Freitag, 13. Juni 2025

Ernst Happel: Intimes, aber durchaus zwiespältiges Porträt

Neulich sprach ich mit einem Verleger über den typischen Verkaufszyklus eines Fußballbuches - und insbesondere das Momentum einer Neuerscheinung. "Die ersten sechs Monate sind die entscheidenden", meinte er, "danach ist das Buch praktisch weg vom Fenster." Früher sei diese Zeitspanne noch doppelt so lang gewesen. Gemessen daran dürfte bei Klaus Dermutz' bereits vor zwölf Jahren erschienener Ernst-Happel-Biographie "Genie und Grantler" (Verlag Die Werkstatt) derzeit nicht mehr viel passieren. Was sehr schade ist, denn es ist ein zeitloses, heute wie damals höchst lesenswertes Buch über einen der ganz Großen der Branche.

Klaus Dermutz, kein Mann vom Fach, sondern einer des Theaters, zeichnet mit viel Sorgfalt alle Stationen des "Wödmastas" nach, die Zeiten als Spieler bei Rapid Wien und Racing Paris, die Trainerjahre in Holland und Belgien, natürlich die Ära als Coach des Hamburger SV und dann Ende der 80er Jahre die Heimkehr nach Österreich als Trainer des FC Swarovski Tirol und schließlich der Nationalmannschaft, ehe er den Kampf gegen den Krebs endgültig verlor.

Mich haben an diesem Buch gleich mehrere Aspekte fasziniert. Zum einen hat Dermutz, wenn ich es richtig sehe, mit seinem Sujet (nur) zwei etwa anderthalbstündige Interviews geführt, eines 1986 in Hamburg und eines 1991 in Innsbruck. Im Übrigen basiert das Buch auf Gesprächen mit Weggefährten und vor allem Archivmaterialien. Drei Stunden mögen viel für einen Mann wie Happel sein, der Pressekonferenzen auch schon mal nach 30 Sekunden beendete. Aber für eine über 300 Seiten dicke Biographie? Ich habe schon mit Autoren gesprochen, die mit ihren Protagonisten die zehnfache Zeit zugebracht haben. Gemessen daran kommt Dermutz der Person Happel beeindruckend nahe - nach der Lektüre hat man ein intimes und rundes Gesamtbild des Menschen, Spielers und Trainers.

Auch wenn Dermutz seinem Landsmann mit unverkennbarer Sympathie und Bewunderung begegnet, spart er - auch das keine kleine Leistung - dessen Schwächen nicht aus. Stellenweise ist die Lektüre sogar ausgeprochen schmerzhaft. Ex-Spieler wie Felix Magath, Horst Hrubesch oder Manfred Kaltz sprechen bis heute nämlich mit größter Hochachtung von ihrem Ex-Coach und weisen immer wieder auf seine enormen menschlichen Qualitäten hin. Doch in seinen letzten Trainerjahren in Österreich, so Dermutz, entwickelte sich Happel, bereits gezeichnet von der Krebserkrankung, zu einen unangenehmen Despoten, der mit grausamer Härte regierte. Erfolge des FC Tirol waren stets sein Verdienst, Niederlagen (wie das legendäre 1:9 im Europapokal der Landesmeister 1990/91 gegen Real Madrid) die Schuld der Mannschaft. Er hintertrieb die Berufung seines argentinischen Ballkünstlers Nestor Gorosito in die Nationalelf, indem er ihn, wenn deren Späher nach Innsbruck kamen, einfach nicht aufstellte - weil er ihn "ausschließlich für seinen Klub haben will und nicht bereit ist, ihn für die langen und anstrengenden Reisen abzustellen". Er legte sich mit Stars wie Hansi Müller und Bruno Pezzey an, die teilweise in die zweite Mannschaft verbannt wurden. Dermutz: "Die Spieler versuchen mit Galgenhumor ihrer Angst Herr zu werden. Sie sehen sich der reinen Willkür ausgesetzt und schließen Wetten ab, wen als nächsten Happels Bannstrahl treffen wird. Der Trainer wird für sie zu einem völlig unberechenbaren Autokraten." Ähnlich unsympathische Züge legte Happel auch im Privatleben an den Tag - gegenüber irgendwelchen Wirtshaus-Spezln zeigte er sich großzügig und beglich in aller Regel die gemeinsamen Rechnungen, für seine letzte Lebensgefährtin, die "die sein Leiden bis zum bitteren Ende miterlebte, nur mehr Helferin, Krankenschwester war, seine Launen, genährt von seiner unheilbaren Krankheit, hinunterschluckte, oft verzweifelt: ›Ich kann das alles nicht mehr ertragen‹, klagte, dennoch bis zum letzten Atemzug bei ihm war, seine Hand hielt, bis er einschlief, hatte er nichts übrig. (…) Veronika musste zurücktreten in die zweite, ja in die letzte Reihe. Sie durfte nicht einmal beim Begräbnis an seiner Bahre stehen."

Fasziniert hat mich das Buch auch deshalb, weil es vielleicht das große Erfolgsgeheimnis des österreichischen Welttrainers offenbart, der in vier Ländern Meistertitel feierte und zweimal den Europapokal der Landesmeister gewann. Happel, der ein einzigartiges Kauderwelsch aus Deutsch, Holländisch, Flämisch und Wienerisch sprach, keine unnötige Zeit mit Grammatik verschwendete ("Aber Sie wissen, heutzutage mit die Medien [...]") und mitunter zu ausgesprochenen Derbheiten neigte, gilt ja bis heute als der wortkarge Grantler, der keinen einzigen Satz zu viel sagte. Ich frage mich, ob er womöglich deshalb so erfolgreich war, weil er vorzugsweise den Mund hielt und im Übrigen häufig nicht verstanden wurde. So blieb unentdeckt, dass Ernst Happel, wenn er denn mal sprach, mitunter hanebüchenden Unsinn und fürchterliche Plattitüden von sich gab. Beispiele gefällig? Nur zu gern: So sagte er über die WM 1986 in Mexiko: "Ich habe nicht gerechnet mit Argentinien, ich habe nicht gerechnet mit Deutschland." Frage: "Mit wem haben Sie gerechnet?" Antwort: "Mit Deutschland muss man immer rechnen." Aha. Auf die Frage, welche Fähigkeiten ein Spitzentrainer mitbringen muss, führt Happel aus: "Wenn ein Fußballtrainer nie Fußball gespielt hat, kann er nie ein Trainer werden. Das ist der Grundvorsatz, dass er selbst aktiv war, auf einem bestimmten Niveau gespielt hat." Soso. Und was ist beispielsweise mit Arrigo Sacchi, der mit dem AC Mailand von Erfolg zu Erfolg eilte, während Happel auf der Bank des FC Tirol unter dem österreichischen Fußball litt? Frage: "Was bringt ein technisch versierter Spieler für eine Mannschaft?" Antwort: "Er muss natürlich alles bringen, er kann nicht technisch gut beschlagen sein und im Zweikampf schwach, da hat man nichts, aber es ist natürlich ein großer Vorteil, wenn er technisch beschlagen ist [...]." Wer hätte gedacht, dass es im Fußball von Vorteil ist, wenn der zweikampfstarke Spieler auch noch technisch beschlagen ist?

Sehr gespannt war ich auf Dermutz' Ausführungen zu Wolfram Wuttke und Dieter Schatzschneider, die 1983 als hochgehandelte und ziemlich teure Nachfolger von Horst Hrubesch und Lars Bastrup zum HSV kamen, dort jedoch Schiffbruch erlitten. Wieso gelang es einem so begnadeten Trainer wie Happel nicht, diese beiden Spieler in die Spur zu bekommen, insbesondere Wolfram Wuttke nicht, dessen an guten Tagen schlicht geniale Art, Fußball zu spielen, ihn doch in Verzückung versetzen musste? Dermutz widmet dem Thema durchaus Raum, in Interviews mit Happel, mit Magath, in seinen Analysen, aber eine wirklich befriedigende Antwort findet auch er nicht. Auch die lebenslange Fehde Happels mit seinem einstigen Teamkollegen Max Merkel wird im Buch immer mal wieder aufgenommen, hätte aber ob der erstaunlichen Parallelen - beide Männer spielten bei Rapid, beide wurden Trainer in Holland, beide errangen Meistertitel in Deutschland - gern ausführlicher behandelt werden können. Aber das ist Geschmackssache.

Ebenfalls sicherlich Geschmackssache, aber in meinen Augen die einzige echte Schwäche der Biographie ist der Drang des Autors, wirklich alles zwischen die zwei Buchdeckel zu packen, was auf dem Tisch lag. Dermutz hatte mit Happel - wie gesagt - zwei längere Interviews geführt. Im Rahmen seiner Ausführungen zitiert er ausgiebig daraus, mitunter auch mehrfach, um dann jedoch die beiden Gespräche im Anhang noch einmal in voller Länge abzudrucken. Das mag einen gewissen sporthistorischen Wert haben, führt im Buch aber zu unschönen Redundanzen, was gerade bei den eher derben Passagen stört. Für meinen Geschmack lese ich etwas zu oft, dass Spieler ohne "Beistrich in der Unterhose" auftreten sollten oder ein Schiedsrichter, der Happel nicht genügend Respekt zollt, "kein kleines, sondern ein großes Arschloch" ist. Hier wäre weniger vielleicht mehr gewesen. Dies ändert indes rein gar nichts daran, dass "Genie und Grantler" ein großartiges Buch ist, welches eine echte Lücke gefüllt hat und das ich in meiner Bibliothek nicht missen möchte.

