Freitag, 11. April 2025

Längst überfällig: Die Winnie-Schäfer-Biographie

Edel Sports hat gerade einen Lauf, was Biographien angeht. Markus Babbel, Norbert Nachweih, Ailton, jetzt Winfried Schäfer - das waren und sind alles wunderbare, bereichernde Buchprojekte, die echte Lücken füllen. Und so ganz nebenbei hat der Verlag nach der Nachtweih-Biographie mit den nun erschienenen Erinnerungen von Schäfer für ein weiteres Häkchen auf meiner ganz persönlichen "Wieso gibt es von dem nicht schon längst ein Buch?"-Liste gesorgt.

Vorfreude war also reichlich im Gepäck, als ich mir "Wildpark, Scheichs und Voodoozauber" vornahm. Und die wurde beim Blick aufs Inhaltsverzeichnis sogar noch größer. Das Buch steigt nämlich gleich mit Schäfers wichtigster und längster Trainerstation beim Karlsruher SC (1986 bis 1998) ein. Also keine - in der Regel drögen - Einstiegskapitel über ferne Kindheitstage a la "Jeden Tag ging es gleich nach der Schule auf den Bolzplatz. Wir spielten mit Bällen aus Lumpen usw.". Zwar blickt Schäfer auch auf eine durchaus beeindruckende Karriere als Spieler zurück (u.a. mit einem Meistertitel sowie dem Gewinn des DFB-Pokals und des UEFA-Cups). Aber in erster Linie verbindet man - verbinde ich jedenfalls - mit ihm einen unverwechselbaren und erfolgreichen Trainer. Das Kapitel über die Spielerjahre gibt es natürlich, aber es kommt ganz am Ende des Buches. Das gibt Schäfer die Gelegenheit, quasi zum Ausklang nicht nur in sehr persönlicher Weise seines Ex-Coachs Hennes Weisweiler zu gedenken, sondern auch aus Trainersicht auf seine Zeiten als Spieler zurückzublicken. Sehr geschickt und sehr gut lesbar.

Gleichwohl erhielt meine Vorfreude schon nach wenigen Seiten des ersten Kapitels einen gehörigen Dämpfer. Gerade eben erst hatte Schäfer als Trainer mit dem KSC den Aufstieg in die Bundesliga geschafft, da ist auf einmal von Manfred Bender die Rede, der als Neuzugang vom FC Bayern das "Mia-san-mia"-Gen mitgebracht habe. Moment mal! Manni Bender? Der wechselte 1992 nach Baden. Da spielte der KSC unter Schäfer schon fünf Jahre in der ersten Liga! Und in denen ist einiges passiert. Kurz darauf geht es um Wolfgang Rolff und dessen Qualitäten als Sechser. Aber der Ex-Hamburger kam 1991 zum Verein. Hier hätte ich mir deutlich mehr Chronologie, Umfang und Detailfülle gewünscht, im Grunde einen Jahr-für-Jahr-Bericht. Denn wir reden, ich erwähnte es bereits, über Schäfers wichtigste, längste und prägendste Trainerstation überhaupt. Doch ausgerechnet das Kapitel über diese Jahre gerät zum schwächsten des Buches. Schäfer springt wild vor und zurück und berichtet über die Karlsruhe-Station mehr resümeeartig aus relativ großer Flughöhe und in einer Art Zeitraffer. Ein Michael Sternkopf beispielsweise wird im Buch gerade zweimal erwähnt - und dann auch noch irreführend, nämlich als einer der vielen KSC-Spieler, die in Schäfers Zeit den Sprung in die erste Mannschaft schafften, dann zum FC Bayern wechselten und dort "tragende Säulen des Starensembles" wurden. Nein, wurden sie nicht, jedenfalls nicht Michael Sternkopf. Zwar wechselte er 1990 in der Tat für die damalige Wahnsinnssumme von 3,4 Millionen DM nach München, hat dort aber unter dem Strich kein einziges überzeugendes Spiel gemacht. Er war einer der größten Fehleinkäufe der Münchner Anfang der 90er Jahre. Und hier hätte mich doch Schäfers Sicht interessiert: Wusste oder ahnte er, dass Sternkopf eine Sternschnuppe bleiben würde und eben kein künftiger Star war (und hat er sich über den Transfercoup ins Fäustchen gelacht) oder geht er eher davon aus, dass Sternkops Karriere durch den zu frühen Wechsel zu einem großen Klub ruiniert wurde? Wieso gelang es dem von ihm so geschätzten Jupp Heynckes nicht, Sternkopf in München in die Spur zu bringen? Stimmt es, dass Schäfer einen Anruf bekam, als Hoeneß und Heynckes - lange vor dem Transfer - zu einem konspirativen Treffen mit Sternkopf mit dem Zug nach Karlsruhe kamen und der ritterliche Heynckes im Bahnhof unbedingt noch einen Blumenstrauß für Mutter Sternkopf kaufen musste und dadurch aufflog? Und was ist mit all den anderen berichtenswerten Ereignissen aus Schäfers KSC-Zeit, die ja nun wirklich nicht auf das "Wunder vom Wildpark" reduziert werden darf? Wie genau verlief denn der Zweikampf zwischen Famulla und Kahn? Wie genau lotste Schäfer einen Wolfgang Rolff oder einen Icke Häßler zum KSC? Wie kommt man als badischer Provinzklub an einen Srećko Bogdan von Dynamo Zagreb? Wieso verließ Michael Harforth 1992 den Verein, obwohl er laut Schäfer doch so wichtig für die Mannschaft war?

