in den kleinen Restaurants an der Mittelmeerküste sitzen und Wein trinken und ich sehe ihn mit Franz Beckenbauer - zu jener Zeit bei Olympique Marseille - am Rande eines Spiels unter südlicher Sonne plaudern.

Die Leichtigkeit und Beschwingtheit des Buches geht später ein wenig verloren, als es um Nachtweihs Karriere nach der Karriere geht, um die erfolglosen Versuche, im Trainergeschäft Fuß zu fassen und mit einem Schuhladen in Kaiserslautern Geld zu verdienen (ebenfalls erfolglos), aber dem stets nach vorn blickenden Sonnyboy gelingt es, übergroße Melancholie zu vermeiden. Ein klein wenig "angeklebt" und nachgeschoben wirkt das Kapitel über Nachtweihs Einblick in seine Stasi-Akte - es fügt sich nicht gänzlich organisch in den voherigen Teil, mitunter kommt es zu unnötigen Redundanzen. Aber dafür kommt nochmal Gänsehautfeeling auf, wenn Nachtweih erfahren muss, dass die Stasi offenbar in seiner Wohnung war, Fotos vom Schlafzimmer fertigte - ein in der Wohnung anwesender Hund störte dabei erstaunlicherweise nicht - und Überlegungen zur Verbringung eines "Pakets" in die DDR anstellte. Allerdings fällt gleichzeitig auf, dass die Stasi auf dem Papier weitaus agressiver war als in der Realität. Weder Nachtweih selbst noch ein Mitglied seiner Familie erlitt durch die Flucht tatsächlich größere greifbare Nachteile, Reisen Nachtweihs in den Ostblock (und dortige Familientreffen) verliefen problemlos, materielle Unterstützung aus dem Westen kam in Nachtweihs Heimat Polleben in der Regel an.

Die bei YouTube abrufbare NDR-Doku ist eine schöne Ergänzung zum Buch, gleichzeitig aber leider auch ein Beweis, dass man die Zeit eben nicht zurückdrehen kann. Uli Hoeneß, für den Nachtweih große Sympathien hegt und den er im Buch stets leidenschaftlich verteidigt, kommt in der Doku ausführlich zu Wort. Aber es ist eben nicht mehr der Uli Hoeneß vor dem Haftaufenthalt. Sicher, er lobt, wo er loben muss, er bringt hier und da eine schöne Pointe über Nachtweihs Bayern-Zeit, aber es kommt mechanisch-routiniert, nicht von Herzen, und es wirkt leider nicht authentisch. Allerdings wäre es unfair, eine Besprechung von "Zwischen zwei Welten" mit derart düsteren Gedanken zu beschließen, denn es ist ein großartiges Buch - und ich empfehle dringend, nicht zwischen Nachtweihs und Augenthalers Biographie zu wählen, sondern beide zu lesen. Es lohnt sich!

Norbert Nachtweih/Mathias Liebing: "Zwischen zwei Welten: Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte", Edel Sports

Donnerstag, 17. Oktober 2024

"Auges" Erinnerungen: Viel mehr als eine Biographie

Albrecht Breitschuh hat bereits 2020 mit seinem Buch "Rainer Zobel: Ein Glückskind des Fußballs" (Arete Verlag) eindrucksvoll bewiesen, dass er es versteht, wunderbar atmosphärische, durch und durch "runde" Biographien zu schreiben, Bücher der Sorte, "von der ich sehr gern noch mehr lesen möchte", wie ich damals notiert hatte. Die Erwartungen waren also durchaus hoch, als nun vor einigen Tagen - wiederum im Arete Verlag - Breitschuh neuestes Buch "Klaus Augenthaler: Immer nur rot-weiß gedacht" erschien.

Der Autor, der im Laufe der 264 Seiten erfreulich viel zum Entstehungsprozess des Buches verlauten lässt, drückt gleich zu Beginn jenes Erstaunen aus, das auch mich beim Blick auf etliche Stars der Vergangenheit regelmäßig überkommt: Ja, richtig, es gab bislang keine Biographie über Klaus Augenthaler. Über 400 Spiele für den FC Bayern mit sieben Meisterschaften und drei Pokalsiegen, der Gewinn der Weltmeisterschaft 1990, dazu eine Karriere, die schon begann, als Franz Beckenbauer noch beim FC Bayern spielte, und das gesamte anschließende Jahrzehnt überdauerte - und trotzdem gab es bislang kein Buch, das sich diesem ganz Großen des deutschen Fußballs widmete. Dafür aber gibt es Bücher über Leroy Sané oder Florian Wirtz, die sich - und das ist das eigentlich Absurde - vermutlich auch noch besser verkaufen.

Aber ich will gar nicht klagen, sondern mich freuen. Denn Albrecht Breitschuh ist es nicht nur gelungen, die hohen Erwartungen deutlich zu erfüllen, er liefert auch viel mehr als eine reine Klaus-Augenthaler-Biographie. "Immer nur rot-weiß gedacht" ist obendrein eine wunderbar zu lesende Chronik (vor allem) der 80er Jahre des FC Bayern. Im Buch kommen neben "Auge" etliche weitere Bayern-Akteure aus dieser Zeit zu Wort, etwa Hans Dorfner oder Norbert Nachtweih oder Raimond Aumann - und zwar nicht mit wohlfeilen Lobhudeleien über die Hauptperson des Buches, sondern mit subjektiven Einschätzungen und Meinungen und Innenansichten, die das Buch ungeheuer gehaltvoll machen. Ich hatte schon bei der Besprechung der Markus-Babbel-Biographie darauf hingewiesen, dass viel zu viele Bücher vor klaren Positionierungen inzwischen leider zurückschrecken. Doch für bloße wikipediaartige Geschehensabläufe a la "In der Saison X machte er 30 Spiele und wurde Meister und in der Saison Y 35 Spiele und schoss drei Tore." muss ich kein Buch kaufen. Nein, ich will erfahren, wie das Sujet über jenen Spieler und diesen Trainer denkt, warum er mit dem einen nicht klarkam und dem anderen doch, ob und wieso er einen anderen für überschätzt hielt, wieso das Team in der einen Saison versagte und in der anderen eine Sensation schaffte. Und es ist überhaupt nicht schlimm, dass das, was der Spieler/Trainer sagt, häufig nicht mit dem korrespondiert, was in anderen Büchern steht - denn es geht ja gerade darum, durch die Sammlung vieler verschiedener höchst subjektiver Erinnerungen und Sichtweisen und Bewertungen ein Gesamtbild zu gewinnen.

Ein Beispiel: So vertritt Augenthaler im Buch ganz entschieden die Meinung, dass Trainer Pal Csernai - dessen menschliche Defizite von den meisten seiner Spieler von München bis Frankfurt bestätigt werden - sehr genau wusste, wen er in der Mannschaft an den Pranger stellen konnte (die Jüngeren, die Schwächeren) und wen besser nicht: "Der Paul hat nie etwas zu hören gekriegt, der Kalle auch nicht." Eine Einschätzung, die übrigens auch in dem bitterbösen und in weiten Teilen gar nicht fiktiven Fußball-Roman "Pallmann" von Hans Blickensdörfer vorgenommen wird, in dem sich Trainer Durkovic alias Pal Csernai an den heimlichen Anführer Furtner alias Breitner nie herantraut. Ganz anders allerdings hat Jürgen Wegmann, der später ebenfalls das Trikot des FC Bayern tragen sollte, Csernai 1985/86 in Dortmund erlebt. Der sei, so erzählte er einst dem "Fußball-Magazin", sein bester Trainer gewesen, denn er habe "keine speziellen Lieblinge in der Mannschaft gehabt, sondern alle gleich gut oder schlecht behandelt". Ich finde solche (scheinbaren) Widersprüche hochspannend.