Klaus Dermutz: "Ernst Happel: Genie und Grantler", Verlag Die Werkstatt

Donnerstag, 5. Juni 2025

Stan Libuda: Geschichte eines sympathischen Verlierers


(KM) Heute greifen wir wieder mal zu einem der etwas älteren Bücher. Thilo Thielke, langjähriger "Spiegel"-Redakteur und leider viel zu früh verstorben, hat bereits 1997 im Verlag Die Werkstatt eine Biographie des legendären Schalker Dribbelkünstlers Reinhard "Stan" Libuda vorgelegt. Dass sich der Verlag 2002 zu einer Neuauflage entschied, sagt bereits einiges über den Erfolg dieses Werks.

Mich hatte an "'An Gott kommt keiner vorbei...' - Das Leben des 'Stan' Libuda" zweierlei gereizt. Da war zum einen das bisher nirgendwo näher beleuchtete Auslandsjahr Libudas bei Racing Straßburg. Nach dem Bundesliga-Bestechungsskandal 1971 - Libuda war darin in ähnlicher Weise verwickelt wie der Blinde zu einer Ohrfeige kommt - flüchteten etliche der beteiligten Spieler ins Ausland, nach Holland, nach Belgien, nach Südafrika oder - wie der Schalker - eben nach Frankreich. Zum zweiten hatte mich bereits eine kurze Leseprobe überzeugt, dass Thielke zu schreiben verstand und die sportliche und private Achterbahnfahrt des begnadeten Flügelläufers interessant präsentieren würde.

Man fragt sich, wie es der zwar durch und durch sympathische, aber eben hypersensible Libuda jemals in den bezahlten Fußball - schon damals ein ziemlich rauhes Geschäft - schaffte, dort immerhin auf 264 Bundesligaspiele und 26 Einsätze in der Nationalelf kam und Vizemeister, Europapokalsieger und 1970 in Mexiko mit dem DFB-Team WM-Dritter wurde. Denn Libuda erinnerte nicht  nur äußerlich mit seinen stets traurigen Augen an Buster Keaton, er war auch ein unfassbar scheuer und stets unsicherer Mensch, einer, den ein Gegenspieler bereits mit der Frage, ob seine (bildschöne) Ehefrau mal wieder fremdgehe, völlig aus dem Konzept bringen konnte. Immerzu von Selbstzweifeln und Minderwertigkeitskomplexen geplagt, starken Formschwankungen unterworfen, nie mit sich im Reinen - so schlängelte sich Libuda durch die Jahre in der Bundesliga, erst bei Schalken (oft unglücklich), dann bei Dortmund (öfter unglücklich), dann wieder bei Schalker (erneut unglücklich), ging anschließend nach Straßburg, ohne es wirklich zu wollen (wofür er aber immerhin 130.000 DM Handgeld kassierte), und versackte anschließend, nach dem Ende seiner Laufbahn, in einem 16 Quadratmeter großen Tabakladen am Gelsenkirchener Markt, einem "stinkenden Käfig", wie Ex-Trainer Rudi Gutendorf notierte. 

Libuda starb mit 52 Jahren an Kehlkopfkrebs, völlig verarmt, verbittert, im Leben gescheitert. Und der angeblich an eine Gelsenkirchener Hauswand gemalte Satz, den man bis heute mit ihm verbindet, demzufolge an Gott zwar grundsätzlich keiner, Libuda aber schon vorbeikomme, der war, wie Thielke enthüllt, nur die Erfindung eines Boulevardblatts. Thielkes Buch  ist eine zwar über weite Strecken deprimierende, aber dennoch hochinteressante Lektüre über einen, der fußballerisch an seinen besten Tagen zu den Größten des Spiels gehörte, aber eben nie so richtig in diese Welt passte. Lohnt sich!

Thilo Thielke: "'An Gott kommt keiner vorbei...' - Das Leben des 'Stan' Libuda", Verlag Die Werkstatt

Samstag, 31. Mai 2025

"11Freunde" und die selektive Wahrnehmung

Ich gebe es gern zu: Julian Nagelsmann war nicht mein Favorit, als es im Sommer 2023 um die Neubesetzung des Bundestrainer-Postens ging. Keine Ahnung, ob Felix Magath jemals ein ernsthafter Kandidat für das Amt war (siehe dazu hier), aber mir hätte diese Variante, die so einen herrlich nostalgisch-gestrigen Anstrich gehabt hätte, jedenfalls als Übergangslösung hervorragend gefallen. Denn Magath ist ein gestandener Trainer mit entsprechender Vorerfahrung und beachtlichen Erfolgen. Er hat sich im Laufe vieler Jahre bewährt. Und seine Berufung zum Nationacoach wäre der krönende Abschluss einer beeindruckenden Karriere als Spieler und Trainer gewesen. 
 
Gewiss ist Nagelsmann ein großes Trainertalent und sicherlich hat er bei seinen vorherigen Stationen beachtliche Arbeit - wenngleich hier und da mit Abstrichen - geleistet. Aber er war und ist eben genau (noch und nur) das - ein Talent. Und der Beweis, dass die DFB-Entscheidung für ihn die richtige war, steht noch aus. Vermutlich ist mir deshalb die neue "11Freunde"-Ausgabe ein wenig in die Nase gestiegen. Denn das Heft kommt nicht nur mit Julian Nagelsmann in zigfacher Ausfertigung und im Goldanzug auf dem Cover daher, sondern auch mit einem distanzlosen, ziemlich ärgerlichen Anwanz-Artikel über den neuen Bundestrainer, der - "80.000 Fußballfans können nicht irren." - die Nationalelf angeblich wiederbelebt habe: "Inzwischen wissen wir um die Leidenschaft, mit der der Nationalcoach das Amt ausfüllt; die EM 2024 war das erste Turnier, bei dem Publikum und Mannschaft wieder eine Einheit bildeten." Nein, taten sie nicht, Organisatoren und Medien wollten nur, dass es so ist. Und weiter geht es im Text: "Leben heißt siegen. Optimismus als Lebensmotto. Zuversicht als ständiger Gemütszustand. Als Status." So lobhudelnd hat zuletzt "Welt"-Autorin Dagmar von Taube über Jogi Löw geschrieben ("Herr Löw, warum sind Sie so ein moderner Mann?"). Kein Wort davon, dass Nagelsmann - fescher roter Mantel hier, Holzfällerhemd da - mitunter mehr Show als Inhalt ist. Kein Wort davon, dass er gelegentlich auf frappierende Weise Gespür vermissen läst. Ich könnte mich heute noch totlachen über das konsternierte Gesicht von Oliver Kahn, als Nagelsmann zum Oktoberfest 2022 seine "Bild"-Reporterin-Lebensgefährtin mit an den Tisch der Bosse brachte.

Und nachdem ich ob dieses ärgerlichen PR-Stücks als Aufmacher des Mai-Hefts schon missgelaunt genug war, kam mir "11Freunde"-Chefredakteur Philipp Köster mit seiner Antonio-Rüdiger-Verteidigungsschrift gerade recht. Rüdiger hatte im April beim Pokalfinale seines Klubs Real Madrid gegen den FC Barcelona den Schiedsrichter mit allerlei Nettigkeiten ("Hurensohn", "Missgeburt") belegt und Gegenstände in dessen Richtung geworfen. Köster beklagt die daraufhin einsetzende, seiner Meinung nach in einem "unerbittlichen Ton" geführte Diskussion um Rüdigers Eignung für die Nationalelf, die "bei aller berechtigten Kritik und unter Würdigung des stattlichen Sündenregisters", so Köster, vornehmlich dem migrantischen Hintergrund Rüdigers geschuldet sei. Das ist vermutlich noch nicht einmal ganz falsch. Aber leider begeht Köster exakt den Fehler, den ich neulich schon Bernd Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling vorwerfen musste: Beim Versuch, Rüdiger gegen rechtsradikale Schlichtmichel in Schutz zu nehmen, kneift er das andere Auge fest zu. Es geht nämlich in erster Linie gar nicht darum, dass Rüdiger jetzt in Richtung des Schiris "Hurensohn" und "Missgeburt" gebrüllt hat und bei anderer Gelegenheit Fans auch gern mal "Spasti" nennt. Sondern es geht darum, dass er bei Instagram einst ein Foto des französischen Präsidenten Emanuel Macron mit einem Stiefelabdruck im Gesicht "geliked" hatte, nachdem der sich gegen islamistischen Terror ausgesprochen und die Meinungsfreiheit verteidigt hatte. In der anschließenden aalglatten Entschuldigung hat sich der Nationalspieler von allem möglichen, aber eben nicht von islamistischer Gewalt distanziert. Davon liest man bei Köster leider nichts. Und, ja, man darf durchaus darüber nachdenken, ob jemand, der Fotos mit Stiefelabdrücken im Gesicht anderer Menschen mag, ein Mann für die Nationalelf ist.