Was Schäfer auch (bereits) in diesem Kapitel hingegen wunderbar gelingt, ist das Einfangen von Stimmungen, etwa wenn er beschreibt, wie er und KSC-Präsident Roland Schmider mit den Ehefrauen beim Essen sitzen, Schmider beiläufig sagt "Winnie, wir müssen bald mal über den nächsten Vertrag sprechen.“ und Schäfers Frau Angelika daraufhin mit Lippenstift eine Zahl auf einen Bierdeckel schreibt, Schmieder sich das ansieht und nur sagt "Deal! Mir gehe nemmer auseinander!“ Schäfer dazu: "Wir lachten und Rolands Frau Brigitte umarmte Angelika und sagte, sie wäre froh, wenn alles immer so bliebe." Diese Szenen lassen das spätere schmerzhafte Erodieren der Beziehung bis hin zum kompletten Bruch der Zusammenarbeit um so eindringlicher wirken. Sehr schön auch die Begegnung Schäfers mit seinem Nachfolger Jörg Berger: "Als sollte es der Demütigungen nicht genug sein, kommt er mir mit seinem Auto in dem Augenblick entgegen, als ich nach meiner Entlassung vom Hof fahren will. Ich sehe es noch genau vor mir, wie er mir durch die Frontscheibe zuwinkt." Auch hier hätte ich mir noch mehr Details gewünscht: Kannte Schäfer Berger? Wie war ihr Verhältnis vorher und nachher? Gab es ein Gesprächs anlässlich des Wechsels? Gab es eines, nachdem Berger beim KSC (recht schnell) ebenfalls gescheitert war?

Vielleicht war meine Vorfreude einfach zu groß, aber mit dem Karlsruhe-Kapitel wurde in meinen Augen eine Chance vertan. Interessanterweise gilt das für den Rest des Buches nicht. Die misslungenen Stationen beim VfB Stuttgart und bei TeBe Berlin, das schwierige Verhältnis zu VfB-Präsident Mayer-Vorfelder und dann die vielen Auslandsetappen - Kamerun, Dubai, Baku, Thailand, Jamaika, Teheran - mit all ihren jeweiligen Besonderheiten werden höchst lebendig und atmosphärisch rekapituliert und mittels herrlicher Anekdoten mit Leben gefüllt. Wenn Schäfer etwa berichtet, wie er mit Kameruns Nationalelf auf dem Weg zur WM 2002 in Japan unterwegs in Bangkok strandete, weil kein Geld für die nächste Tankfüllung mehr da war - und  Thailands Fußballverbandschef Worawi Makudi das Geld schließlich vorstreckte, genau jener Verbandschef, der Schäfer viele Jahre später als Nationaltrainer einstellen würde, dann ist das einfach nur großartige Unterhaltung. Bei seiner ersten Station in den Vereinigten Arabischen Emiraten, bei Al-Ahli Dubai, wohnte Schäfer mit Familie in einem vom Verein gestellten Bungalow. Schäfers Tochter suchte dort vergeblich nach einem Pool. Als Schäfer diese Anekdote beiläufig gegenüber dem schwerreichen Klubbesitzer Sultan Qasin erwähnte, schmunzelte der nur. Schäfer: "Eine Woche später stand ein Pool hinterm Haus." Wie im Märchen habe es sich angefühlt, aber genießen konnte Schäfers Tochter den Pool nicht allzu lange. Denn kurz darauf wurde ihr Vater entlassen. In den VAE traf Schäfer übrigens seinen alten Offenbacher Teamkollegen Josef Hickersberger wieder, der ebenfalls die Trainerlaufbahn eingeschlagen hatte und etliche Jahre im Nahen Osten verbrachte. Die Fußballwelt ist eben klein, was in Schäfers Buch - auch das eine Stärke - immer wieder daran deutlich wird, dass er irgendwann mal irgendwem begegnet war und dieser ihm dann Jahre später zu einem neuen Job verhalf.

Wie schon erwähnt, endet das Buch mit einer Liebeserklärung an Hennes Weisweiler und Erinnerungen an Schäfers Spielerzeit. Auch die war großartig und spannend - so gelang ihm 1970 ein Double ganz besonderer Art, nämlich in der gleichen Saison der Meistertitel mit Borussia Mönchengladbach und der DFB-Pokalsieg mit Kickers Offenbach. Wegen der WM in Mexiko in jenem Jahr war das Pokalfinale damals auf August verschoben worden. Etwas überrascht hat mich in diesem Kapitel Schäfers Einschätzung von Erfolgstrainer Udo Lattek: "Lattek verstand sein Handwerk wie kein Zweiter. Er war ein Fachmann, ein Denker. Nach seinem Tod würdigte ihn Weltmeistertrainer Joachim Löw zu Recht als einen der modernsten Trainer Europas, der den Fußball geprägt habe wie kaum ein anderer nach ihm." Das hatte ich so noch nicht gehört - auch die Würdigung Löws kannte ich nicht. Mein Bild war immer, dass Lattek zwar Spieler motivieren und auf ein Spiel einschwören konnte wie keiner vor ihm, methodisch-taktisch aber nicht unbedingt der große Guru war. Insofern war das eine interessante Einordnung, von deren Sorte es gern noch viel mehr hätten sein können.

Unter dem Strich steht ein hochspannendes, absolut lesenswertes Buch über einen Trainer, der erst die Bundesliga viele Jahre bereicherte und im Wortsinne bunter machte und dann im Ausland an vielen Orten seine Spuren hinterließ. Vielen Dank dafür, Winfried Schäfer, und alles Gute!
 