Aber zurück zum Buch: Breitschuh hätte sich darauf beschränken können, Augenthalers Weg zum und beim FC Bayern und in der Nationalelf nachzuzeichnen - und schon das wäre vermutlich ein lesenswertes Buch geworden. Aber indem er sich Saison für Saison vornimmt, auf die jeweilige Ausgangssituation und auch die Neuzugänge eingeht, teilweise Augenthalers Einschätzung zu diesen niederschreibt oder ihre Beziehung skizziert, dies um die Meinungen und Eindrücke seiner anderen Interviewpartner ergänzt, werden Stimmung und Konflikte einer jeden Saison wunderbar spürbar. Über den erbitterten Zweikampf zwischen Jean-Marie Pfaff und Raimond Aumann etwa erfahre ich in "Immer nur rot-weiß gedacht" zehnmal mehr als in Pfaffs eigener Biographie. Auch die Ausführungen, wieso Udo Lattek ein so herausragender Trainer und eine absolut respektierte Autorität war, obwohl das Tagesgeschäft weitgehend von seinem Assistenten Egon Coordes erledigt wurde, oder zu Matthäus, der in seiner Bayern-Zeit nie die oberste Kategorie der Hackordnung erreichte (Norbert Nachtweih: "Wir haben ihm immer gesagt, dein Platz ist in der zweiten Gruppe bei Wohlfarth, Kögl und ein paar anderen, aber nicht bei Klaus, Dieter Hoeneß oder mir.") oder zum vermeintlichem Kult-Schiedsrichter Ahlenfelder (Augenthaler: "Der nervte mich schon wegen seiner Gestik und Mimik, bei ihm hatte ich immer den Eindruck, dass er sich für die wichtigste Person auf dem Platz hielt.") habe ich förmlich verschlungen. Wunderbar finde ich auch, dass im Buch mehr als ein Satz über einen Mann wie Reinhold Mathy verloren wird, der auf Augenthalers Karriere vermutlich keinen größeren Einfluss hatte, aber Mitte der 80er Jahre eben als eines der größten Talente des deutschen Fußballs galt und in einer Bayern-Chronik jener Zeit in der Tat durchaus Erwähnung finden sollte. 

Ein klein wenig zu flapsig für meinen Geschmack führt Breitschuh den oben schon erwähnten Jürgen Wegmann, der 1987 zum FC Bayern wechselte, ein. Nach meiner Erinnerung kam Wegmann keineswegs bereits als "Kobra" nach München, sondern wurde dies erst während seiner beiden Jahre an der Isar. Und mit zweimal 13 Saisontoren für die Münchner, eine Quote, die weder Mark Hughes noch Johnny Ekström oder Alan McInally, Radmilo Mihajlovic und später der Brasilianer Mazinho auch nur ansatzweise erreichten, sollte man Wegmann auch nicht nur auf verbesserungswürdige Grammatik ("Ich bin giftiger wie die giftigste Schlange.") reduzieren. Außerdem, wenn ich schon mal beim Nörgeln bin, hätte ich mir im Buch die Passagen zu den späteren Trainer-Stationen Augenthalers - immerhin fast zwanzig Jahre seines Berufslebens, darunter Zeiten als Co-Trainer des FC Bayern in einer überaus kritischen Phase Anfang der 90er sowie später als Chef in Graz, Nürnberg und Leverkusen - genauso ausführlich und atmosphärisch gewünscht wie jene zu den Spielerjahren, aber hier werden die Jahre deutlich mehr zusammengerafft, wohl auch, weil das Buch sonst vermutlich über 450 Seiten dick geworden wäre (was mich nicht gestört hätte). Last but not least hätte ich gern ein klein wenig mehr zum Thema "Geld" erfahren. Zwar wird das Thema keineswegs ausgespart - sowohl Augenthalers Verdienst in seiner erster Saison (4.000 DM pro Monat) als auch in seinem ersten Meisterjahr (250.000 DM) werden erwähnt. Aber speziell bei Augenthaler, einem Spieler, der zwar nie das ganz große Geld heutiger Bayern-Stars, aber über viele Jahre für damalige Verhältnisse sehr gut verdiente, hätte mich überaus interessiert: Musste er nach Beendigung seiner aktiven Karriere noch als Trainer arbeiten oder hätte er unter finanziellen Aspekten, wenn er es denn gewollt hätte, auch gleich "Privatier" (wie der Boulevard immer euphemistisch über Gerd Müller schrieb) werden können. Es macht ja einen riesigen Unterschied, ob man arbeiten will oder muss. Aber ich weiß aus eigenen Gesprächen mit diversen Ex-Kickern, dass Geld nie ein einfaches Thema ist. Und diese drei Punkte sind auch auch schon alles, was ich am Buch zu bemängeln habe. 

Positiv hervorzuheben ist bei "Immer nur rot-weiß gedacht" demgegenüber schlussendlich noch, dass Breitschuh bei aller Sympathie und Wertschätzung für sein Sujet stets die nötige Distanz wahrt und auch vor kritischen Passagen nicht zurückschreckt. Wenn etwa Hans Dorfner im Buch über "Auge" sagt: "Ich habe mit ihm fünf Jahre zusammengespielt und wir haben in dieser Zeit keine drei Sätze miteinander gesprochen.", dann darf man das ja durchaus auch als eine Beanstandung der Führungsqualitäten des Bayern-Kapitäns und als einen der Gründe einstufen, wieso Dorfner nie so recht heimisch wurde beim FC Bayern und sich ein im Buch erwähnter Brief seines Nürnberger Trainers Heinz Höher als schmerzhaft prophetisch erwies. Auch der Frage, ob Norbert Nachtweih, der Augenthaler während dessen Verletzung in der Saison 1987/88 vertrat, nicht der bessere Libero war, weicht der Autor nicht aus. 

Fazit: Die längst überfällige Biographie Klaus Augenthalers setzt einem der wichtigsten Spieler des FC Bayern der 80er Jahre ein verdientes literarisches Denkmal und ist gleichzeitig ein wunderbares Stimmungsbild jener Zeit. Für Fans der Münchner sollte das Buch ohnehin Pflichtlektüre sein, für alle anderen, die speziell der Fußball in den 80er und 90er Jahren interessiert, ist es ebenfalls absolut lohnenswert. Ganz klare Kaufempfehlung! 

Albrecht Breitschuh: "Klaus Augenthaler: Immer nur rot-weiß gedacht", Arete Verlag

Sonntag, 13. Oktober 2024

Ein kleines, aber feines Liebhaberstück

"Elfmeterschießen kann man nicht trainieren!" Erstaunlich, wieviele - teils überaus prominente - Trainer diese Überzeugung vertreten - oder doch zumindest lange Zeit vertraten. Genaugenommen meinen sie damit sogar noch mehr, nämlich: "Ein Elfmeterschießen kann man nicht sinnvoll vorbereiten!" Dem norwegischen Sportpsychologen und Elfmeter-Experten Geir Jordet gelingt in seinem Buch "Unter Druck: Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können" (DuMont-Verlag) eine stimmige, hochspannende, gut zu lesende und absolut überzeugende Widerlegung dieser Theorie. Und ich fürchte, nach der Lektüre des Buches muss ich dem von mir überaus geschätzten Jupp Heynckes vorwerfen, als Trainer des FC Bayern München das 2012er "Finale dahoam" höchstpersönlich verloren zu haben - durch eine ungenügende Vorereitung des entscheidenden Elfmeterschießens. Wer erinnert sich nicht an die kurzfristige und fast verzweifelte Suche nach willigen Schützen - nach mehreren Absagen musste Towart Manuel Neuer als einer der ersten Fünf antreten - und die passiv-ängstliche Mienen- und Körpersprache der Bayern, die sich deutlich von jener der Chelsea-Kicker unterschied.

Ein Buch nur über das Elfmeterschießen? Der Buchtitel verspricht zwar mehr ("Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können"), Jordet bleibt dann aber doch erfreulich eng am eigentlichen Thema - und das tut dem Buch gut. Es ist nämlich gerade kein weiterer überflüssiger Lebens- und Karriere-Ratgeber, der nur krampfhaft einen Aufhänger beim Fußball sucht, sondern tatsächlich ein Werk, das sich kompetent und umfassend mit einem der schwierigsten und stressigsten Teile eines K.O.-Spiels beschäftigt. Dabei erliegt der Amateurfußballer Jordet nie der Versuchung, den Elitekickern dieser Welt erläutern zu wollen, wie man in einem tosenden Stadion und unter den Augen von Millionen von TV-Zuschauern in einem Champions-League- oder einem WM-Spiel einen potentiell spielentscheidenden Elfmeter am besten verwandelt. Das ist nicht sein Thema, auch wenn er gängige Herangehensweisen - torwartunabhängig oder torwartabhängig - erläutert und auch die (teils überaus schmutzigen) Tricks der Torhüter, um die gegnerischen Schützen zu verunsichern (der Argentinier Emiliano Martinez gilt hier als Meister seines Fachs), hochinformativ und im Detail vorstellt.