11Freunde - Magazin für Fußballkultur, Heft 283 (Mai 2025)

Dienstag, 20. Mai 2025

Der "blonde Engel": Erinnerungen mit Weichzeichner

(KM) Kurz nach Diego Maradonas Tod erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit Bernd Schuster. Der "blonde Engel" sprach darin in sehr berührender und warmherziger, fast schon poetischer Weise über seinen einstigen Barca-Teamkollegen. Ich hatte das Gefühl, dass damals der eine das Genie des anderen erkannt hatte und sie sich deshalb auf Anhieb mochten. Denn, ja, es gab eine Zeit, da war Bernd Schuster vermutlich der beste Mittelfeldspieler Europas. Irgendwie umwehte ihn auch immer der Hauch des Geheimnisvollen und in gewisser Hinsicht des Exotischen. Er war ein Star des FC Barcelona, schon damals einer der ganzen großen Vereine, der in den Vor-Internet-Zeiten für den deutschen Fußballfan jedoch unendlich weit weg war. Doch wann immer Schuster mit seinem Team mal in einem Europapokalspiel im deutschen Fensehen auftauchte, war er unübersehbar mit seiner blonden Mähne und seinem charakteristischen Laufstil. Dann waren da noch die ständigen Diskussionen über sein mögliches Comeback in der Nationalelf, sowohl unter Jupp Derwall als auch unter Franz Beckenbauer und selbst zu Berti Vogts' Zeiten spielte das Thema noch eine Rolle. Und dann gab es noch Gaby, Schusters Ehefrau, blond, attraktiv, einige Jahre älter als er und deutlich zu selbstbewusst und präsent für den engstirnigen, stockkonservativen DFB der Hermann-Neuberger-Zeit.

Zwar wurde Schuster 1980 mit der DFB-Elf Europameister, aber seine besten Jahre verbrachte er in Spanien und (leider) ohne weitere Länderspiele: Er errang Meistertitel mit dem FC Barcelona (1985) und mit Real Madrid (1989, 1990), wurde mit beiden Vereinen und dazu noch mit Atletico Madrid insgesamt sechsmal spanischer Pokalsieger und räumte obendrein auch die eine oder andere persönliche Trophäe ab. Wieviel Klasse in Schuster steckte, wurde dem deutschen Fußballpublikum eindrucksvoll vor Augen geführt, als er im Spätherbst seiner Karriere in die Bundesliga zurückkehrte: Bei Bayer Leverkusen bestimmte er mit Traumpässen das Spiel und schoss 1994 drei wunderschöne Tore des Monats, die bei der Wahl zum Tor des Jahres auf den Plätzen eins, zwei und drei landeten.

Es passt zu diesem ebenso eigenwilligen wie wunderbaren Spieler und seiner ungewöhnlichen Karriere, dass seine Autobiographie nicht in seinem Heimatland, sondern (bislang nur) in seiner Wahlheimat Spanien erschienen ist: Der Journalist Javier Ares überredete den "blonden Engel", der nach einigen Trainer-Wanderjahren nun wieder in Madrid lebt, seine Erinnerungen aufzuschreiben. 2018 erschien "Amor a primera vista" in einem spanischen Sportbuchverlag. Wie man heute mit Büchern umgeht, die in Sprachen veröffentlicht wurden, die man selbst nicht spricht, hatte ich ja schon bei der Besprechung der Sepp-Piontek-Biographie skizziert: Als E-Book kaufen, mit einem der etwas besseren Online-Tools übersetzen und mit Calibre wieder in ein E-Book-Format umwandeln oder auf Wunsch noch durch einen Text-to-Speech-Reader jagen - fertig ist das Hörbuch. In diesem Fall höchst unterhaltsame acht Stunden.

Gleich zu Beginn des Buches weist Schuster darauf hin, dass er keinesfalls schmutzige Wäsche waschen wolle. Daran hält er sich auch überaus streng - was dem Buch allerdings in meinen Augen nicht zum Vorteil gereicht. Denn die Karriere des "blonden Engels" war nun einmal von zahlreichen Konflikten geprägt - mit Trainer Karl-Heinz Heddergott in Köln, mit dem mächtigen Präsidenten Josep Lluís Núñez i Clemente in Barcelona, mit Jupp Derwall in der Nationalelf oder mit Erich Ribbeck in Leverkusen. Es ist noch nicht einmal so, dass Schuster diese Konflikte in seinem Buch verschweigt oder mit wenigen Worten abhandelt, er spricht sie durchaus substantiiert an. Aber über allem scheint eine Schicht Zuckerwatte zu liegen, vieles wirkt weichgezeichnet und zu versöhnlich, fast alle Menschen, die er erwähnt, sind liebe Freunde, geschätzte Kollegen, großartige Mitspieler, phantastische Gegenspieler und so weiter. Aber dadurch begibt er sich nach meinem Eindruck der Möglichkeit, Differenzierungen vorzunehmen und Kipppunkte prägnanter herauszuarbeiten. Beispielsweise würde ich, wenn ich mir die Fernsehbilder anschaue, mal behaupten, dass der berüchtigte Verteidiger Andoni Goikoetxea (Athletic Bilbao) Schuster 1981 - wie übrigens zwei Jahre später auch dessen Teamkollegen Diego Maradona - mit voller Verletzungsabsicht gefoult hat. Schuster fiel damals ein Dreivierteljahr aus, Maradona später sogar ein ganzes. Wie fühlt man sich als begnadeter Techniker, wenn man einem "Spieler" gegenübersteht, der nur ein Ziel hat - den anderen so zu verletzen, dass er nicht weitermachen kann? Oder: Barca-Präsident Núñez hat Schuster Mitte der 80er Jahre, weil er dem Publikum neue Stars präsentieren, der "blonde Engel" aber nicht weichen wollte, ein Jahr kaltgestellt - mittels eines wohlgesinnten Psychiaters wollte er ihn sogar für psychisch krank erklären lassen. Wie fühlt man sich, wenn man weiß, dass die eigene Karrierezeit auf vielleicht fünfzehn Jahre beschränkt ist, einem davon aber ein ganzes Jahr gestohlen wird? Hier hätte ich mir mehr Biss, mehr Deutlichkeit gewünscht.

Allerdings ändert das nichts daran, dass "Amor a primera vista" ein absolut lesenswertes Buch ist. Selbst die Erinnerungen an die Kinderjahre, die ich sonst meist überblättere, geraten hier hochspannend: Schusters überaus enge Beziehung zur Großmutter, der schmerzhafte Einschnitt, den ihr Tod für ihn bedeutete, oder das komplizierte Verhältnis zum Vater, der, obwohl selbst ein Spieler auf Verbandsliganiveau, seinen Sohn nicht ein einziges Mal im Stadion spielen sah, weder als Kind noch als Erwachsener, der sich nie erkundigte, ob und wie er gespielt habe, und der die Fußballleidenschaft seines Sohnes nie auch nur ansatzweise förderte. Dann ist da die Begegnung des im bayerischen Augsburg aufgewachsenen Nachwuchskickers mit seinem Idol Franz Beckenbauer, als er gemeinsam mit Teamkameraden an dessen Haustür klingelte, erst (wohl von Beckenbauers Frau) barsch abgewiesen wurde, nur um dann zu erleben, dass "Kaiser Franz" im Morgenmantel doch zur Tür kam und sich Zeit für die Jungs nahm. Hier hätte ich mir einen Bezug zur Zeit vor der WM 1986 gewünscht, als Schusters Rückkehr ins DFB-Team im Raum stand, einer Idee, der der nunmehrige Teamchef Beckenbauer nie sonderlich begeistert gegenüberstand - obwohl Schuster damals wahrscheinlich der einzige war, der Beckenbauers Idee von Fußball nahe kam. 

Wir haben hier schon Bücher besprochen, in denen Spieler von Vertragsverhandlungen in Autobahnraststätten zwischen Köln und Aachen berichteten. Bernd Schuster lebte da als Spieler in einer anderen Welt. Er flog mal eben von Madrid nach Genf, um sich mit Vertretern von Juventus Turin zu treffen - und ein Transfer scheiterte auch mal daran, dass es keine passende internationale Schule für die Kinder gab. Wie gesagt - Schuster errang Titel mit allen drei spanischen Top-Vereinen, als erster und einziger Ausländer überhaupt, und gehörte jahrelang zur Weltklasse. Als Trainer musste er etwas kleinere Brötchen backen - Fortuna Köln, 1. FC Köln,  Deportivo Xerez, UD Levante, FC Getafe. Und als er doch einmal eine Chance bei einem Top-Klub bekam, bei den "Königlichen" von Real Madrid - die ihn bei den Gehaltsverhandlungen allerdings wenig königlich über den Tisch zogen - und sogar den Meistertitel errang (2008), da galt das als das Normale und das Scheitern im Europapokal als Mißerfolg.
 