Winfried Schäfer mit Andreas Kötter und Sascha Schäfer: "Wildpark, Scheichs und Voodoozauber", Edel Sports

Mittwoch, 9. April 2025

Würdiges Alterswerk zweier Branchengrößen

Fußball und Politik - das war selten eine gute Kombination. Dafür muss man nicht ins Ausland und auf die jüngeren Fälle groß angelegten "Sportswashings" schauen. Die Geschichte der deutschen Nationalelf bietet bereits genügend Beispiele. Ob die unerträgliche Rede von DFB-Präsident Peco Bauwens nach dem WM-Triumph 1954 ("...und da haben die Jungens es wirklich gezeigt, was ein gesunder Deutscher, der treu zu seinem Land steht, zu leisten vermag..."), die unverhohlenen Sympathien seines Nach-Nachfolgers Hermann Neuberger für die argentinische Militärjunta  oder Franz Beckenbauers unsägliche Äußerungen zu den Arbeitsbedingungen der Gastarbeiter im WM-Land Katar ("Also, ich hab noch keinen einzigen Sklaven gesehen. Die laufen alle frei rum. Die sind weder in Ketten gefesselt noch haben sie irgendwelche Büßerkappen auf dem Kopf.") - im Dienste der Nationalelf haben sich hiesige Funktionäre schon so einiges an politischen Peinlichkeiten und Schlimmerem geleistet. Ruft man sich dann noch in Erinnerung, dass seit Helmut Kohl noch jeder deutsche Kanzler mehr oder weniger - in der Regel weniger - subtil versucht hat, aus seiner vermeintlichen Nähe zum Fußball und zur Nationalelf politisches Kapital zu schlagen, ist es nur naheliegend, diesem Thema ein eigenes Buch zu widmen. Genau das haben Bernd-Michael Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling  mit "Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft" (edition einwurf) jetzt getan.

Ich habe mich sehr auf dieses Buch gefreut. Denn in der Welt der Fußballbücher ist die Kombination aus Bernd-Michael Beyer und Dietrich Schulze-Marmeling so etwas wie - sagen wir mal - Franz Beckenbauer und Günter Netzer in einer Mannschaft. Beide haben die Branche wie nur wenige andere geprägt, Beyer insbesondere als langjähriger Geschäftsführer und Lektor des von ihm mitgegründeten Verlages Die Werkstatt sowie als Autor Maßstäbe setzender Biographien ("Helmut Schön"), Schulz-Marmeling als einer der Wegbereiter ernsthafter Fußballbücher und überaus produktiver Autor seither (u.a. "Der König und sein Spiel: Johan Cruyff und der Weltfußball").

Eingeteilt in meist dreizehn- bis fünfzehnjährige Zeitabschnitte widmen sich die Autoren streng chronologisch und mit gelegentlichen Exkursen der Entwicklung des Verhältnisses von Nationalelf und Politik zwischen 1908 und 2024, nehmen sich all die oben genannten Vorfälle und eine ganze Reihe weiterer vor, stellen Funktionäre und Trainer mit ihren politischen Bezügen und Umfeldern vor und gehen der Frage nach, ob Fußball "unpolitisch" sein oder ausdrücklich nicht sein sollte. Es ist eine stellenweise wütend machende Lektüre, vor allem, wenn es um die allzu enge Beziehung des Fußballs zum äußersten rechten Rand geht. Einerseits erfuhren NS-Verbrecher und SS-Schergen wie die einstige HSV-Legende Otto "Tull" Harder oder der Eintracht-Frankfurt-Kicker Rudolf Gramlich auch nach dem Krieg größte Achtung und Anerkennung und bekleideten - im Falle Gramlich - sogar über viele Jahre prominente Funktionärsämter. Andererseits wandt sich der von einstigen NSDAP-Mitgliedern geführte DFB wie ein Aal, als Ex-Bundestrainer Sepp Herberger 1971/72 vorschlug, den früheren jüdischen Nationalspieler Gottfried Fuchs, der vor den Nazis ins Ausland geflohen war, als Ehrengast zu einem Länderspiel einzuladen. Apropos Aal: Hermann Neuberger, den nach Einschätzung der Autoren nur die Gnade der späten Geburt vor einer NSDAP-Mitgliedschaft (und womöglich einer steilen NS-Karriere) bewahrte und der seinerseits fatale Sympathien für brutale Militärregimes - siehe Argentinien 1978 - hegte, war in meinen Augen immer das Musterbeispiel eines geradezu widerlich glatten Funktionärs und politischen Strippenziehers. Man nehme einmal ältere Interviews mit dem langjährigen DFB-Präsidenten im "Kicker" oder im "Fußball-Magazin" zur Hand und verfolge staunend, wie überaus routiniert und kühl Neuberger Fragesteller ins Leere laufen und jegliche Kritik gekonnt an sich abperlen lässt. In dieser Kunst konnte ihm keiner seiner vielen Nachfolger das Wasser reichen.

Aber zurück zum Buch: Es ist ein großes Vergnügen, sich mit der Thematik Politik & Nationalelf einmal komprimiert in einem Buch zu befassen. Allerdings muss man gleichzeitig einräumen, dass jene, die Beyers Bücher "Helmut Schön" oder "71/72: Die Saison der Träumer" (Besprechungen hier und hier) und dazu vielleicht noch Tobias Eschers "Die Weltmeister von Bern" gelesen haben, im Buch auf viel Bekanntes stoßen werden. Das ist auch wenig verwunderlich, hat Beyer den Fußball doch schon immer in seinem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld betrachtet und Bezüge zu allen nur denkbaren Lebensbereichem hergestellt. Angenehm ins Auge fällt, dass den Autoren Schubladendenken und Pauschalierungen fremd sind. Es bereitet ihnen keine Mühe, beispielsweise Berti Vogts einerseits für peinliche Äußerungen im Zusammenhang mit der Folterung Oppositioneller in Argentinien 1978 zu kritisieren und gleichzeitig anzuerkennen, dass er sich später als Bundestrainer einer Vereinnahmung durch die "Bild"-Zeitung bis zum Schluss standhaft und erfolgreich widersetzte. Auch DFB-Präsident Theo Zwanziger erfährt eine durchaus differenzierende und entgegen der herrschenden Meinung in Teilen positive Betrachtung. 