Seine eigentliche Stärke erreicht das Buch dann, wenn Jordet erläutert, wie man ein Elfmeterschießen psychisch und organisatorisch systematisch vorbereitet und das gesamte Team in dessen Ablauf einbezieht, wie Schützen bereits vor dem Spiel unter vier Augen angesprochen und ausgewählt werden, wie das gesamte Procedere im Spiel einem vorab festgelegten Plan folgen sollten, wie die Körpersprache des gesamten Teams und auch des Trainers den Ausgang beeinflussen können, wieviel die richtige Atmung zu einem richtigen Schuss beitragen kann und wie wichtig der richtige - aus Sicht des Schützen stimmige - Moment für den Schuß ist. Alle Darlegungen sind mit konkreten und bekannten Beispielen aus der Welt des Profifußballs anschaulich unterlegt und durch und durch substantiiert, was die Lektüre zu einem großen Vergnügen macht.

Wenn ich etwas kritisieren möchte, dann allenfalls - in Richtung der Übersetzer - die etwas stereotype Verwendung des Synonyms "Shootout" für ein Elfmeterschießen. Nein, ein Shootout ist gerade KEIN Elfmeterschießen, sondern die in der amerikanischen NASL entwickelte Alternativvariante, bei der der Schütze mit dem Ball auf den Towart zuläuft und fünf Sekunden Zeit hat, um ein Tor zu schießen. Aber das ist nun wirklich Nörgeln auf hohem Niveau.

Fazit: "Unter Druck" ist ein feines Spezialthema-Buch für Liebhaber, ein kleiner Leckerbissen zwischendurch, den ich nur wärmstens empfehlen kann.

Geir Jordet: "Unter Druck: Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können", DuMont-Buchverlag

Sonntag, 6. Oktober 2024

Der Sonnenkönig aus Dublin

Der Fußball in Irland steht hierzulande eher selten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit - was kein Wunder ist, flüchtet doch praktisch jeder Kicker der grünen Insel, der halbwegs talentiert ist, in die englischen Ligen oder zu einem Verein auf dem Festland. Aber nachdem ich durch Giovanni Trapattonis Autobiographie mit der irischen Nationalmannschaft in Berührung gekommen bin, war es nur ein kleiner Schritt zum Buch „Champagne Football“ von Mark Tighe und Paul Rowan. Darin geht es um den langjährigen Fußballfunktionär John Delaney, der von 2005 bis 2019 als Geschäftsführer die Geschicke des irischen Fußballverbandes FIA lenkte. 

Der Buchtitel deutet es bereits an: Hier erwartet uns kein grauer Verwaltungsalltag in schlecht gelüfteten Büros mit Resopaltischen und Kaffe aus Plastikbechern. Obwohl im europäischen Vergleich lediglich Herrscher eines fußballerischen Zwergenstaates, muss man sich John Delaney als eine Art Sonnenkönig aus Dublin vorstellen, als irischen Chuck Blazer: Ein Jahresgehalt von bis zu 416.000 Euro, das einigen seiner Kollegen aus weitaus größeren Verbänden wie Italien und Spanien Tränen des Neids in die Augen getrieben haben dürfte, dazu die Kosten für ein Luxuspartment in Dublin, eine Spesenkreditkarte, die er ausgiebigst molk inklusive üppiger Barabhebungen und Einkäufe in edlen Juwelierläden, Luxusaufenthalte in New York und Dhubai, die sich nur schwer einem dienstlichen Zweck zuordnen ließen, vom Verband gesponserte Geburtstagsfeiern, ebenso auf Verbandskosten geleistete ominöse Zahlungen für "Diensteistungen" an die Ex-Freundin und Geschenke für die seinerzeit aktuelle Dame seines Herzens (übrigens ein Ex-Fotomodell, mit dem Delaney bei offiziellen Terminen wie ein verliebter Teenager wild herumknutschte) - der irische Top-Funktionär hat wirklich nichts ausgelassen. Zu allem Überfluss ließ er sich von willfährigen ehrenamtlichen Vorstandsmitgliedern auch noch mit einem Vertrag der Kategorie "Aktion Abendsonne" ausstatten - bei einem freiwilligen oder erzwungenen Abschied vom Verband hatte er Anspruch auf insgesamt rund drei Millionen Euro Kompensationszahlungen. 

Gestolpert ist Delaney am Ende ironischerweise nicht über einen weiteren Griff in die Kasse, sondern über eine Zahlung an den Verband. Der war nach all den Plündereien so klamm, dass Delaney ihm einen "Überbrückungskredit" von 100.000 Pfund gewähren musste, um eine Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Doch als die Geschichte an die Presse lanciert wurde, begann Delaneys Abstieg. Rechnungsprüfer und Politik fragten, wieso ein Verband mit einem zweistelligen Millionenumsatz einen Kredit seines Geschäftsführers brauchte, um flüssig zu bleiben - und wieso kein Verbandsgremium davon wusste. Untersuchungen wurden eingeleitet, Anhörungen anberaumt. Nach und nach kamen all die unappetitlichen Einzelheiten von Delaneys selbstherrlicher Amtsführung ans Licht - wie er immer raffgieriger und dreister wurde, während die Gehälter der anderen Verbandsmitarbeiter (kaum einer machte mehr als 30.000 Euro im Jahr) während der Finanzkrise gekürzt wurden, sich die irischen Fußballfrauen nach Spielen auf Flughafentoiletten umziehen und ihre Klamotten an den Verband zurückgeben mussten und wie Gelder für das Obdachlosennationalteam gekürzt wurden, während Delaney exorbinante Summen allein für Restaurantbesuche in Nähe seines Apartments - ebenfalls ohne erkennbaren dienstlichen Anlass - ausgab. Bemerkenswert ist am Ende eigentlich nur, dass er weder einen Tag im Gefängnis verbrachte noch wirklich nennenswerte Rückzahlungen leisten musste.

Fazit: Wen ein Lehrstück, wie ein Fußballverband zum Selbstbedienungsladen eines raffgierigen Funktionärs verkam, interessiert, der ist mit "Champagne Football" bestens bedient.

Mark Tighe / Paul Rowan: "Champagne Football: John Delaney and the Betrayal of Irish Football: The Inside Story",  Penguin Ireland

Dienstag, 17. September 2024

Unerwartet gut: Meine Überraschung des Jahres!

Ein blindes Huhn findet manchmal eben auch ein Korn: Ich hatte zu Thomas Hitzlspergers im Frühjahr erschienenem Buch "Mutproben" (in der Hörbuchfassung) eigentlich nur gegriffen, weil gerade nichts Besseres zur Hand war. Aber schon nach wenigen Passagen wurde mir klar: Das, was ich hier gerade höre, hat gute Chancen, das Fußballbuch des Jahres 2024 zu werden!

Dabei war meine Vorfreude auf "Mutproben" sehr überschaubar. Sportlich hat mich Hitzlsperger nie übermäßig interessiert. Zum einen teile ich die allgemeine Begeisterung über den englischen Fußball, in dem er einen großen Teil seiner Karriere verbracht hat, kein bißchen - und dazu hatte er seine beste Zeit auch noch in den Jahren vor und nach dem vermeintlichen "Sommermärchen" 2006, einer Phase, die mich ebenfalls nur wenig anspricht. Zum anderen war klar, dass "Mutproben" in weiten Teilen ein Coming-out-Bericht sein würde, nachdem der gebürtige Bayer kurz nach seinem Karriereende als erster Nationalspieler seine Homosexualität öffentlich gemacht hatte. Wie schon mehrfach angemerkt, will ich von den sehr persönlichen Schicksalen der Kicker und Trainer, egal ob schwere Krankheit (Eckstein), Tod eines Kindes (Dieter Müller, Lattek), Missbrauch in der Familie (Legat) oder ein Riesenhaufen Schulden (Immel, Nachtweih, Bock), eigentlich gar nicht allzuviel wissen. Und ich habe auch nie die Neigung verspürt, der leider allgegenwärtigen Homophobie des Fußballs nachzuspüren oder die (häufig heuchlerischen) Diskussionen, ob sich schwule Kicker nun outen sollen oder lieber nicht, zu verfolgen. Es interessierte mich schlicht nicht.