Heute lebt Schuster, inzwischen von Gaby getrennt und zum zweitenmal verheiratet, wieder in Spanien und beschränkt sich auf gelegentliche Kommentatorentätigkeiten. Apropos Gaby: Sie ist nach meinem Eindruck die einzige, die in dem Buch ein klein wenig zu schlecht wegkommt - oder das in den Medien stets gezeichnete Bild von der knallharten Verhandlerin, die für ihren Mann überaus vorteilhafte Verträge herausgeschlagen hat ("Ich will nicht, dass Bernd später auf irgendwelchen Messen Schuhe verkaufen muss.") stimmte so nicht. Zwar hat auch Bayer-Manager Reiner Calmund eingeräumt, dass Gaby Schuster die professionellste Verhandlungspartnerin war, der er jemals begegnet sei, aber im Buch wird das bestenfalls angedeutet.
 
Bernd Schuster mit Javier Ares: "Amor a primera vista", Roca Edit

Dienstag, 13. Mai 2025

Transfermarkt: Wo bleibt die Printausgabe?

Auch wenn unser Hauptaugenmerk den Büchern gilt, haben wir uns an dieser Stelle schon mehrfach mit dem Fußballzeitschriftenmarkt beschäftigt, siehe etwa hier und hier. Auf den ersten Blick sieht es auf diesem Markt in Deutschland - gerade im Vergleich zu unseren Nachbarländern - gar nicht so schlecht aus: Das krawallige Boulevardblatt "Sport-Bild", der seriöse "Kicker" und dazu noch für anspruchsvollere Gemüter das Fußballkulturmagazin "11Freunde" - von einer derartigen Vielfalt können die Fans in anderen Ländern nur träumen. Und da habe ich das kleine Frauenfußballmagazin "FFußball" noch gar nicht erwähnt.

Indes: Der zweite Blick fällt etwas ernüchternder aus. Denn "Sport-Bild" und "Kicker" befinden sich, dem allgemeinen Branchentrend folgend, in einem bitteren Auflagensturzflug. Das Springer-Blatt lag mal bei über 560.000 Exemplaren und bringt heute keine 150.000 Stück mehr unters Volk. Der "Kicker" schaffte es in seinen besten Zeiten, sowohl montags als auch donnerstags jeweils fast 300.000 Exemplare zu verkaufen (290.824 beziehungsweise 243.116). Heute liegt die Auflage nur noch knapp über 60.000 (66.995 beziehungsweise 61.402). Eine erfreuliche Ausnahme von diesem Trend ist bei "11Freunde" zu verzeichnen, dem die Übernahme durch die "Spiegel"-Gruppe offenbar gut getan hat: Zuletzt ist die Auflage, die zuvor ebenfalls kontinuierlich fiel und sich unter 60.000 Heften bewegte, auf über 80.000 nach oben geschnellt.

Versuche, in diesem schwierigen Umfeld weitere Titel zu platzieren, sind in der Vergangenheit zumeist gescheitert, siehe etwa - wenngleich kein Magazin - das vergleichweise schnelle Ende der täglichen "Fußball-Bild". Dennoch habe ich mich in den vergangenen Jahren wiederholt mit Bedauern gefragt, wieso es  eigentlich keine regelmäßige Printausgabe von transfermarkt.de gibt.

Transfermarkt.de ist vermutlich - jedenfalls nach "11Freunde" - die größte Bereicherung des Fußballmedienmarktes in den letzten 25 Jahren. Die Idee, für praktisch jeden Profispieler weltweit einen Marktwert festzulegen, diesen mit zig weiteren Daten (Land, Vereine, Ligen, Spiele, Tore, Ablösesummen, Trainer etc.) zu verbinden und in einer riesigen Datenbank zusammenzuführen, ist eine Art feuchter Traum für Fußball-Business-Aficinados wie mich. Mit monatlich fast 50 Millionen Besuchen ist die Webseite heute eine der führenden Plattformen in diesem Bereich. Aber: Obwohl es bei Transfermarkt.de inzwischen längst Content weit über Zahlen und Statistiken hinaus gibt, nämlich (höchst lesenswerte) Interviews, Analysen und Hintergrundberichte, ist die Seite in "Look & Feel" bis heute eine Datenbank geblieben. Und das ist schade. Denn wirklichen Spaß, die redaktionellen Beiträge dort zu lesen, habe ich bis heute nicht.

Es gab in der Vergangenheit, allerdings nur wenige Male und nur als Sonderheft zum Saisonstart, schon Printausgaben vom Transfermarkt.de, aber das waren dann eben gedruckte Datenbanken ohne nennenswerte redaktionelle Inhalte. Ich frage mich, ob es einen Markt für eine - sagen wir - wöchentlich erscheinende Zeitschrift von Transfermarkt gibt, eine, die sich schwerpunktmäßig den inhaltlichen Beiträgen, TM-Länder-Updates und sonstigen Analysen widmet, das Ganze mit ein paar aktuellen News, Gerüchten und Ergebnissen garniert und auf diese Weise Printliebhaber wie mich glücklich macht und ganz nebenbei für eine zusätzliche Visibility von Transfermarkt durch Auslage in den Bahnhofskiosken, Supermärkten und Zeitschriftenläden sorgt. 

Stoff genug für eine wöchentliche Ausgabe sollte es geben. Denn Transfermarkt besetzt mit seinen redaktionellen Beiträgen eine hochinteressante Nische: einen Artikel über Ex-HSV-Coach Joe Zinnbauer und sein Engagement beim 14-maligen algerischen Meister JS Kabylie oder ein Interview mit Ex-KSC-Co-Trainer Argirios Giannikis über seine Arbeit beim griechischen Zweitligisten PAS Giannina bekomme ich bei keinem der o.g. Platzhirsche, auch keine ausführlichen Berichte über Daniel Stendels Wechsel in die zweite französische Liga zu AS Nancy-Lorraine oder über Thomas Meggles Investoreneinstieg bei Dunfermline Athletic. Und eine vertiefte, substantiierte Marktwertanalyse der Saudi Pro League gibt es so eben auch nur bei Transfermarkt.de. 

Mal angenommen, eine Markterkundung würde ein Potential von 35.000 oder 40.000 Käufern für eine wie der Donnerstag-"Kicker" im Zeitungsoffset gedruckte, 40seitige "Transfermarkt"-Printausgabe ergeben, die zum Beispiel immer freitags erscheint, für drei Euro verkauft wird und ungefähr so aussieht wie mein Beispiel links oben. Warum nicht gegen den allgemeinen Trend ein solches Projekt wagen? Es wäre ein weiterer Grund, sich auf das Ende der Arbeitwoche zu freuen.

Donnerstag, 8. Mai 2025

Ärgerliches Jägerlatein

(KL) Zugegeben, ein Fußballbuch ist "Bücher richtig verkaufen" von Elvira Zeißler nicht. Aber nachdem wir an dieser Stelle ab und zu auch schon Selfpublishing-Werke besprochen haben, lag es durchaus nahe, mal der Frage nachzugehen, wie man diese Bücher am Ende verkauft bekommt.
 
Elvira Zeißler ist als Autorin von Fantasy-Romanen offenbar - ich habe leider keinerlei Bezug zu diesem Genre - einem größeren Publikum bekannt, jedenfalls ist hier die Rede von über einer Million verkaufter Bücher. Das muss man erstmal schaffen, egal in welchem Genre, und das freut mich für die Autorin. Leider ändert das indes nichts daran, dass dieser Ausflug ins Non-Fiction-Fach gründlich misslungen ist. Und zwar in jeder Hinsicht.

Es ging schon falsch los: Ich hasse Ratgeber, die mit einem Disclaimer beginnen. Wenn sich jemand, noch ehe ich den ersten Satz gelesen habe, erstmal von seinen folgenden Ausführungen distanziert und betont, dass er leider keinerlei, wirklich gar keine Verantwortung für seine Ratschläge übernehmen könne, schwillt mir regelmäßig die Schlagader. Denn der Kaufpreis wird selbstverständlich nie unter Vorbehalt kassiert. Aber diese Art von Disclaimer haben wir hier gar nicht. Hier gibt es vielmehr die "Achtung, bitte anschnallen!"-Variante. Das Buch, so erfährt man, richte sich an entscheidungsfähige Leser - wer an einer psychischen Vorerkrankung leide, möge sich doch besser mit seinem Therapeuten, Arzt oder Coach abstimmen. Wohlgemerkt, wir reden über das Verkaufen von Büchern.
 
Es wird in der Folgezeit nicht besser. Die Erfolgsformel der Autorin lässt sich an folgenden Beispielen illustrieren: Bei einem neuen Buch, mit dem sie große Hoffnungen verbunden hatte, kamen die Vorbestellungen nicht wie erwartet. Also ging Elvira Zeißler in sich, entschied, dass das Buch hervorragend ist und sie nur ganz fest an dessen Erfolg glauben müsse. Ergebnis: Schon am nächsten Tag schossen die Vorbestellungen in die Höhe und das Buch landete auf der "Spiegel"-Bestsellerliste. Bei einem anderen Buch erhielt sie eine negative Rezension. Elvira Zeißler konzentrierte sich auf allerlei positive Gedanken - und siehe da, in der Folgezeit hagelte es wohlwollende Bewertungen.