Schade fand ich nur eins: Während die Autoren die vielfältigen unseligen Berührungen des Fußballs mit dem äußersten rechten Rand klar und schonungslos thematisieren, legen sie an anderer Stelle eine aufällige Zurückhaltung an den Tag und versäumen es so, ein wirklich vollständiges Bild zu zeichnen. Nationalspieler Antonio Rüdiger findet zwar im Zusammenhang mit seinem Gebetsfoto und der daran von Ex-"Bild"-Chef Julian Reichelt geübten Kritik mal kurz (und dann auch nur mit kritischem Blick auf die Vorurteile, denen Rüdiger deshalb begegnete) Erwähnung. Aber das Problem war nie, jedenfalls nicht in meinen Augen, dass sich Rüdiger in einer schlimmstenfalls missverständlichen Pose fotografieren lässt und sich ein rechter Revolverjournalist daran stört. Das Problem war und ist ein ganz anderes, wie der rechter Sympathien gänzlich unverdächtige Journalist Christoph Ruf in seinem Buch "Es reicht!" (Besprechung hier) deutlich gemacht hat: Nachdem der französische Staatspräsident Macron angesichts eines erneuten islamistischen Mords in Paris (es ging mal wieder um Karikaturen) die Pressefreiheit verteidigte, "likte" Rüdiger einen Beitrag, der einen Foto mit einem Stiefelabdruck über Macrons Gesicht zeigte. Und, mehr noch: Vom DFB ließ sich Rüdiger anschließend eine aalglatte - und da sind wir wieder beim obigen Thema - Entschuldigungs-Pressemitteilung drechseln, die ein ausdrückliches Bekenntnis gegen islamistischen Terror sorgfältig vermied. Wenn ich aber der Meinung bin, dass junge und größtenteils unbedarfte Nationalspieler 1978 in Argentinien jene Haltung hätten zeigen sollen, die sowohl die Politik als auch die Funktionäre vermissen ließen, dann kann ich der heutigen, weitaus reflektierteren und medienerfahreneren Spielergeneration Derartiges eigentlich nicht durchgehen lassen.

Aber um diese Diskussion zu führen, muss man sich mit dem Thema eben erst einmal beschäftigen - und dafür eignet sich ""Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft." bestens. Kaufen!

Dietrich Schulze-Marmeling/Bernd M. Beyer: "Politik im Spiel. Die andere Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft", edition einwurf

Montag, 7. April 2025

Ein Schmankerl für Bayern-Fans

 

Ich war immer ein großer Anhänger von Raimund Hinko - und meine Erinnerung an seine Zeit als "Sport-Bild"-Bayern-Reporter wird nicht zuletzt deshalb immer schöner, weil ich mit seinem allzu selbstgefälligen Nachfolger Christian Falk bekanntermaßen so gar nichts anfangen kann (siehe Buchbesprechungen hier und hier und hier). 
 
Hinko hatte, und das ist in meinen Augen schon die halbe Miete in diesem Geschäft, zum einen etwas Unverwechselbares in seiner Art zu berichten und zu schreiben. Ab Anfang der 90er war er als "Sport-Bild"-Chefreporter - zuvor hatte er schon jahrelang für die Münchner "Bild"-Ausgabe über den FC Bayern berichtet - mehr als ein Jahrzehnt der vertraute Begleiter des Rekordmeisters: Hinko im Interview mit Uli Hoeneß, Hinko im Gespräch mit Jupp Heynckes, Hinko im Plausch mit Sören Lerby - und natürlich wieder und wieder mit Lothar Matthäus, mit dem ihn ein besonders enges Verhältnis verband. Dank der Angewohnheit des Magazins, Fotos der jeweiligen Interview- oder Besuchssituation zu drucken, wurde Hinko eine Art alter Bekannter, der mir fast Woche für Woche aus der "Sport-Bild" entgegenblickte. Dabei schien er immer ein wenig gebückt zu stehen, so, als wolle er seinen jeweiligen Gesprächspartner keineswegs überragen, ihm nicht die Show stehlen, sich auf keinen Fall in den Vordergrund drängen. Ja, er wollte die anderen gut aussehen lassen, nicht in erster Linie sich selbst. Und er hat sich in dem hochkomplexen Spannungsfeld aus wohl unvermeidbarer Kumpanei eines "eingebetteten" Journalisten mit guten Kontakten einerseits und gebotener Kritik (über Sören Lerbys Trainerzeit konnte man irgendwann nicht mehr positiv berichten) und unvermeidbarer Ehrlichkeit (als Gerd Müllers Alkoholprobleme publik wurden, musste auch die "Sport-Bild" auf den Zug aufspringen und Hinko, der es im Zweifel länger wusste als die meisten anderen, darüber schreiben) andererseits alles in allem ganz gut bewegt. 
 
Mich wundert übrigens bis heute, dass noch kein Verlag an Hinko herangetreten ist, um ihn um seine Memoiren zu bitten. Immerhin ist er inzwischen im Rentenalter und hat vielleicht schon bald keine Lust mehr, sich die Mühe zu machen, ein Buch zu schreiben. Es wäre schade, wenn sein großes Wissen über die Bayern und seine Erinnerungen an die Arbeit bei der damals noch jungen "Sport-Bild" (kam 1988 auf den Markt) in den frühen 90er Jahren, also lange vor Internet und Social Media, verloren gingen. Ein derartiges Buchprojekt hätte auch kommerziell gute Aussichten.