Doch Hitzlsperger schaffte es praktisch gleich mit den ersten Passagen seines Buches, mich in seinen Bann zu ziehen. Die ungeheuer sensible Art, wie er Stimmungen und Schwingungen einfängt - etwa angesichts seiner Reservistenrolle beim Sommermärchen 2006 oder während seiner Kurzleihe nach Rom -, wie er Befindlichkeiten, Sorgen und Ängste in der Kabine oder im Spiel erfühlbar macht, wie atmosphärisch er seinen Wechsel vom FC Bayern zu Aston Villa beschreibt oder wie er sich kritisch und sehr substantiiert mit Rudi Völlers verständnisloser Reaktion auf Marcell Jansens Erleichterung ob des eigenen frühen Karriereendes auseinandersetzt, all das ist hochspannend, hochinformativ und einfach nur großes Kino. 

Nur am Rande: Die Schilderungen, wie sich die beiden "Zeit"-Journalisten Moritz Müller-Wirth und Carolin Emcke gemeinsam mit Hitzlsperger über Jahre behutsam dem Thema Coming-out näherten, wie sie ihm zunächst sogar eher abrieten, Für und Wider gründlich abwogen, ihn auf die Situation vorbereiteten und hart um einzelne Formulierungen des Coming-out-Interviews rangen, zeigen auch eindrucksvoll, dass und wie verantwortungsvoller Journalismus funktionieren kann. Diese Passagen stehen in  bemerkenswertem Kontrast zum kürzlich hier behandelten Boulevard-Revolverhelden Christian Falk ("Inside FC Bayern"), der - so scheint es - für eine gute und vor allem schnelle Story notfalls auch seine Mutter verkaufen würde (siehe Besprechungen hier und hier und hier).

Fairerweise muss man einräumen, dass Hitzlsperger das hohe Anfangstempo - oder sagen wir: die hohe Qualität der ersten Kapitel - nicht über das gesamte Buch durchhält. Immer dann, wenn er sich von den autobiographischen Einschüben und Bezügen und damit eigenem Erleben entfernt und eher abstrakt gesellschaftliche Entwicklungen und Tendenzen analysiert, schwächelt das Buch. Beispielhaft seien hier die Ausführungen zu Colin Kaepernick, Tommie Smith und Predrag Pašić genannt. Alles, was Hitzlsperger zu ihnen schreibt, weiß er aus der Zeitung oder dem Internet. Ich behaupte mal, dass ich als durchschnittlicher Fußballinteressierter und Zeitungsleser sogar besser über den früheren VfB-Stürmer Predrag Pašić informiert bin als er - und ich muss kein Buch kaufen, um nochmal erzählt zu bekommen, was schon vor Jahren in der Süddeutschen oder der Frankfurter Rundschau stand. Ein wenig geärgert habe ich mich auch, weil Hitzlsperger allzu beifallheischend in die wohlfeile Kritik an Luis Rubiales einstimmt. Spaniens damaliger Fußball-Präsident hatte bei der Siegerehrung der Frauen-Fußball-WM in Australien und Neuseeland 2023 die Spielerin Jennifer Hermoso  ungefragt auf den Mund geküsst und so einen weltweiten Shitstorm ausgelöst. Hier hätte gerade für einen Mann mit Hitzlspergers Standing die wunderbare Gelegenheit bestanden, sich nach dem Abflauen der öffentlichen Erregung mal in Ruhe und sachlich über - zwischen gleichen Geschlechtern - völlig normale Verhaltensweisen im Sport Gedanken zu machen und darüber, was wir an diesen Verhaltenweisen ändern müssen, wenn die Beteiligten plötzlich unterschiedlichen Geschlechts sind. Jeder kann bei YouTube Clips anschauen, in denen sich Volleyballspielerinnen gelegentlich einer Auswechslung ausgiebigst den Po tätscheln, in denen sich jubelnde Fußballer (natürlich ungefragt!) auf Stirn, Wange oder Mund küssen oder der Trainer einem Spieler einen aufmunternden Klaps auf den Allerwertesten gibt. Niemand fand das bisher beanstandenswert - und die Frage, was davon eben nicht mehr geht, wenn sich plötzlich ein Funktionär und eine Spielerin (oder umgekehrt) gegenüberstehen, wäre spannend gewesen. Aber die Möglichkeit, diese Frage ernsthaft zu erörtern, vergibt Hitzlsperger leider so leichtfertig wie Frank Mill seine berühmte Chance gegen die Bayern.

Diese kleinen Makel ändern aber nichts daran, dass das Buch eine wirkliche Bereicherung meiner Bibliothek ist, ein kluges, feinsinniges, unerwartet gutes Werk und zweifellos ein Kandidat für das Fußballbuch des Jahres 2024.

Thomas Hitzlsperger/Holger Gertz: "Mutproben", Kiepenheuer & Witsch

Montag, 16. September 2024

Zwei sehr solide Bücher über den "Mister" Giovanni Trapattoni

Wer sich über die einzigartige Karriere des italienischen Erfolgstrainers Giovanni Trapattoni informieren möchte, findet auf dem deutschen (beziehungweise deutsch-österreichischem) Buchmarkt gleich zwei lesenswerte Werke: Bereits 2006 ist im kleinen, aber feinen Wiener Sportbuchverlag egoth das Buch "Trapattoni" von der Journalistin Elisabeth Schlammerl und dem Verleger Egon Theiner erschienen. Zehn Jahre später legte der "Maestro" persönlich dann mit "Ich habe noch nicht fertig!" seine im deutschen Verlag Die Werkstatt veröffentlichte Biographie vor. Es gibt durchaus gute Gründe, sich beide - mit um die 250 Seiten für die Biographie eines solchen Mannes nicht übermäßig dicke - Bücher zu Gemüte zu führen. Die 2016 erschienene Autobiographie hat den offensichtlichen Vorteil, dass sie mit der Zeit Trapattonis als irischer Nationaltrainer und seinen zwei Jahren bei Red Bull Salzburg zwei hochspannende Stationen beinhaltet, die im 2006er Buch von Schlammerl/Theiner naturgemäß noch keine Berücksichtigung finden konnten. Daneben besteht durch die beiden Bücher die Möglichkeit, weitere Kapitel der Karriere des Italieners, die hierzulande auf besondere Aufmerksamkeit stoßen dürften, quasi nebeneinander zu legen: Da sind zum einen die Jahre als Trainer bei Inter Mailand (1986 - 1991), zunächst mit Karl-Heinz Rummenigge, später mit Lothar Matthäus, Andreas Brehme und Jürgen Klinsmann. Dann natürlich die beiden Abschnitte bem FC Bayern München (1994/95 und 1996/98 mit einem Meistertitel und einem Pokalsieg) und das unglückliche Intermezzo beim VfB Stuttgart (2005/06).

Die Autobiographie hat stärkere und schwächere Momente. Manchmal geht der "Mister", wie Trapattoni in Italien genannt wird, mit ein paar lapidaren Worten über ganze Monate hinweg ("Im ersten Jahr gewann ich meinen x-ten nationalen Meistertitel (mit Salzburg - TB)". Und dann wird es wieder sehr atmosphärisch und hochspannend, etwa wenn er im Detail berichtet, wie er 2006 im Urlaub den Tessiner Scout Gerry Gerosa vom FC Basel kennenlernte, über ihn mit der Präsidentin des Klubs ins Gespräch kam und schon ein Vorvertrag für ein Engagement Traps bei dem Schweizer Spitzenklub unterzeichnet wurde, sich die Sache dann aber doch zerschlug und Gerosa den Konakt zu Red Bull Salzburg beziehungsweise dessen Berater, einem gewissen Franz Beckenbauer, herstellte. Das Problem dort: Salzburg hatte mit Lothar Matthäus bereits einen Trainer für die neue Saison. Trapattoni schildert recht genau, wie die Gespräche mit Beckenbauer und Red-Bull-Boss Mateschitz liefen, wie Matthäus ins zweite Glied zurücktreten musste und wie dies kommuniziert (oder besser nicht kommuniziert) wurde. Legt man hier nun noch die diesbezüglichen Erinnerungen von Lothar Matthäus in seiner Autobiographie "Ganz oder gar nicht" daneben, entsteht ein hochinteressantes Bild, wie zufällig und erratisch mitunter Entscheidungen getroffen und Schlüsselpositionen im Fußball besetzt werden. Störend in der Autobiographie sind mitunter die allzu ... nun ja ... zurechtgerückt klingenden Dialoge ("Meiner lieber Kalle, altes Haus!" - redet Trapattoni wirklich so?), die mich zweifeln lassen, wie es um die sonstige Akuratheit der Erinnerungen des Italieners ausschaut.