Sorry, but I don't buy it. Und ich frage mich, wieso die Autorin, wenn denn die Formel "Ich muss mir nur fest vornehmen, es auf die 'Spiegel'-Bestsellerliste zu schaffen, und dann klappt das auch." funktioniert, ihre Ziele so klein steckt. Sie spricht an einer Stelle von 17.000 verkauften Exemplaren eines Buches. Das ist zweifellos ein grandioses Ergebnis. Aber wenn ich mit dem richtigen Mindset alles erreichen kann, warum nehme ich mir dann nicht vor, die deutsche Joanne K. Rowling zu werden und meine Bücher millionenfach auf den großen Märkten zu verkaufen?
 
Elvira Zeißler: "Bücher "richtig" verkaufen: Das Mindset für deinen Bucherfolg", Tolino Media

Freitag, 11. April 2025

Längst überfällig: Die Winnie-Schäfer-Biographie

Edel Sports hat gerade einen Lauf, was Biographien angeht. Markus Babbel, Norbert Nachweih, Ailton, jetzt Winfried Schäfer - das waren und sind alles wunderbare, bereichernde Buchprojekte, die echte Lücken füllen. Und so ganz nebenbei hat der Verlag nach der Nachtweih-Biographie mit den nun erschienenen Erinnerungen von Schäfer für ein weiteres Häkchen auf meiner ganz persönlichen "Wieso gibt es von dem nicht schon längst ein Buch?"-Liste gesorgt.

Vorfreude war also reichlich im Gepäck, als ich mir "Wildpark, Scheichs und Voodoozauber" vornahm. Und die wurde beim Blick aufs Inhaltsverzeichnis sogar noch größer. Das Buch steigt nämlich gleich mit Schäfers wichtigster und längster Trainerstation beim Karlsruher SC (1986 bis 1998) ein. Also keine - in der Regel drögen - Einstiegskapitel über ferne Kindheitstage a la "Jeden Tag ging es gleich nach der Schule auf den Bolzplatz. Wir spielten mit Bällen aus Lumpen usw.". Zwar blickt Schäfer auch auf eine durchaus beeindruckende Karriere als Spieler zurück (u.a. mit einem Meistertitel sowie dem Gewinn des DFB-Pokals und des UEFA-Cups). Aber in erster Linie verbindet man - verbinde ich jedenfalls - mit ihm einen unverwechselbaren und erfolgreichen Trainer. Das Kapitel über die Spielerjahre gibt es natürlich, aber es kommt ganz am Ende des Buches. Das gibt Schäfer die Gelegenheit, quasi zum Ausklang nicht nur in sehr persönlicher Weise seines Ex-Coachs Hennes Weisweiler zu gedenken, sondern auch aus Trainersicht auf seine Zeiten als Spieler zurückzublicken. Sehr geschickt und sehr gut lesbar.

Gleichwohl erhielt meine Vorfreude schon nach wenigen Seiten des ersten Kapitels einen gehörigen Dämpfer. Gerade eben erst hatte Schäfer als Trainer mit dem KSC den Aufstieg in die Bundesliga geschafft, da ist auf einmal von Manfred Bender die Rede, der als Neuzugang vom FC Bayern das "Mia-san-mia"-Gen mitgebracht habe. Moment mal! Manni Bender? Der wechselte 1992 nach Baden. Da spielte der KSC unter Schäfer schon fünf Jahre in der ersten Liga! Und in denen ist einiges passiert. Kurz darauf geht es um Wolfgang Rolff und dessen Qualitäten als Sechser. Aber der Ex-Hamburger kam 1991 zum Verein. Hier hätte ich mir deutlich mehr Chronologie, Umfang und Detailfülle gewünscht, im Grunde einen Jahr-für-Jahr-Bericht. Denn wir reden, ich erwähnte es bereits, über Schäfers wichtigste, längste und prägendste Trainerstation überhaupt. Doch ausgerechnet das Kapitel über diese Jahre gerät zum schwächsten des Buches. Schäfer springt wild vor und zurück und berichtet über die Karlsruhe-Station mehr resümeeartig aus relativ großer Flughöhe und in einer Art Zeitraffer. Ein Michael Sternkopf beispielsweise wird im Buch gerade zweimal erwähnt - und dann auch noch irreführend, nämlich als einer der vielen KSC-Spieler, die in Schäfers Zeit den Sprung in die erste Mannschaft schafften, dann zum FC Bayern wechselten und dort "tragende Säulen des Starensembles" wurden. Nein, wurden sie nicht, jedenfalls nicht Michael Sternkopf. Zwar wechselte er 1990 in der Tat für die damalige Wahnsinnssumme von 3,4 Millionen DM nach München, hat dort aber unter dem Strich kein einziges überzeugendes Spiel gemacht. Er war einer der größten Fehleinkäufe der Münchner Anfang der 90er Jahre. Und hier hätte mich doch Schäfers Sicht interessiert: Wusste oder ahnte er, dass Sternkopf eine Sternschnuppe bleiben würde und eben kein künftiger Star war (und hat er sich über den Transfercoup ins Fäustchen gelacht) oder geht er eher davon aus, dass Sternkops Karriere durch den zu frühen Wechsel zu einem großen Klub ruiniert wurde? Wieso gelang es dem von ihm so geschätzten Jupp Heynckes nicht, Sternkopf in München in die Spur zu bringen? Stimmt es, dass Schäfer einen Anruf bekam, als Hoeneß und Heynckes - lange vor dem Transfer - zu einem konspirativen Treffen mit Sternkopf mit dem Zug nach Karlsruhe kamen und der ritterliche Heynckes im Bahnhof unbedingt noch einen Blumenstrauß für Mutter Sternkopf kaufen musste und dadurch aufflog? Und was ist mit all den anderen berichtenswerten Ereignissen aus Schäfers KSC-Zeit, die ja nun wirklich nicht auf das "Wunder vom Wildpark" reduziert werden darf? Wie genau verlief denn der Zweikampf zwischen Famulla und Kahn? Wie genau lotste Schäfer einen Wolfgang Rolff oder einen Icke Häßler zum KSC? Wie kommt man als badischer Provinzklub an einen Srećko Bogdan von Dynamo Zagreb? Wieso verließ Michael Harforth 1992 den Verein, obwohl er laut Schäfer doch so wichtig für die Mannschaft war?

Was Schäfer auch (bereits) in diesem Kapitel hingegen wunderbar gelingt, ist das Einfangen von Stimmungen, etwa wenn er beschreibt, wie er und KSC-Präsident Roland Schmider mit den Ehefrauen beim Essen sitzen, Schmider beiläufig sagt "Winnie, wir müssen bald mal über den nächsten Vertrag sprechen.“ und Schäfers Frau Angelika daraufhin mit Lippenstift eine Zahl auf einen Bierdeckel schreibt, Schmieder sich das ansieht und nur sagt "Deal! Mir gehe nemmer auseinander!“ Schäfer dazu: "Wir lachten und Rolands Frau Brigitte umarmte Angelika und sagte, sie wäre froh, wenn alles immer so bliebe." Diese Szenen lassen das spätere schmerzhafte Erodieren der Beziehung bis hin zum kompletten Bruch der Zusammenarbeit um so eindringlicher wirken. Sehr schön auch die Begegnung Schäfers mit seinem Nachfolger Jörg Berger: "Als sollte es der Demütigungen nicht genug sein, kommt er mir mit seinem Auto in dem Augenblick entgegen, als ich nach meiner Entlassung vom Hof fahren will. Ich sehe es noch genau vor mir, wie er mir durch die Frontscheibe zuwinkt." Auch hier hätte ich mir noch mehr Details gewünscht: Kannte Schäfer Berger? Wie war ihr Verhältnis vorher und nachher? Gab es ein Gesprächs anlässlich des Wechsels? Gab es eines, nachdem Berger beim KSC (recht schnell) ebenfalls gescheitert war?