Wieso ich das alles erzähle? Weil Hinko zum kürzlich von der "Sport-Bild"-Redaktion herausgegebenen und bei Delius Klasing erschienen Jubiläumsband "125 Jahre Bayern München" als Autor beigetragen hat. Und allein das ist ein Grund, mal in dieses 224-Seiten-Werk hineinzuschauen. Für Fans der Münchner ist das Buch ein herrlicher Leckerbissen aus Zahlen, Fakten, Anekdoten, Erinnerungen und schönen Fotos. Und, ja, wer sich für eine solche bunte Geburtstagsgabe entscheidet, erwartet und bekommt natürlich keine kritische Analyse des unaufhaltsamen Aufstiegs der Bayern a la Hans Wollner. Nein, es ist ein Wohlfühlbuch, und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden. Ausführlich wird Saison für Saison betrachtet und bebildert und die Stimmung eines jeden Jahres alles in allem gut eingefangen. Abgerundet wird das Ganze durch ein paar Extrabeiträge, etwa von Raimund Hinko zum legendären Mia-san-mia-Gefühl der Bayern. Neben Hinko haben weitere Bayern-Kenner aus dem Hause Springer mitgewirkt, zum Beispiel Falk oder Tobias Altschäffl. Und das Ergebnis ist solide Unterhaltung. Sicher, dramatische Neuigkeiten wird es für eingefleischte Bayern-Fans nicht geben. Und nicht alles ist hundertprozentig genau recherchiert - so wurde zum Beispiel Toni Schumacher keineswegs vor der Saison 1991/92 neben Berthold, Wouters und Kreuzer sowie den Brasilianern Mazinho und Bernardo [gezielt] als "namhafter Spieler" und Verstärkung verpflichtet. Er arbeitete vielmehr bereits als Torwarttrainer bei den Bayern und wurde im Oktober 1991 in höchster Not reaktiviert, nachdem mehrere Bayern-Keeper verletzt ausfielen. Und auch Jan Wouters kam nach meiner Erinnerung erst im Saisonverlauf. Aber das sind letztlich Kleinigkeiten. Unter dem Strich steht ein schönes, unterhaltsames Buch zum Blättern, ein Buch, das dazu einlädt, sich mit einer riesigen Tasse Kakao aufs Sofa zu setzen und in alten Erinnerungen zu schwelgen.

Matthias Brügelmann (Hrsg.): "125 Jahre Bayern München", Delius Klasing

Samstag, 22. März 2025

Leichte Aufwärtstendenz: "11Freunde" feiert Jubiläum


Philipp Köster hat es weit gebracht. Vom jugendlichen "Kicker"-Leserbriefschreiber in den 80er Jahren über den idealistischen Fanzine-Macher in den 90ern (damals lief das noch mit Schere, Pritt-Stift und Kopierer) zum Gründer, Miteigentümer und Chefredakteur des mit Abstand besten Fußball-Magazins des Landes. "11Freunde" feiert inzwischen seinen 25. Geburtstag. Und nach so langer Zeit im Geschäft kann man Köster natürlich nichts mehr vormachen. In der anlässlich des Jubiläums vor einigen Tagen erschienenen Spezial-Ausgabe nimmt er sich eines seiner Lieblingsthemen vor, die zunehmende Kommerzialisierung des Fußballs und die immer größer werdende Kluft zwischen den ganz großen und den kleineren Klubs. "Der VfL Bochum", analysiert Köster bitter, "hat anders als früher in München keine Chance mehr auf einen Sieg." Wie das Leben so spielt: Während dieses Spezial-Heft in der Druckerei gerade auf LKWs verladen wurde, gastierte der  VfL Bochum mal wieder beim FC Bayern und *hust* gewann mit 3:2

Ich gebe es zu: Das ist ein billiger Punkt, denn nichts von dem, was Köster in seiner Analyse schreibt, wird dadurch falsch. Und eigentlich will ich hier ja das Jubiläumsheft vorstellen. Nachdem ich mit dem dicken "11Freunde"-Buch zum 20. Geburtstag nicht so ganz glücklich wurde (siehe hier), schafft das Heft eine etwas höhere Punktzahl, wenngleich ich mir auch hier beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis mehr versprochen hatte. Immerhin: Die Rubrik "Alles mal Paroli laufen lassen" bietet in fünf Teilen "Schnurren, Anekdoten und Redaktionsinterna", also Geschichten aus dem Alltag der "11Freunde"-Macher. Und auch wenn man die eine oder andere Story schon mal irgendwo gelesen hat, zeichnet dieses Serie ein schönes Bild vom durchaus steinigen Weg, den das Magazin in den 25 Jahren absolvieren musste, ehe es im Fußball-Geschäft akzeptiert wurde. Christoph Daum etwa, immerhin späterer Kolumnist des Heftes, drohte 2008 gleich bei der ersten (völlig harmlosen) Frage des Redakteurs aggressiv mit einem sofortigen Abbruch des Interviews. In so einer Situation seinen Stolz zu schlucken und nicht einfach aufzustehen und "Okay, Herr Daum, dann lassen wir das eben. Schönen Tag noch!" zu sagen, ist vermutlich gar nicht so einfach. Jedenfalls sind allein diese Seiten den Kauf des Heftes wert.