Da passt es ganz gut, dass mit dem Buch aus Österreich noch ein hier und da vielleicht objektiveres, wenngleich naturgemäß aus größerer Distanz geschriebenes Werk existiert. Das Buch erschien zu Beginn von Trapattonis Salzburg-Abenteuer und kann, was selbiges angeht, nur noch ein paar Fotos und (durchaus treffende) Ausblicke beisteuern. Bei den zurückliegenden Stationen mag man hier und da die österreichische Brille (statt der deutschen) merken - so kommt Karl-Heinz Rummenigge bei Trapattonis Inter-Mailand-Zeit nur in einer dürren Aufzählung vor, die dramatische Niederlage gegen den FC Bayern München (1:3) im Herbst 1988 gar nicht. Aber dennoch ist das Buch eine faire, interessante, sehr schön lesbare, hier und da vielleicht ebenfalls etwas zu knappe Zusammenfassung der beeindruckenden Karriere eines der erfolgreichsten europäischen Vereinstrainer aller Zeiten.

Elisabeth Schlammerl/Egon Theiner: "Trapattoni", egoth Verlag

Giovanni Trapattoni: "Ich habe noch nicht fertig!", Verlag Die Werkstatt

Dienstag, 10. September 2024

Heißer Herbst: Anstehende Neuerscheinungen

Die Welt der Fußballbücher ist schon eine verrückte: Manchmal passiert gefühlt über Monate oder Jahre rein gar nichts Spannendes. Da erscheinen nur schnell heruntergeschriebene, absolut belanglose "Fanbücher" zu irgendwelchen gerade aktuellen Stars (Kane, Mbappé, Musiala etc.), indifferentes Zeug wie "Die 100 besten Spiele/Spieler/Tore/you name it" oder Werke wie "100 Dinge, die Sie über [Verein Ihrer Wahl einsetzen] noch nicht wussten". Bücher wie eine Mahlzeit bei McDonald's: Geht schon mal, die ersten Bissen schmecken auch halbwegs, aber hinterher ärgert man sich. 
 
Und dann gibt es Phasen, da kommen innerhalb weniger Wochen gleich drei Bücher auf den Markt, die allesamt schon seit Jahren auf meiner "Wieso gibt es eigentlich keine Biographie von....?"-Liste stehen. "Dann" ist genau jetzt: Der Herbst dürfte ein hochspannender werden, denn mit Andreas Möller, Norbert Nachtweih und Klaus Augenthaler bringen drei ganz Große der Bundesliga ihre längst überfälligen Erinnerungen auf den Markt. Den Anfang macht Welt- und Europameister Andreas Möller am 25. September 2024 mit "15 Sekunden Wembley" (Dieter Sattler, Verlag Die Werkstatt). Ein paar Tage später, am 1. Oktober 2024, folgt dann Bayern-Legende Klaus Augenthaler mit "Immer nur rot-weiß gedacht" (Albrecht Breitschuh, Arete Verlag). Und am 5. Oktober 2025 erscheint Norbert Nachtweihs "Zwischen zwei Welten: Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte" (Mathias Liebing, Edel Sports). 

Ich persönlich freue mich auf Buch Nr. 3 am meisten, weil Ex-DDR-Juniorennationalspieler Nachtweih mit seiner abenteuerlichen Republik-Flucht während einer Türkeireise, der Zeit bei der Eintracht, den großen Jahren beim FC Bayern - so um 1988 galt er als bester Libero Deutschlands, besser als der seinerzeit verletzte Augenthaler - und schließlich dem Karriereausklang beim AS Cannes und in Mannheim mutmaßlich die spannendsten Geschichten zu bieten hat. Er hat Jupp Heynckes in seiner frühen Trainerphase erlebt und gehört zu den wenigen Spielern, die nicht gut auf ihn zu sprechen sind. Zuvor hat er unter Alt-Meister Udo Lattek trainiert. Wenn er ein guter Erzähler ist (beziehungsweise es seinem Ghostwriter gelungen ist, die entsprechenden Stories aus ihm herauszuziehen), dann sollten uns hier interessante Erinnerungen erwarten. Leider hat Nachtweih wie etliche andere Bundesligastars den größten Teil seines Vermögens mit Bauherrenmodellen verbrannt, weshalb wir wohl auch mit dem einen oder anderen deprimierenden Kapitel rechnen müssen.  

Bei Augenthaler bin ich gespannt, wieviel Raum er neben seiner großen Karriere als Spieler und langjähriger Kapitän des FC Bayern seinen Jahren als Co-Trainer in München und als Trainer unter anderem in Graz und Leverkusen widmet. Und Andreas Möller, Ende der 80er Jahre neben Olaf Thon die größe Hoffnung des deutschen Fußballs, gehört zu den wenigen Spielern, die sowohl Welt- als auch Europameister wurden, er war Nationalspieler unter Franz Beckenbauer und Berti Vogts, hat sowohl für Schalke als auch Dortmund gespielt und zudem eine Weile im Ausland - auch der Mann sollte verdammt viel zu berichten haben. Kurz und gut: Der Herbst kann kommen!

Andreas Möller: "15 Sekunden Wembley", Verlag Die Werkstatt

Klaus Augenthaler: "Immer nur rot-weiß gedacht", Arete Verlag

Norbert Nachtweih: "Zwischen zwei Welten - Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte", Edel Sports

Update 19. September 2024: Da waren es nur noch zwei! Ich habe gerade den Hinweis bekommen, dass das Andreas-Möller-Buch nun erst im Herbst 2025 erscheinen wird. Schade, aber Klaus Augenthaler und Norbert Nachtweih sind ja noch im Rennen. Und das erste Rezensionsexemplar ist heute schon eingegangen. Demnächst erscheint hier die Besprechung von Norbert Nachtweihs Biographie "Zwischen zwei Welten".

Donnerstag, 5. September 2024

Selbstgefällig - selbstgefälliger - Christian Falk

Ja, ich weiß, ich habe das Buch "Inside FC Bayern" bereits besprochen (siehe hier) - und auch den Nachfolger "Bayern Insider" (siehe hier). Aber da ich Bücher mitunter mehrfach lese, gern auch zehn-, fünfzehn-, zwanzigmal, spricht meines Erachtens nichts dagegen, sie auch hier wiederholt zum Thema zu machen. Ich hatte ja schon anlässlich der ersten Rezension deutlich gemacht: An sich ist "Inside FC Bayern" ein hochspannendes Buch - insbesondere dann, wenn man sich für den FC Bayern und den Alltag in einer Sportredaktion gleichermaßen interessiert. Aber man muss eben die grenzenlose Selbstgefälligkeit des Autors Christian Falk in Kauf nehmen - und je öfter ich das Buch lese, um so schwerer fällt mir das.

Man fragt sich, wie die Fußballwelt eigentlich überleben konnte, als es "Sport-Bild"-Reporter Falk noch nicht gab. Denn alle anderen in der Branche sind im Grunde minderbemittelte Trottel. Selbst Falks Kollege (und, was im Buch übrigens keinerlei Erwähnung findet, Mentor!) Raimund Hinko, eine Münchner Reporterlegende, die den FC Bayern und die Nationalelf für "Sport-Bild" durch die gesamten 90er Jahre in unverwechselbarer Weise begleitet hat, hat es laut Falk schlicht nicht drauf: Unter den Augen des gestrengen neuen Bayern-Coaches Louis van Gaal wird Hinko - ein Hüne von über 1,90 m - buchstäblich immer kleiner und fahriger und kann nur noch zusammenhanglos herumstammeln. Falk hingegen ist souverän wie immer. Gut vorbereitet und mit diversen Papieren bewaffnet kommt er zu einem Termin mit van Gaal, weist diesen kühn auf einen Fehler hin und schaut anschließend genüßlich zu, wie es in van Gaal brodelt und kocht, diesem aber am Ende nichts bleibt, als das überlegene Fachwissen des Journalisten anzuerkennen. Überhaupt hat Falk in sämtlichen, wirklich allen schwierigen Gesprächen, die er führt, immer noch eine schnelle Erwiderung, immer noch eine kesse Replik, immer noch einen flotten Spruch auf Lager, um das Feld am Ende als Sieger zu verlassen. Egal, ob gegenüber Bastian Schweinsteiger, der ihn vor versammelter Mannschaft angeblich provozieren will, oder Bayern-Patron Uli Hoeneß, der von Falks selbstbwusstem Auftritt so eingeschüchtert ist, dass er sich am Telefon für eine Erwiderung "Bedenkzeit" erbitten muss - es gibt stets nur einen Gewinner. Wann immer Falk selbst spricht, hört sein jeweiliges Gegenüber ausnahmslos "aufmerksam" zu. Er selbst hat das freilich nicht nötig - wenn er mal wieder den tobenden Uli Hoeneß am Telefon hat, zieht er sich in aller Ruhe einen Espresso und verliert sich in Gedanken über den Sinn des Lebens, bis sein Gegenüber mit seiner Tirade endlich fertig ist. Und wenn ihm Bastian Schweinsteiger in der Mixed Zone erbost an die Gurgel geht, bleibt Super-Falk ebenfalls "gefährlich ruhig". Schon eine coole Sau, der Typ.