Vielleicht war meine Vorfreude einfach zu groß, aber mit dem Karlsruhe-Kapitel wurde in meinen Augen eine Chance vertan. Interessanterweise gilt das für den Rest des Buches nicht. Die misslungenen Stationen beim VfB Stuttgart und bei TeBe Berlin, das schwierige Verhältnis zu VfB-Präsident Mayer-Vorfelder und dann die vielen Auslandsetappen - Kamerun, Dubai, Baku, Thailand, Jamaika, Teheran - mit all ihren jeweiligen Besonderheiten werden höchst lebendig und atmosphärisch rekapituliert und mittels herrlicher Anekdoten mit Leben gefüllt. Wenn Schäfer etwa berichtet, wie er mit Kameruns Nationalelf auf dem Weg zur WM 2002 in Japan unterwegs in Bangkok strandete, weil kein Geld für die nächste Tankfüllung mehr da war - und  Thailands Fußballverbandschef Worawi Makudi das Geld schließlich vorstreckte, genau jener Verbandschef, der Schäfer viele Jahre später als Nationaltrainer einstellen würde, dann ist das einfach nur großartige Unterhaltung. Bei seiner ersten Station in den Vereinigten Arabischen Emiraten, bei Al-Ahli Dubai, wohnte Schäfer mit Familie in einem vom Verein gestellten Bungalow. Schäfers Tochter suchte dort vergeblich nach einem Pool. Als Schäfer diese Anekdote beiläufig gegenüber dem schwerreichen Klubbesitzer Sultan Qasin erwähnte, schmunzelte der nur. Schäfer: "Eine Woche später stand ein Pool hinterm Haus." Wie im Märchen habe es sich angefühlt, aber genießen konnte Schäfers Tochter den Pool nicht allzu lange. Denn kurz darauf wurde ihr Vater entlassen. In den VAE traf Schäfer übrigens seinen alten Offenbacher Teamkollegen Josef Hickersberger wieder, der ebenfalls die Trainerlaufbahn eingeschlagen hatte und etliche Jahre im Nahen Osten verbrachte. Die Fußballwelt ist eben klein, was in Schäfers Buch - auch das eine Stärke - immer wieder daran deutlich wird, dass er irgendwann mal irgendwem begegnet war und dieser ihm dann Jahre später zu einem neuen Job verhalf.

Wie schon erwähnt, endet das Buch mit einer Liebeserklärung an Hennes Weisweiler und Erinnerungen an Schäfers Spielerzeit. Auch die war großartig und spannend - so gelang ihm 1970 ein Double ganz besonderer Art, nämlich in der gleichen Saison der Meistertitel mit Borussia Mönchengladbach und der DFB-Pokalsieg mit Kickers Offenbach. Wegen der WM in Mexiko in jenem Jahr war das Pokalfinale damals auf August verschoben worden. Etwas überrascht hat mich in diesem Kapitel Schäfers Einschätzung von Erfolgstrainer Udo Lattek: "Lattek verstand sein Handwerk wie kein Zweiter. Er war ein Fachmann, ein Denker. Nach seinem Tod würdigte ihn Weltmeistertrainer Joachim Löw zu Recht als einen der modernsten Trainer Europas, der den Fußball geprägt habe wie kaum ein anderer nach ihm." Das hatte ich so noch nicht gehört - auch die Würdigung Löws kannte ich nicht. Mein Bild war immer, dass Lattek zwar Spieler motivieren und auf ein Spiel einschwören konnte wie keiner vor ihm, methodisch-taktisch aber nicht unbedingt der große Guru war. Insofern war das eine interessante Einordnung, von deren Sorte es gern noch viel mehr hätten sein können.

Unter dem Strich steht ein hochspannendes, absolut lesenswertes Buch über einen Trainer, der erst die Bundesliga viele Jahre bereicherte und im Wortsinne bunter machte und dann im Ausland an vielen Orten seine Spuren hinterließ. Vielen Dank dafür, Winfried Schäfer, und alles Gute!
 
Winfried Schäfer mit Andreas Kötter und Sascha Schäfer: "Wildpark, Scheichs und Voodoozauber", Edel Sports

Mittwoch, 9. April 2025

Würdiges Alterswerk zweier Branchengrößen

Fußball und Politik - das war selten eine gute Kombination. Dafür muss man nicht ins Ausland und auf die jüngeren Fälle groß angelegten "Sportswashings" schauen. Die Geschichte der deutschen Nationalelf bietet bereits genügend Beispiele. Ob die unerträgliche Rede von DFB-Präsident Peco Bauwens nach dem WM-Triumph 1954 ("...und da haben die Jungens es wirklich gezeigt, was ein gesunder Deutscher, der treu zu seinem Land steht, zu leisten vermag..."), die unverhohlenen Sympathien seines Nach-Nachfolgers Hermann Neuberger für die argentinische Militärjunta  oder Franz Beckenbauers unsägliche Äußerungen zu den Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter im WM-Land Katar ("Also, ich hab noch keinen einzigen Sklaven gesehen. Die laufen alle frei rum. Die sind weder in Ketten gefesselt noch haben sie irgendwelche Büßerkappen auf dem Kopf.") - im Dienste der Nationalelf haben sich hiesige Funktionäre schon so einiges an politischen Peinlichkeiten und Schlimmerem geleistet. Ruft man sich dann noch in Erinnerung, dass seit Helmut Kohl noch jeder deutsche Kanzler mehr oder weniger - in der Regel weniger - subtil versucht hat, aus seiner vermeintlichen Nähe zum Fußball und zur Nationalelf politisches Kapital zu schlagen, ist es nur naheliegend, diesem Thema ein eigenes Buch zu widmen. Genau das haben Bernd-Michael Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling  mit "Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft" (edition einwurf) jetzt getan.

Ich habe mich sehr auf dieses Buch gefreut. Denn in der Welt der Fußballbücher ist die Kombination aus Bernd-Michael Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling so etwas wie - sagen wir mal - Franz Beckenbauer und Günter Netzer in einer Mannschaft. Beide haben die Branche wie nur wenige andere geprägt, Beyer insbesondere als langjähriger Geschäftsführer und Lektor des von ihm mitgegründeten Verlages Die Werkstatt sowie als Autor Maßstäbe setzender Biographien ("Helmut Schön"), Schulz-Marmeling als einer der Wegbereiter ernsthafter Fußballbücher und überaus produktiver Autor seither (u.a. "Der König und sein Spiel: Johan Cruyff und der Weltfußball").

Eingeteilt in meist dreizehn- bis fünfzehnjährige Zeitabschnitte widmen sich die Autoren streng chronologisch und mit gelegentlichen Exkursen der Entwicklung des Verhältnisses von Nationalelf und Politik zwischen 1908 und 2024, nehmen sich all die oben genannten Vorfälle und eine ganze Reihe weiterer vor, stellen Funktionäre und Trainer mit ihren politischen Bezügen und Umfeldern vor und gehen der Frage nach, ob Fußball "unpolitisch" sein oder ausdrücklich nicht sein sollte. Es ist eine stellenweise wütend machende Lektüre, vor allem, wenn es um die allzu enge Beziehung des Fußballs zum äußersten rechten Rand geht. Einerseits erfuhren NS-Verbrecher und SS-Schergen wie die einstige HSV-Legende Otto "Tull" Harder oder der Eintracht-Frankfurt-Kicker Rudolf Gramlich auch nach dem Krieg größte Achtung und Anerkennung und bekleideten - im Falle Gramlich - sogar über viele Jahre prominente Funktionärsämter. Andererseits wandt sich der von einstigen NSDAP-Mitgliedern geführte DFB wie ein Aal, als Ex-Bundestrainer Sepp Herberger 1971/72 vorschlug, den früheren jüdischen Nationalspieler Gottfried Fuchs, der vor den Nazis ins Ausland geflohen war, als Ehrengast zu einem Länderspiel einzuladen. Apropos Aal: Hermann Neuberger, den nach Einschätzung der Autoren nur die Gnade der späten Geburt vor einer NSDAP-Mitgliedschaft (und womöglich einer steilen NS-Karriere) bewahrte und der seinerseits fatale Sympathien für brutale Militärregimes - siehe Argentinien 1978 - hegte, war in meinen Augen immer das Musterbeispiel eines geradezu widerlich glatten Funktionärs und politischen Strippenziehers. Man nehme einmal ältere Interviews mit dem langjährigen DFB-Präsidenten im "Kicker" oder im "Fußball-Magazin" zur Hand und verfolge staunend, wie überaus routiniert und kühl Neuberger Fragesteller ins Leere laufen und jegliche Kritik gekonnt an sich abperlen lässt. In dieser Kunst konnte ihm keiner seiner vielen Nachfolger das Wasser reichen.

Aber zurück zum Buch: Es ist ein großes Vergnügen, sich mit der Thematik Politik & Nationalelf einmal komprimiert in einem Buch zu befassen. Allerdings muss man gleichzeitig einräumen, dass jene, die Beyers Bücher "Helmut Schön" oder "71/72: Die Saison der Träumer" (Besprechungen hier und hier) und dazu vielleicht noch Tobias Eschers "Die Weltmeister von Bern" gelesen haben, im Buch auf viel Bekanntes stoßen werden. Das ist auch wenig verwunderlich, hat Beyer den Fußball doch schon immer in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld betrachtet und Bezüge zu allen nur denkbaren Lebensbereichem hergestellt. Angenehm ins Auge fällt, dass den Autoren Schubladendenken und Pauschalierungen fremd sind. Es bereitet ihnen keine Mühe, beispielsweise Berti Vogts einerseits für peinliche Äußerungen im Zusammenhang mit der Folterung Oppositioneller in Argentinien 1978 zu kritisieren und gleichzeitig anzuerkennen, dass er sich später als Bundestrainer einer Vereinnahmung durch die "Bild"-Zeitung bis zum Schluss standhaft und erfolgreich widersetzte. Auch DFB-Präsident Theo Zwanziger erfährt eine durchaus differenzierende und entgegen der herrschenden Meinung in Teilen positive Betrachtung. 