Sehr viel erwartet hatte ich vom Interview mit Ex-Bayern-Pressesprecher Markus Hörwick. Und obwohl es hier und da wirklich interessante Einblicke gibt, etwa zur Nike-Shirt-Posse Mario Götzes, war ich nach dem Lesen unzufrieden, weil mir vieles zu vage, zu allgemein blieb. Was auch deshalb schade ist, weil ich insgeheim immer gehofft habe, dass es von Hörwick mal ein dickes Buch über seine Bayern-Zeit geben wird. Hans Meyer kehrt für die Jubiläumsausgabe als Kolumnist mit "Gehen Sie davon aus" zurück, kann aber an seine frühere Form so gar nicht anknüpfen. Vielleicht ist seine Zeit einfach genauso vorbei wie die von Günter Hetzer. Nicht vorwerfen kann man den Magazin-Machern, dass sie Fan-Themen eine Menge Platz einräumen, etwa den "Wir gründen einen eigenen Verein"-Projekten in Wimbledon, Salzburg und Manchester oder Projekten gegen Rassismus und Sexismus im Stadion. Zwar wurden all diese Themen in der Vergangenheit schon hinreichend gemolken, sind aber nun mal Teil der "11Freunde"-DNA. Da muss man dann als Leser durch. Interessanter für mich sind da schon die Texte über Abramowitsch, Infantino und Neu-Bulle Jürgen Klopp. Unter dem Strich bleibt ein kaufens- und lesenswertes Heft, besser als das Buch vor fünf Jahren, aber auch keine 10 Punkte. Die werden es dann ja vielleicht zum 30. Geburtstag in fünf Jahren.

11Freunde Spezial: 2000 - 2025. 25 Jahre Fußball-Kultur, 25 Jahre 11Freunde

Montag, 17. März 2025

Erinnerungen mit erstaunlichen Schwächen

(KM) Johan Cruyffs Biographie "Mein Spiel", heißt es im Vorwort des Verlags bescheiden, sei "eines der klügsten Bücher, das in den letzten Jahrzehnten über den Fußball geschrieben wurde". Wer so forsch einsteigt, sollte besser halten, was er verspricht. "Mein Spiel" schafft das allerdings nur stellenweise. Aber der Reihe nach. Die Erinnerungen Johan Cruyffs lungerten schon etliche Jahre in meinem Bücherregal herum. Warum sie es bisher nicht auf meinen "Demnächst mal lesen"-Stapel geschafft hatten, kann ich gar nicht sagen. Aber vor kurzem bin ich über Andy Bollens Buch "Fierce Genius: Cruyff's Year at Feyenoord" gestolpert - Besprechung demnächst - und dachte dann: Wenn schon Cruyff, dann erstmal seine Autobiographie.
 
Die Karriere des leider schon verstorbenen Weltstars würde selbst dann genügend Stoff für ein Buch liefern, wenn man sich für den ganzen fußballtheoretischen Teil und den Einfluss des Holländers auf Taktik und Entwicklung des Spiels seit 1990 weniger interessiert: Spieler in Amsterdam und Barcelona, Vizeweltmeister 1974, einige Jahre in der NASL, Karriereausklang in Rotterdam, dann spektakuläre Trainerstationen wiederum in Amsterdam und Barcelona - da sollte so einiges zu erzählen sein.

Und Cruyff liefert durchaus, aber wenn das Buch ein Aktienkurs wäre, würden wir eine extreme Zickzack-Kurve sehen. Es gibt hochspannende, hochinformative Passagen und Inneneinsichten, etwa zur Spätphase von Cruyffs erster Amsterdam-Station und der erodierenden Beziehung zu Trainer und Mitspielern oder zu seiner zweiten Zeit bei Ajax (1981 - 1983) oder auch zu seinen Trainerjahren in Barcelona und der schwierigen, stets von (absolut berechtigtem) Misstrauen geprägten Zusammenarbeit mit dem erratischen Präsidenten Josep Lluís Núñez. Und dann gibt es aber immer wieder Passagen, die seltsam blutarm, steril, allgemein und/oder verschwurbelt daherkommen, etwa zur WM 1974 oder zu Ajax' System der "limitierten Ablösesummen". Da heißt es über den Transfer van Bastens zum AC Mailand: "Denn schon bald zeigten sich die Probleme, die sich aus dieser Regelung ergaben. Sie offenbarten sich, als der AC Mailand von dem italienischen Milliardär Silvio Berlusconi übernommen wurde und sich mit viel Geld ausgestattet auf den Transfermarkt begab. Durch die Politik der limitierten Transfersummen blieb es Ajax leider verwehrt, davon zu profitieren – im Gegensatz zum großen Konkurrenten PSV Eindhoven. Dieser erzielte für Ruud Gullit die zehnfache Summe dessen, was Ajax für Marco van Basten vom AC Mailand bekommen hatte." Was genau das bedeutet und wieso Ajax bei einem Transfer eines Superstars ins Ausland - wohlgemerkt vor dem Bosman-Urteil, d.h. Ablöse gab es selbst bei ausgelaufenen Verträgen - nicht in der Lage war, einen regulären Marktpreis zu erzielen, bleibt völlig unklar.

Zu diesen Schwurbeleien kommt dann noch eine allzu blauäugige Beweihräucherung des Profiports in Amerika, Halbwissen über den Baseball-Manager Billy Beane von den Oakland Athletics und (in meinen Augen) blanker Unsinn über das NASL-Vertrags- und Transfersystem: Es stimmt schlichtweg nicht, dass Spieler seinerzeit - wie Cruyff zur Begründung seines Wechsels von den Los Angeles Aztecs zu den Washington Diplomats ausführt - Verträge mit der NASL und nicht den Vereinen schlossen und "es einem als Spieler passieren [konnte], dass man kurzfristig darüber informiert wurde, an einen anderen Club verkauft worden zu sein und sich innerhalb von achtundvierzig Stunden Tausende Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Vereinigten Staaten einzufinden [hatte]. Man musste das nächste Flugzeug nehmen – ganz gleich, wer man war." Franz Beckenbauer hat seinen Vertrag mit Cosmos New York gemacht und dafür mit dessen Generalmanager Clive Toye verhandelt, Gerd Müller schloss seinen Vertrag mit den Fort Lauderdale Strikers und verhandelte mit deren Eigentümer(gattin) Elizabeth Robbie - und die Vorstellung, dass einer der beiden alternen Superstars von heute auf morgen ins staubige Tulsa oder ins bitterkalte Minnesota hätte wechseln müssen, wenn es dem Verband und den Vereinen so gepasst hätte, ist aberwitzig. Zudem galt es gerade als eine der großen Schwächen der NASL, die die in den 90er Jahren neu gegründete MLS unbedingt vermeiden wollte, keine zentralen Steuerungsmöglichkeien zu haben. Und dass, wie Cruyff wiederholt nahelegt, die NASL-Klubs Musterbeispiele für professionelle Vereinsführung waren, darf angesichts der chaotischen Zeit dieser Rock'n-Roll-Liga und der zahlreichen kurzlebigen Franchises ebenfalls getrost bestritten werden. Im Übrigen: Hier wird Cruyffs Wechsel von Kalifornien nach Washington ebenfalls gänzlich anders dargestellt als von ihm selbst.
 