Wenn man im Buch mal darauf achtet, wieviele Leute Falk schon nach eigener Darstellung auf die eine oder andere Art (bestenfalls bedenkenlos) dazu gebracht hat, ihm gegenüber Äußerungen zu tätigen, die sie später bitter bereuten - Sepp Maier, Alfons Schuhbeck, Roque Santa Cruz, der damit sogar seine Familie in Gefahr brachte - fragt man sich, wieso überhaupt noch irgendjemand mit ihm redet und wieso es nicht alle Akteure so wie wie Arjen Robben machen, der Falk schlicht ignorierte. Was mich zusätzlich wundert: Falk ist in seinem Stil so beliebig und austauschbar wie die ganze "Sport-Bild" ungefähr ab Mitte der 2000er Jahre. Während der von ihm geschmähte Hinko eben einen eigenen unverwechselbaren Stil hatte und insbesondere Vor-Ort-Besuche bei Lothar Matthäus in Artikel ummünzte, denen der Stempel "Von Raimund Hinko" auf hundert Meter Entfernung anzusehen war, hat Falk bis heute nichts Charakteristisches - außer die schmierige und selbstgefällige Art, in der er bei Fernsehinterviews grinsend darauf hinweist, diese oder jene Sache "enthüllt" zu haben.

Fazit: "Inside FC Bayern" ist auch beim zweiten, dritten, fünften Mal noch ein spannendes Buch, aber die Lektüre erfordert sehr viel Toleranz gegenüber dem von sich selbst begeisterten Autor.

Christian Falk: "Inside FC Bayern", Riva Verlag

Montag, 26. August 2024

Aus traurigem Anlass: Biographie eines Besessenen

2024 ist kein gutes Jahr - jedenfalls nicht für Fußballromantiker mit einer Vorliebe für die 80er und 90er Jahre. Erst ist Kaiser Franz Beckenbauer gestorben, dann der 1990er WM-Held Andreas Brehme, vor einigen Wochen der langjährige Werder-Manager Willi Lemke - und gestern wurde bekannt, dass Christoph Daum den Kampf gegen den Krebs verloren hat.
 
Wer sich wie ich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre mit Haut und Haaren dem FC Bayern verschrieben hat, konnte Christoph Daum an sich ebensowenig mögen wie etwa Willi Lemke oder Otto Rehhagel. Letztere schnappten sich 1987/88 mit Werder Bremen den Meistertitel und verdarben damit Jupp Heynckes seinen Einstand bei den Bayern. Daum, damals neuer Coach des 1. FC Köln und ein Nobody im Profifußball, versuchte in der Folgesaison mit forschen Sprüchen und teils unter die Gürtellinie zielenden Attacken den bei seiner ersten München-Station längst noch nicht so souveränen Jupp Heynckes zu verunsichern (was allerdings misslang - 1989 kehrte Bayern auf den Meisterthron zurück). 1999/2000 wollte Daum, inzwischen Coach bei Bayer Leverkusen und designierter Bundestrainer, seinen künftigen Job um jeden Preis gegen die aufkommenden Kokain-Gerüchte verteidigen und nahm dabei - und nur das habe ich ihm seinerzeit übel genommen - die Vernichtung der beruflichen Existenz seines Gegenspielers Uli Hoeneß in Kauf.
 
Es hat einige Zeit gedauert, ehe ich meine damaligen Sichtweisen relativierte und zum Beispiel reinen Herzens anerkennen konnte, dass Otto Rehhagel vermutlich einer der drei besten Trainer war, die die Bundesliga je hervorgebracht hat. Dass Lemke bei seiner Hoeneß-Kritik den einen oder anderen Punkt hatte. Und dass Christoph Daum ebenfalls ein überaus erfolgreicher Coach war, der Teams wie nur wenige andere motivieren und zusammenschweißen und über ihre Grenzen führen konnte und der nicht ohne Grund sowohl in der Bundesliga als auch im Ausland große Erfolge feierte. Darüber hinaus war Daum ein im positiven Sinne Besessener, ein Mann voller Kanten und Konturen, voller Unverwechselbarkeit und Authentizität, gegen den etliche der heutigen Laptop-Trainer einfach nur wie peinliche Laienschauspieler wirken, austauschbar und gesichtslos.
 
Daums Tod, der mich tieftraurig gemacht hat, ist für den einen oder anderen vielleicht Anlass, sich (noch einmal) seine 2020 im Ullstein-Verlag erschienene Biographie "Immer am Limit: Mein Aufstieg, mein Fall - die ganze Geschichte meines Lebens" zu Gemüte zu führen. Ich habe sie inzwischen bestimmt sechs-, siebenmal gelesen und kann ohne jede Einschränkung sagen: In der Tabelle der Fußballer-/Trainer-Erinnerungen rangiert sie deutlich im oberen Drittel. Ein Buch wie Daum selbst - klar, kompetent, streitbar, unverwechselbar. Speziell die Kapitel über seine Jahre in Köln und Stuttgart sind ungeheuer dicht und sehr atmosphärisch, ebenso über das erste Türkei-Abenteuer. Die späteren Stationen Wien, Brügge und Rumänien (Nationaltrainer) kommen für meinen Geschmack hingegen etwas zu kurz weg.

Fairerweise muss ich dazu sagen, dass Daums Erinnerungen hier und da - sagen wir mal - etwas beschönigend ausfallen. Speziell beim Komplex "Kokainaffäre" rutscht er am Ende doch arg in Verschwörungstheorien ab. Aber nach meinem Eindruck kann man beim Lesen sehr gut trennen. So habe ich Daum jedes Wort geglaubt, das er über den Enke-Berater Jörn Neblung geschrieben hat (siehe hier), aber hingegen eben nicht alles, was er zu den Ursachen seiner überhohen Kokainwerte sagte. Und auch diese eher fragwürdigen Passagen ändern rein gar nichts daran, dass "Immer am Limit" ein wunderbares, ein großartiges Buch ist, das ich mit Genuss gelesen habe - und das jetzt zu einer fabelhaften Erinnerung an einen der ganz Großen der deutschen Trainergilde wird.

Machen Sie es gut, Herr Daum!

Christoph Daum, Immer am Limit: "Mein Aufstieg, mein Fall - die ganze Geschichte meines Lebens", Ullstein-Verlag

Montag, 19. August 2024

Fußball & Social Media: Schöne neue Gruselwelt

Auch dieses Buch ist nicht mehr taufrisch, stand aber einige Zeit auf meiner Liste - und hatte es jetzt als Schnäppchenkauf in meine 2024er Sommer-Collection geschafft. Mario Leo, Social-Media-Experte und Spezialist für die Präsentation von Fußballklubs in den sozialen Netzwerken, beschreibt die rasant gestiegene Bedeutung dieser Netzwerke für den Fußball und benennt die hieraus zu ziehenden Schlußfolgerungen für die Vermarktung von Vereinen und Spielern.

Dies geschieht recht anschaulich anhand konkreter Beispiele wie der titelgebenden Verpflichtung Ronaldos durch Juventus Turin 2018, der asiatischen Follower-Riege Mesut Özils und der Vermarktung des seit 2014 heimatlosen ukrainischen Klubs Schachtar Donezk als virtuellem Klub. Soweit gar nicht uninteressant, selbst wenn man mit den sozialen Medien und dem Gedöns um Likes und Follower nicht viel am Hut hat. Stellenweise sind Leos Ausführungen sogar recht informativ, wenn es beispielsweise darum geht, wie mit Hilfe der Netzwerke geographische Barrieren überwunden werden können.