Schade fand ich nur eins: Während die Autoren die vielfältigen unseligen Berührungen des Fußballs mit dem äußersten rechten Rand klar und schonungslos thematisieren, legen sie an anderer Stelle eine aufällige Zurückhaltung an den Tag und versäumen es so, ein wirklich vollständiges Bild zu zeichnen. Nationalspieler Antonio Rüdiger findet zwar im Zusammenhang mit seinem Gebetsfoto und der daran von Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt geübten Kritik mal kurz (und dann auch nur mit kritischem Blick auf die Vorurteile, denen Rüdiger deshalb begegnete) Erwähnung. Aber das Problem war nie, jedenfalls nicht in meinen Augen, dass sich Rüdiger in einer schlimmstenfalls missverständlichen Pose fotografieren lässt und sich ein rechter Revolverjournalist daran stört. Das Problem war und ist ein ganz anderes, wie der rechter Sympathien gänzlich unverdächtige Journalist Christoph Ruf in seinem Buch "Es reicht!" (Besprechung hier) deutlich gemacht hat: Nachdem der französische Staatspräsident Macron angesichts eines erneuten islamistischen Mords in Paris (es ging mal wieder um Karikaturen) die Pressefreiheit verteidigte, "likte" Rüdiger einen Beitrag, der einen Foto mit einem Stiefelabdruck über Macrons Gesicht zeigte. Und, mehr noch: Vom DFB ließ sich Rüdiger anschließend eine aalglatte - und da sind wir wieder beim obigen Thema - Entschuldigungs-Pressemitteilung drechseln, die ein ausdrückliches Bekenntnis gegen islamistischen Terror sorgfältig vermied. Wenn ich aber der Meinung bin, dass junge und größtenteils unbedarfte Nationalspieler 1978 in Argentinien jene Haltung hätten zeigen sollen, die sowohl die Politik als auch die Funktionäre vermissen ließen, dann kann ich der heutigen, weitaus reflektierteren und medienerfahreneren Spielergeneration Derartiges eigentlich nicht durchgehen lassen.

Aber um diese Diskussion zu führen, muss man sich mit dem Thema eben erst einmal beschäftigen - und dafür eignet sich ""Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft." bestens. Kaufen!

Dietrich Schulze-Marmeling/Bernd M. Beyer: "Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft", edition einwurf

Montag, 7. April 2025

Ein Schmankerl für Bayern-Fans

 

Ich war immer ein großer Anhänger von Raimund Hinko - und meine Erinnerung an seine Zeit als "Sport-Bild"-Bayern-Reporter wird nicht zuletzt deshalb immer schöner, weil ich mit seinem allzu selbstgefälligen Nachfolger Christian Falk bekanntermaßen so gar nichts anfangen kann (siehe Buchbesprechungen hier und hier und hier). 
 
Hinko hatte, und das ist in meinen Augen schon die halbe Miete in diesem Geschäft, zum einen etwas Unverwechselbares in seiner Art zu berichten und zu schreiben. Ab Anfang der 90er war er als "Sport-Bild"-Chefreporter - zuvor hatte er schon jahrelang für die Münchner "Bild"-Ausgabe über den FC Bayern berichtet - mehr als ein Jahrzehnt der vertraute Begleiter des Rekordmeisters: Hinko im Interview mit Uli Hoeneß, Hinko im Gespräch mit Jupp Heynckes, Hinko im Plausch mit Sören Lerby - und natürlich wieder und wieder mit Lothar Matthäus, mit dem ihn ein besonders enges Verhältnis verband. Dank der Angewohnheit des Magazins, Fotos der jeweiligen Interview- oder Besuchssituation zu drucken, wurde Hinko eine Art alter Bekannter, der mir fast Woche für Woche aus der "Sport-Bild" entgegenblickte. Dabei schien er immer ein wenig gebückt zu stehen, so, als wolle er seinen jeweiligen Gesprächspartner keineswegs überragen, ihm nicht die Show stehlen, sich auf keinen Fall in den Vordergrund drängen. Ja, er wollte die anderen gut aussehen lassen, nicht in erster Linie sich selbst. Und er hat sich in dem hochkomplexen Spannungsfeld aus wohl unvermeidbarer Kumpanei eines "eingebetteten" Journalisten mit guten Kontakten einerseits und gebotener Kritik (über Sören Lerbys Trainerzeit konnte man irgendwann nicht mehr positiv berichten) und unvermeidbarer Ehrlichkeit (als Gerd Müllers Alkoholprobleme publik wurden, musste auch die "Sport-Bild" auf den Zug aufspringen und Hinko, der es im Zweifel länger wusste als die meisten anderen, darüber schreiben) andererseits alles in allem ganz gut bewegt. 
 
Mich wundert übrigens bis heute, dass noch kein Verlag an Hinko herangetreten ist, um ihn um seine Memoiren zu bitten. Immerhin ist er inzwischen im Rentenalter und hat vielleicht schon bald keine Lust mehr, sich die Mühe zu machen, ein Buch zu schreiben. Es wäre schade, wenn sein großes Wissen über die Bayern und seine Erinnerungen an die Arbeit bei der damals noch jungen "Sport-Bild" (kam 1988 auf den Markt) in den frühen 90er Jahren, also lange vor Internet und Social Media, verloren gingen. Ein derartiges Buchprojekt hätte auch kommerziell gute Aussichten.

Wieso ich das alles erzähle? Weil Hinko zum kürzlich von der "Sport-Bild"-Redaktion herausgegebenen und bei Delius Klasing erschienen Jubiläumsband "125 Jahre Bayern München" als Autor beigetragen hat. Und allein das ist ein Grund, mal in dieses 224-Seiten-Werk hineinzuschauen. Für Fans der Münchner ist das Buch ein herrlicher Leckerbissen aus Zahlen, Fakten, Anekdoten, Erinnerungen und schönen Fotos. Und, ja, wer sich für eine solche bunte Geburtstagsgabe entscheidet, erwartet und bekommt natürlich keine kritische Analyse des unaufhaltsamen Aufstiegs der Bayern a la Hans Wollner. Nein, es ist ein Wohlfühlbuch, und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Ausführlich wird Saison für Saison betrachtet und bebildert und die Stimmung eines jeden Jahres alles in allem gut eingefangen. Abgerundet wird das Ganze durch ein paar Extrabeiträge, etwa von Raimund Hinko zum legendären Mia-san-mia-Gefühl der Bayern. Neben Hinko haben weitere Bayern-Kenner aus dem Hause Springer mitgewirkt, zum Beispiel Falk oder Tobias Altschäffl. Und das Ergebnis ist solide Unterhaltung. Sicher, dramatische Neuigkeiten wird es für eingefleischte Bayern-Fans nicht geben. Und nicht alles ist hundertprozentig genau recherchiert - so wurde zum Beispiel Toni Schumacher keineswegs vor der Saison 1991/92 neben Berthold, Wouters und Kreuzer sowie den Brasilianern Mazinho und Bernardo [gezielt] als "namhafter Spieler" und Verstärkung verpflichtet. Er arbeitete vielmehr bereits als Torwarttrainer bei den Bayern und wurde im Oktober 1991 in höchster Not reaktiviert, nachdem mehrere Bayern-Keeper verletzt ausfielen. Und auch Jan Wouters kam nach meiner Erinnerung erst im Saisonverlauf. Aber das sind letztlich Kleinigkeiten. Unter dem Strich steht ein schönes, unterhaltsames Buch zum Blättern, ein Buch, das dazu einlädt, sich mit einer riesigen Tasse Kakao aufs Sofa zu setzen und in alten Erinnerungen zu schwelgen.

Matthias Brügelmann (Hrsg.): "125 Jahre Bayern München", Delius Klasing

Samstag, 22. März 2025

Leichte Aufwärtstendenz: "11Freunde" feiert Jubiläum


Philipp Köster hat es weit gebracht. Vom jugendlichen "Kicker"-Leserbriefschreiber in den 80er Jahren über den idealistischen Fanzine-Macher in den 90ern (damals lief das noch mit Schere, Pritt-Stift und Kopierer) zum Gründer, Miteigentümer und Chefredakteur des mit Abstand besten Fußball-Magazins des Landes. "11Freunde" feiert inzwischen seinen 25. Geburtstag. Und nach so langer Zeit im Geschäft kann man Köster natürlich nichts mehr vormachen. In der anlässlich des Jubiläums vor einigen Tagen erschienenen Spezial-Ausgabe nimmt er sich eines seiner Lieblingsthemen vor, die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs und die immer größer werdende Kluft zwischen den ganz großen und den kleineren Klubs. "Der VfL Bochum", analysiert Köster bitter, "hat anders als früher in München keine Chance mehr auf einen Sieg." Wie das Leben so spielt: Während dieses Spezial-Heft in der Druckerei gerade auf LKWs verladen wurde, gastierte der  VfL Bochum mal wieder beim FC Bayern und *hust* gewann mit 3:2

Ich gebe es zu: Das ist ein billiger Punkt, denn nichts von dem, was Köster in seiner Analyse schreibt, wird dadurch falsch. Und eigentlich will ich hier ja das Jubiläumsheft vorstellen. Nachdem ich mit dem dicken "11Freunde"-Buch zum 20. Geburtstag nicht so ganz glücklich wurde (siehe hier), schafft das Heft eine etwas höhere Punktzahl, wenngleich ich mir auch hier beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis mehr versprochen hatte. Immerhin: Die Rubrik "Alles mal Paroli laufen lassen" bietet in fünf Teilen "Schnurren, Anekdoten und Redaktionsinterna", also Geschichten aus dem Alltag der "11Freunde"-Macher. Und auch wenn man die eine oder andere Story schon mal irgendwo gelesen hat, zeichnet dieses Serie ein schönes Bild vom durchaus steinigen Weg, den das Magazin in den 25 Jahren absolvieren musste, ehe es im Fußball-Geschäft akzeptiert wurde. Christoph Daum etwa, immerhin späterer Kolumnist des Heftes, drohte 2008 gleich bei der ersten (völlig harmlosen) Frage des Redakteurs aggressiv mit einem sofortigen Abbruch des Interviews. In so einer Situation seinen Stolz zu schlucken und nicht einfach aufzustehen und "Okay, Herr Daum, dann lassen wir das eben. Schönen Tag noch!" zu sagen, ist vermutlich gar nicht so einfach. Jedenfalls sind allein diese Seiten den Kauf des Heftes wert.