Der gelungenen Kapitel sind es alles in allem zwar trotzdem genug, um das Buch zu einer lohnenden Lektüre zu machen. Am spannendsten für mich war der Teil über Cruyffs spätere Funktionärszeit bei Ajax Amsterdam und die fast schon thrillerartige Beschreibung der dortigen Ränkespiele und Intrigen. Und auch Cruyffs Gedanken über Sinn und Zukunft des Fußballs sind lesenswert. Eines "der klügsten Fußballbücher" ist es in meinen Augen jedoch trotzdem nicht.

Johan Cruyff: "Mein Spiel", Droemer Verlag

Mittwoch, 12. März 2025

Faszinierende Chronologie eines Scheiterns

(KL) Nein, man kann Brian Clough nicht vorwerfen, dass er sich bei seinem neuen Team einschmeicheln wollte, als er 1974 völlig überraschend den Posten des Cheftrainers bei Leeds United übernommen hatte. Jenem Klub also, der unter Cloughs Vorgänger und Erzfeind Don Revie nahezu alles gewonnen hatte, was es damals im britischen Fußball zu gewinnen gab. Clough empfahl seinen Spielern nämlich als erstes, all ihre Medaillen und Pokale in den "größten Mülleimer, den ihr finden könnt", zu werfen. Denn: "Nichts von dem, was ihr gewonnen habt, habt ihr fair gewonnen. Alles, was ihr erreicht habt, habt ihr durch gottverdammten Betrug erreicht."

Hierzulande ist der Name Brian Clough nicht mehr allzu vielen Fans geläufig, aber man stelle sich vor, Uli Hoeneß hätte bei Werder Bremen Mitte der 90er Jahre die Nachfolge von Willi Lemke angetreten. Clough verabscheute Don Revie, seit der ihn bei ihrem ersten Aufeinandertreffen als Trainer - Revie war mit Leeds United zu Gast bei Cloughs damaligem Klub Derby County - wie Luft behandelt hatte. Clough hasste Don Revie, weil Leeds United in seinen Augen unehrlichen Fußball spielte, mit Kickern, die überaus ruppig zu Werke gingen, die Schiedsrichter bedrängten, die theatralisch umfielen, ohne auch nur berührt worden zu sein, die protestierten, wenn es nichts zu protestieren gab, und vehement Verwarnungen für ihre Gegenspieler forderten. Und aus diesem Hass hatte Clough, dem vom lieben Gott neben einer äußerst spitzen Zunge auch eine gehörige Portion Dummheit mitgegeben worden war (ja, auch eine dicke Scheibe Genialität, die sich aber eben nur entfaltete, wenn Clough seinen Intimus Peter Taylor an seiner Seite hatte - und das war in Leeds nicht der Fall), nie einen Hehl gemacht. Über Jahre hinweg war, geschürt durch immer neue verbale Aggressionen von beiden Seiten, so eine gepflegte Feindschaft entstanden. Umso sensationeller war es, dass Leeds United, nachdem Don Revie 1974 den Posten des englischen Nationaltrainers übernahm, nicht seinen Wunschnachfolger Johnny Giles verpflichtete, sondern ausgerechnet Brian Clough. Was folgte, war eine der turbulentesten, chaotischsten und kürzesten Trainer-Regentschaften in der Geschichte des englischen Fußballs: Ganze 44 Tage hielt sich Brian Clough bei einem Verein, bei dem ihm von nahezu allen Seiten - vom Nachwuchstrainer über die Spieler bis hin zu den Sekretärinnen - teilweise hasserfüllte Ablehnung entgegenschlug.

Der britische Autor David Peace, der mit seinen Yorkshire-Ripper-Thrillern und mit seiner Tokio-Serie Weltruhm erlangte, erzählt in seinem weitgehend auf Fakten basierenden Roman "The Damned United", minutiös jene 44 Tage, wobei er parallel - im Buch durch Kursivschrift abgehoben - Cloughs Werdegang bis zur Verpflichtung durch Leeds United und damit natürlich auch die Entstehung der Feindschaft zwischen ihm und Revie nachvollzieht. Die Idee selbst ist faszinierend - der Zeitraum ist eng begrenzt und aufgrund zahlreicher Biographien gut beleuchtet. Peace macht aus diesem Material einen hochspannenden Fußball-Roman, der die damaligen Beteiligten - und insbesondere Brian Clough - lebendig werden und erahnen lässt, weshalb diese Ehe niemals funktionieren konnte. Das Einzige, was mir an dem Buch missfällt, sind jene Passagen, in denen Peace durch völlig unnötige stakkatoartige Wiederholungen einzelner chorartiger Zeilen so etwas wie Atmosphäre schaffen will, was in einem Film vielleicht gehen mag, in einem Buch jedoch delatziert wirkt. So wird an einer Stelle auf etwa zwei Seiten allein dreizehnmal die Zeile "Derby. Derby. Derby. Derby. Derby. Derby." wiederholt. Solche Stellen lassen das Buch völlig unnötig aufgeplustert erscheinen. Und das hat Peace, der ein großartiger Erzähler ist, überhaupt nicht nötig.