Aber leider wird allzu schnell deutlich, dass es bei all den Likes und Followerzahlen eben gar nicht darum geht, Barrieren zu überwinden und echte Bindungen aufzubauen, sondern sie vielmehr ein reiner Selbstzweck sind. So beschreibt Leo ein vermeintliches Dilemma des FC Basel, der 2012 den ägyptischen Nationalspieler Mohamed Salah verpflichtete. Der brachte dem Verein über eine Million Follower aus seiner Heimat, die der FC Basel laut Leo "gern behalten" wollte, als Salah 2014 nach England weiterzog. Ob nun aufgrund des schnellen Kaufes von zwei weiteren - allerdings erfolglosen - ägyptischen Spielern oder dank Leos geschickter Social-Media-Beratung des Klubs, der größte Teil der ägyptischen Follower, so der Autor stolz, sei "noch da". 

Nur: Wen kümmert das? Wer genau schert sich um diese digitalen Karteileichen? Wem nützen sie etwas? Diejenigen, die dem FC Basel gefolgt sind, weil ihr Idol dort spielte, werden ihm nach dem Wechsel Salahs eben emotional nicht mehr folgen. Und es ist völlig egal, ob sie nur zu faul waren, dem FC Basel mittels eines Klicks zu "entfolgen", oder mit einem halben Auge die Ergebnisse noch mitlesen - diese Million "Follower" sind nichts, aber auch gar nichts, was dem FC Basel nach Salahs Abgang noch irgendetwas bringt. Sie kaufen keine Trikots und keine Eintrittskarten, sie fühlen sich auch nicht mit dem Klub verbunden und sie wären auch keine Grundlage für eine "Ägyptengastspielreise" der Schweizer. Sie sind nichts als ein virtueller Rechnungsposten, den Social-Media-Experten stolz als Grafik in die Höhe halten, um die eigene Existenz zu rechtfertigen, der aber eben tatsächlich rein gar nichts wert ist.

Mario Leo entführt uns in eine schöne neue Gruselwelt, in der jedenfalls ich nicht zu Hause sein möchte. Aber das macht das Buch zu keinem schlechten Buch - man muss nur über die enorme Begeisterung des Autors ob dieser ganzen sinnlosen digitalen Nullsummenspiele hinwegsehen.

Mario Leo & Alex von Kuczkowski: "Kaufen Sie Ronaldo!", Verlag Die Werkstatt

Freitag, 9. August 2024

DDR-Fußball: Zwei wunderbare Themenbücher

Mitunter kann ich mich über die Kollegen vom Magazin 11Freunde auch so richtig ärgern. Als die sächsischen Journalisten Jürgen Schwarz und Frank Müller, in der Dresdner (Schwarz) beziehungsweise Leipziger (Müller) Amateurfußball-Szene seit Jahren feste Größen, 2015 ihr Buch "Freigespielt: DDR-Fußballer auf der Flucht" vorlegten, griff Frank Willmann in 11Freunde zum ganz groben Besteck: "Rührselige, überlange und boulevardeske Texte" mute man ihm zu, watschte er die Autoren ab, "ärgerliche Homestorys" voller "überflüssiger Floskeln, billiger Polemik, Mutmaßungen und Halbwahrheiten". Und weil Willmann schon einmal dabei war, bekamen auch gleich die potentiellen Käufer des Buches ihr Fett weg. "Versimpelte Leser" seien das. 
Maßlos geärgert habe ich mich über diese Bewertung aus zweierlei Gründen. Nicht nur, dass sie völlig unnötig gallig und reichlich unkollegial ist - Willmann, selbst Autor diverser Fußballbücher, kennt das Geschäft und den Markt und weiß um die Schwierigkeiten, derartige Vorhaben im aktuellen Umfeld zu realisieren. Vor allem aber ist Willmann mit seiner Einschätzung ungefähr so treffsicher wie Uli Hoeneß 1976 beim Elfmeterschießen. Denn "Freigespielt" ist ein wunderbares kleines, aber sehr feines Buchprojekt, das eine echte Lücke füllt, Bekanntes zusammenfasst und um Neues ergänzt. Ein Buch aus der Kategorie "Das hätte ich als Verleger sofort ins Programm genommen". Und was die "versimpelten Leser" angeht: Ich bekenne mich gern schuldig. Vermutlich war ich damals einer der ersten, die sich das Buch zugelegt haben.

Die Zahl der in den Westen geflüchteten Fußballer - zuzüglich jener, denen das nur unterstellt wurde - ist überschaubar, und die Idee der Autoren, jedem der bekannteren Spieler ein eigenes Kapitel zu widmen, in dem es um Hintergründe und Umstände der Flucht, das Leben davor, danach und heute geht, hat mir wunderbar gefallen. Was die von Willmann kritisierten "boulevardesken Texte" angeht: Wenn damit gemeint ist, dass das Buch - anders als diverse Schinken aus dem Hochschulbereich, die eigentlich wissenschaftliche Arbeiten sind, nachträglich für den Mainstream zurechtgebürstet wurden und sich auch genau so lesen - hervorragende Unterhaltung ist, hat er vollkommen recht. Und dafür müssen sich Jürgen Schwarz und Frank Müller nicht entschuldigen.

Die Leistung des Buches lässt sich an einem Beispiel ganz gut illustrieren: Im Sommer 1989 hatte ich die Flucht der drei Auer Wismut-Kicker Jens König, Andre Köhler und Thomas Weiß während eines Intertoto-Spiels in Göteborg mit großem Interesse verfolgt. Es war die Zeit, in der es im Arbeiter-und-Bauern-Staat bereits gehörig rumorte. Tausende fuhren nach Ungarn, um über die grüne Grenze nach Österreich zu gelangen. Der DDR-Fußball-Verband hatte seine Spieler vor der neuen Saison langfristige Verträge als "Nicht-Amateure" unterschreiben lassen. Bedeutete: Die Zeiten der etatmäßigen 12-Monate-Sperre nach einer Flucht in den Westen waren vorbei - die DDR wollte harte Devisen sehen oder die geflohenen Kicker würden vier, fünf Jahre zur Untätigkeit verdammt bleiben. Damals musste man sich Infoschnipsel über die Flucht der drei Spieler und ihre ersten Tage im Westen sowie ihre letztlich gescheiterten Versuche, in der Bundesliga Fuß zu fassen, mühsam aus diversen Zeitungen und Zeitschriften zusammenklauben. "Freigespielt" führt diese Informationen zusammen, ergänzt sie durch neue, weil die Autoren u.a. den heutigen Pensionsbesitzer König aufgespürt und befragt haben, und macht daraus ein jedenfalls für mich wunderbares Gesamtpaket. Aber, klar, ich bin ja auch nur ein "versimpelter Leser".
 
Was mir bei Erscheinen des Buches ins Auge fiel: Als Verlag ist eine "saxophon GmbH" genannt, vermutlich ein Vorläufer der heutigen DDV Edition der Sächsischen Zeitung - das Buch war nach meiner Wahrnehmung einer der ersten Versuche der SZ, auf dem Buchmarkt Fuß zu fassen. Mit ihrem zweiten Buch "Die Delegierten: Verdeckte Transfergeschäfte im DDR-Fußball" sieben Jahre später gingen die Autoren dann zu einem etwas etablierteren Haus, wenngleich auch die Eulenspiegel Verlagsgruppe - hier mit ihrer Marke Neues Leben - alles andere als ein Fachverlag für Fußballbücher ist.
 