Sehr viel erwartet hatte ich vom Interview mit Ex-Bayern-Pressesprecher Markus Hörwick. Und obwohl es hier und da wirklich interessante Einblicke gibt, etwa zur Nike-Shirt-Posse Mario Götzes, war ich nach dem Lesen unzufrieden, weil mir vieles zu vage, zu allgemein blieb. Was auch deshalb schade ist, weil ich insgeheim immer gehofft habe, dass es von Hörwick mal ein dickes Buch über seine Bayern-Zeit geben wird. Hans Meyer kehrt für die Jubiläumsausgabe als Kolumnist mit "Gehen Sie davon aus" zurück, kann aber an seine frühere Form so gar nicht anknüpfen. Vielleicht ist seine Zeit einfach genauso vorbei wie die von Günter Hetzer. Nicht vorwerfen kann man den Magazin-Machern, dass sie Fan-Themen eine Menge Platz einräumen, etwa den "Wir gründen einen eigenen Verein"-Projekten in Wimbledon, Salzburg und Manchester oder Projekten gegen Rassismus und Sexismus im Stadion. Zwar wurden all diese Themen in der Vergangenheit schon hinreichend gemolken, sind aber nun mal Teil der "11Freunde"-DNA. Da muss man dann als Leser durch. Interessanter für mich sind da schon die Texte über Abramowitsch, Infantino und Neu-Bulle Jürgen Klopp. Unter dem Strich bleibt ein kaufens- und lesenswertes Heft, besser als das Buch vor fünf Jahren, aber auch keine 10 Punkte. Die werden es dann ja vielleicht zum 30. Geburtstag in fünf Jahren.

11Freunde Spezial: 2000 - 2025. 25 Jahre Fußball-Kultur, 25 Jahre 11Freunde

Montag, 17. März 2025

Erinnerungen mit erstaunlichen Schwächen

(KM) Johan Cruyffs Biographie "Mein Spiel", heißt es im Vorwort des Verlags bescheiden, sei "eines der klügsten Bücher, das in den letzten Jahrzehnten über den Fußball geschrieben wurde". Wer so forsch einsteigt, sollte besser halten, was er verspricht. "Mein Spiel" schafft das allerdings nur stellenweise. Aber der Reihe nach. Die Erinnerungen Johan Cruyffs lungerten schon etliche Jahre in meinem Bücherregal herum. Warum sie es bisher nicht auf meinen "Demnächst mal lesen"-Stapel geschafft hatten, kann ich gar nicht sagen. Aber vor kurzem bin ich über Andy Bollens Buch "Fierce Genius: Cruyff's Year at Feyenoord" gestolpert - Besprechung demnächst - und dachte dann: Wenn schon Cruyff, dann erstmal seine Autobiographie.
 
Die Karriere des leider schon verstorbenen Weltstars würde selbst dann genügend Stoff für ein Buch liefern, wenn man sich für den ganzen fußballtheoretischen Teil und den Einfluss des Holländers auf Taktik und Entwicklung des Spiels seit 1990 weniger interessiert: Spieler in Amsterdam und Barcelona, Vizeweltmeister 1974, einige Jahre in der NASL, Karriereausklang in Rotterdam, dann spektakuläre Trainerstationen wiederum in Amsterdam und Barcelona - da sollte so einiges zu erzählen sein.

Und Cruyff liefert durchaus, aber wenn das Buch ein Aktienkurs wäre, würden wir eine extreme Zickzack-Kurve sehen. Es gibt hochspannende, hochinformative Passagen und Inneneinsichten, etwa zur Spätphase von Cruyffs erster Amsterdam-Station und der erodierenden Beziehung zu Trainer und Mitspielern oder zu seiner zweiten Zeit bei Ajax (1981 - 1983) oder auch zu seinen Trainerjahren in Barcelona und der schwierigen, stets von (absolut berechtigtem) Misstrauen geprägten Zusammenarbeit mit dem erratischen Präsidenten Josep Lluís Núñez. Und dann gibt es aber immer wieder Passagen, die seltsam blutarm, steril, allgemein und/oder verschwurbelt daherkommen, etwa zur WM 1974 oder zu Ajax' System der "limitierten Ablösesummen". Da heißt es über den Transfer van Bastens zum AC Mailand: "Denn schon bald zeigten sich die Probleme, die sich aus dieser Regelung ergaben. Sie offenbarten sich, als der AC Mailand von dem italienischen Milliardär Silvio Berlusconi übernommen wurde und sich mit viel Geld ausgestattet auf den Transfermarkt begab. Durch die Politik der limitierten Transfersummen blieb es Ajax leider verwehrt, davon zu profitieren – im Gegensatz zum großen Konkurrenten PSV Eindhoven. Dieser erzielte für Ruud Gullit die zehnfache Summe dessen, was Ajax für Marco van Basten vom AC Mailand bekommen hatte." Was genau das bedeutet und wieso Ajax bei einem Transfer eines Superstars ins Ausland - wohlgemerkt vor dem Bosman-Urteil, d.h. Ablöse gab es selbst bei ausgelaufenen Verträgen - nicht in der Lage war, einen regulären Marktpreis zu erzielen, bleibt völlig unklar.

Zu diesen Schwurbeleien kommt dann noch eine allzu blauäugige Beweihräucherung des Profiports in Amerika, Halbwissen über den Baseball-Manager Billy Beane von den Oakland Athletics und (in meinen Augen) blanker Unsinn über das NASL-Vertrags- und Transfersystem: Es stimmt schlichtweg nicht, dass Spieler seinerzeit - wie Cruyff zur Begründung seines Wechsels von den Los Angeles Aztecs zu den Washington Diplomats ausführt - Verträge mit der NASL und nicht den Vereinen schlossen und "es einem als Spieler passieren [konnte], dass man kurzfristig darüber informiert wurde, an einen anderen Club verkauft worden zu sein und sich innerhalb von achtundvierzig Stunden Tausende Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten einzufinden [hatte]. Man musste das nächste Flugzeug nehmen – ganz gleich, wer man war." Franz Beckenbauer hat seinen Vertrag mit Cosmos New York gemacht und dafür mit dessen Generalmanager Clive Toye verhandelt, Gerd Müller schloss seinen Vertrag mit den Fort Lauderdale Strikers und verhandelte mit deren Eigentümer(gattin) Elizabeth Robbie - und die Vorstellung, dass einer der beiden alternen Superstars von heute auf morgen ins staubige Tulsa oder ins bitterkalte Minnesota hätte wechseln müssen, wenn es dem Verband und den Vereinen so gepasst hätte, ist aberwitzig. Zudem galt es gerade als eine der großen Schwächen der NASL, die die in den 90er Jahren neu gegründete MLS unbedingt vermeiden wollte, keine zentralen Steuerungsmöglichkeien zu haben. Und dass, wie Cruyff wiederholt nahelegt, die NASL-Klubs Musterbeispiele für professionelle Vereinsführung waren, darf angesichts der chaotischen Zeit dieser Rock'n-Roll-Liga und der zahlreichen kurzlebigen Franchises ebenfalls getrost bestritten werden. Im Übrigen: Hier wird Cruyffs Wechsel von Kalifornien nach Washington ebenfalls gänzlich anders dargestellt als von ihm selbst.
 
Der gelungenen Kapitel sind es alles in allem zwar trotzdem genug, um das Buch zu einer lohnenden Lektüre zu machen. Am spannendsten für mich war der Teil über Cruyffs spätere Funktionärszeit bei Ajax Amsterdam und die fast schon thrillerartige Beschreibung der dortigen Ränkespiele und Intrigen. Und auch Cruyffs Gedanken über Sinn und Zukunft des Fußballs sind lesenswert. Eines "der klügsten Fußballbücher" ist es in meinen Augen jedoch trotzdem nicht.

Johan Cruyff: "Mein Spiel", Droemer Verlag