Das bewährte Prinzip aus dem ersten Buch - ein Kapitel pro Spieler, hier mit der Betrachtung eines erzwungenen oder gescheiterten Wechsels zu einem anderen DDR-Klub - wurde beibehalten. Die Autoren nehmen den Leser mit in eine Zeit, in der der Fußball zwar mangels Medaillenträchtigkeit von der Staats- und Parteiführung der DDR wenig gemocht wurde, aber leider eben dennoch beim gemeinen Volk die Sportart Nummer eins war. Die mächtigen SED-Bezirksfürsten und die mitunter noch etwas mächtigeren Kombinats-Bosse, meist näher an der Realität als die Oberen in Berlin, wussten das und rangelten mit harten Bandagen und überaus kapitalistischen materiellen Anreizen um die besten Spieler für "ihre" Vereine. Anhand von über 30 Einzelschicksalen - von Joachim Streich über Rüdiger Schnuphase bis zu Frank Lieberam und Andreas Wagenhaus - erfährt der Leser, welche Spieler unter Zwang oder aber für ein Haus, ein Auto oder sehr üppige Geldbeträge zu Vereinen wechselten, die ihnen aufgrund der starren Regularien des DDR-Fußballverbandes mit klar abgesteckten Interessensphären an sich nicht offen standen. Ebenso wird beleuchtet, welche Transfers scheiterten und welche Hoffnungen sich erfüllten oder auch nicht. Auch das ist durchweg großes Lesevergnügen und eine wunderbare Zusammenfassung eines speziellen und brisanten Aspektes des DDR-Fußballs.

Klare Kaufempfehlung für beide Bücher, selbstverständlich nur an "versimpelte Leser" wie mich.

Jürgen Schwarz und Frank Müller: "Freigespielt: DDR-Fußballer auf der Flucht", Saxophon Verlag (DDV-Edition)

Jürgen Schwarz und Frank Müller: "Die Delegierten: Verdeckte Transfergeschäfte im DDR-Fußball", Verlag Neues Leben

Sonntag, 28. Juli 2024

Canellas, Brandt & Reiser: Chronik eines turbulenten Jahres

Jedes Buch hat seine Zeit - und manchmal ist man eben auch zu früh dran. Ich hatte mir Bernd-Michael Beyers "71/72: Die Saison der Träumer" recht schnell nach Erscheinen zugelegt, war aber nach den ersten Seiten ebenso schnell wieder ausgestiegen. Nicht nur, dass mich der Zeitraum fußballerisch nicht übermäßig interessierte und die Anfangspassagen des Buches es auch nicht schafften, daran etwas zu ändern, ich wollte in einem Fußballbuch auch weder etwas über die Probleme der sozialliberalen Koalition Willy Brandts und den Terror der RAF noch etwas über Rio Reiser und "Ton Steine Scherben" hören, und ich wollte auch nicht, dass all diese Dinge zusammen in einen großen Topf geworfen werden. Um so mehr hat mich verblüfft, wieviel Freude und Genuss mir dieses Buch jetzt - gute drei Jahre später - bereitet hat, als ich es mal wieder hervorgeholt habe.

Dem war allerdings eine Fokuserweiterung meinerseits vorausgegangen: Aus mehrerlei Gründen und über mehrere Stationen, darunter nicht zuletzt Beyers grandiose Helmut-Schön-Biographie, war ich fußballerisch dann doch in den 60er und 70er Jahren gelandet (und teilweise sogar in der Zeit davor). Nachdem ich mir neulich schon Roland Rengs Gesellschaftsgemälde "1974 - Eine deutsche Begegnung" mit großem Vergnügen zu Gemüte geführt hatte, war es nur folgerichtig, nun auch der ganz ähnlich angelegten, vermutlich sogar als Vorbild dienenden "Saison der Träumer" eine zweite Chance zu geben.

Auf den ersten Blick hat sich Beyer als Betrachtungszeitraum eine Art fußballerisches Niemandsland ausgewählt: Der Bestechungsskandal, der die Bundesliga nach Canellas Enthüllungsparty in ihren Grundfesten erschütterte, hatte sich in der Saison zuvor ereignet, das ganze Ausmaß der Manipulationen kam aber erst nach und nach in den Folgejahren zum Vorschein. Dennoch gelingt es Beyer auf meisterhafte Weise, genau jenen Schwebezustand mit den immer neuen scheibchenweisen Erkenntnissen und Geständnissen, den vielen offenen Fragen, den Rückzugsgefechten der (sportlich groß aufspielenden) Schalker und dem ausschließlich reagierenden, getriebenen DFB anschaulich zu beschreiben. Der Leser taucht ein in eine Saison, die Gerd Müller zwar mit einer Rekordzahl an Toren beenden sollte, in die er aber formschwach startete und vom nicht allzu geduldigen Münchner Publikum übel geschmäht wurde. Er verfolgt Spieltag für Spieltag den Meisterschaftszweikampf zwischen dem FC Bayern und Schalke 04, in den Weisweilers Borussia Mönchengladbach nach schwachem Start nie nennenswert eingreifen konnte. Er nimmt an den endlosen und wendenreichen Diskussionen um einen möglichen Abschied Müllers vom FC Bayern und dem Pokern von Uli Hoeneß und Paul Breitner um neue Verträge teil, und begleitet die Nationalelf, in der Beckenbauer und Netzer ihre wohl beste Zeit hatten, bis ins 72er EM-Endspiel von Brüssel. Nach Lektüre des Buches habe ich mir bei YouTube übrigens nochmal einige der damaligen Szenen angeschaut, fand mich aber in meinem alten Vorurteil bestätigt: Die Leistungen der "besten DFB-Elf aller Zeiten" werden heute doch arg verklärt. Ich habe mich beim Zuschauen häufig gefragt, ob da gerade die Zeitlupe läuft. Wie schon Rudi Völler zutreffend festgestellt hatte: "Der Günter [Netzer], was die früher für einen Scheiß gespielt haben, da konntest du doch überhaupt nicht hingehen, die haben doch Standfußball gespielt."

Aber zurück zu Beyers Buch: Der Ansatz, nicht nur den Fußball zu betrachten, sondern ihn als Teil eines riesigen aus Politik, Gesellschaft, Sport und Musik bestehenden Mosaiks in den Blick zu nehmen und die Ereignisse jener Zeit nebeneinander dazustellen, überzeugt hier mindestens genauso wie bei Reng. Beyer handelt die Saison und das Geschehen in Politik, Gesellschaft und Musik chronologisch und wunderbar erzählt ab, gönnt sich dabei aber auch immer mal wieder Rückblenden und Ausblicke in die Zukunft. Es gelingt ihm meisterhaft, die einzelnen Erzählstränge immer mal wieder loszulassen, ohne sie aus dem Blick zu verlieren, sie dann wieder aufzugreifen und weiterzuverfolgen. Es wird deutlich, wie ungleich geringer der gesellschaftliche Stellenwert des Fußballs damals war (kein Politiker wäre auf die Idee gekommen, sich beim EM-Finale in Brüssel oder gar anschließend in der Kabine zu zeigen), wie berechtigt das Schmuddelimage des Fußballs (siehe die widerwärtigen Auftritte deutscher Schlachtenbummler beim EM-Finale gegen die Sowjetunion), wie ungleich dilettantischer die Vereine seinerzeit von Ehrenamtlichen geführt wurden und um wieviel geringer der Abstand zwischen gut entlohnten Bundesligastars und dem deutschen Durchschnittsverdiener war. Und zwischendurch erfährt der Leser eben auch, wie Brandt (vorerst erfolgreich) ums politische Überlegen kämpfte, wie Reiser (der sich für Fußball nicht interessierte) mit seiner Band versuchte, Im Musikgeschäft Fuß zu fassen, derweil sich Andreas Baader und Co. für Terror und Gewalt entschieden.

Neben den wie bei Reng auch hier gelegentlich ein klein wenig konstruiert wirkenden Querverbindungen zwischen Politik, Fußball und Musik gibt es übrigens auch einige tatsächliche:  Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass der Offenbacher Früchtehändler Horst-Gregorio Canellas, nachdem er als ein Hauptprotagonist des Bundesligabestechungsskandals unvermittelt ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten war, wenige Jahre später nochmals in gänzlich anderer Rolle auf die große Bühne zurückzukehren würde? Extrem gering - und dennoch passierte genau das: Canellas war einer von 86 Touristen, die 1977 als Passagiere des Ferienfliegers "Landshut" von islamistischen Terroristen entführt wurden.

"71/72: Die Saison der Träumer" - Fußballbuch des Jahres 2021 - ist kein lockerleichtes, unbeschwertes Buch, aber die Zeit, die Beyer betrachtet, war das auch nicht, weder im Fußball noch in der Politik. Aber es ist ein spektakuläres, begeisterndes und sehr berührendes Gesamtbild jener Zeit und ein großer Genuss. Vorausgesetzt natürlich, man liest es zur richtigen Zeit.

Bernd-M. Beyer: "71/72 - Die Saison der Träumer", Verlag Die Werkstatt