"Den" Schuldigen gibt es für das gigantische Scheitern Cloughs in Leeds nicht. Auf der einen Seite stand der neue Trainer, dem es offensichtlich nicht gelang, die Gemütslage des Vereins, in den er kam, auch nur annähernd nachzuvollziehen und sich darauf einzulassen, und der kaum einen Versuch unternahm, die bestehenden Gräben zu überwinden. Auf der anderen Seite standen in der Tat charakterlose Kicker, die mehr oder weniger unverhohlen "gegen" ihren neuen Trainer spielten, ohne dass die Klubführung einschritt und ein Exempel statuierte. Fairerweise muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass sich einige Spieler - teilweise erfolgreich vor Gericht - gegen die Darstellungen in Peaces Buch wehrten. Es ist schwer zu beurteilen, ob Clough in Leeds überhaupt eine Chance hatte. Aber nachdem alle Beteiligten von Anfang an praktisch alles falsch machten, war das Ende nur eine Frage der Zeit. Und das Ende kam schneller als erwartet, als Clough in den ersten sechs Spielen nur ein einziger Sieg gelang, was für Leeds den schlechtesten Start seit 15 Jahren bedeutete.

Peace reiht eine Fülle von lebendigen Szenen aneinander, die die faszinierende Chronologie eines Scheiterns ergeben: Es geht los mit Cloughs erstem Eintreffen bei Leeds, gemeinsam mit seinen beiden Söhnen. Er begegnet dem Nachwuchstrainer und Revie-Vertrauten Syd Qwen, der gerade das Amateurteam aufs Feld führen will. Natürlich "übersieht" Owen Cloughs zum Gruß ausgestreckte Hand. Und auf dessen Frage, ob einer der Kicker nicht kurz auf seine Söhne aufpassen könne, während er - Clough - sich im Verein bekannt macht, zischt Owen: "Sie sind bei uns schon allseits bekannt, Mr. Clough. Und diese Jungs sind hier, um zu trainieren. Nicht, um Ihre Söhne zu unterhalten." Cloughs kurzes Gastspiel bei Leeds endet mit einem Gespräch beim Vorstand, bei dem es um seine Abfindung geht. "25.000 Pfund [damals immerhin ca. 150.000 DM] für 44 Tage Arbeit?", brüllte der Vorstandsvorsitzende Sam Bolton. "Das ist gottverdammter Wucher!" Sein Blutdruck stieg noch weiter, als Clough kühl außerdem die Übernahme seiner Einkommensteuer in den nächsten drei Jahren verlangte und außerdem den ihm zur Verfügung gestellten Mercedes behalten wollte. Bolton war fassungslos: "Wer zur Hölle glauben Sie eigentlich zu sein?" "Brian Clough", lautete die schlichte Antwort. "Brian Howard Clough."

Übrigens brachte der Trainerwechsel auch Cloughs Vorgänger Don Revie keine Vorteile. Er verbrachte drei erfolglose Jahre als Nationaltrainer, ehe er in die Vereinigten Arabischen Emirate und damit ins fußballerische Niemandsland abtauchte. Clough schaffte hingegen ein sensationelles Comeback. 1975 wechselte er zu Nottingham Forrest und gewann 1979 und 1980 zweimal hintereinander den Europa-Cup.

David Peace: "The Damned United", Faber & Faber

Freitag, 28. Februar 2025

Unterhaltsame Rückschau auf 50 Jahre Fußball-Bücher

Es ist einigermaßen peinlich für ein Fußballbücher-Magazin, aber ich kannte Ben Redelings Werk "Der Ball ist eine Kugel. Das große Buch der Fußballbücher" bislang tatsächlich nicht. Dabei ist es schon fast zwanzig Jahre alt. Ein Leser hat mich - nochmals ganz herzlichen Dank an dieser Stelle! - darauf aufmerksam gemacht. Von Redelings selbst hatte ich zuvor schon einiges gelesen, etwa "Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben – es ist das Einzige" oder "Bundesliga-Album: Unvergessliche Sprüche, Fotos & Anekdoten", wobei allerdings gerade letzteres sehr an eine riesige Tüte Popcorn erinnert. Man fängt damit an, kann dann nicht mehr aufhören und hinterher ärgert man sich. Letztlich gilt für Redelings wohl Ähnliches wie für den hier zuletzt besprochenen Andreas Thome, wenn auch auf andere Art und Weise und auf deutlich höherem Niveau. Er ist ein Chronist dessen, was bekannt ist, ein Outsider, kein Insider. Aber für eine Betrachtung des Fußballbücher-Marktes ist das kein Nachteil, jedenfalls kein wesentlicher.

Der Autor beginnt im Jahr 1942 und stellt bis 2006 pro Jahr im Regelfall ein Buch vor, manchmal mehrere, mitunter werden auch einige Jahre übersprungen. Alles in allem kommt Redelings so auf 150 Werke. Zur Auflockerung zwischendurch hat er zudem einige Promis versammelt - von Manuel Andrack bis And Zeigler -, die jeweils ihre fünf Lieblingsfußballbücher auflisten. Dass Redelings Auswahl höchst subjektiv ausfallen würde, war klar - andererseits durfte man bei 150 Büchern schon auf ein vertieftes und belastbares Bild des Fußballbüchermarktes und seiner Entwicklung in den vergangenen Jahrzehnten hoffen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass der Autor auf Jahr-, WM- und EM-Bücher sowie auf Vereinschroniken von vornherein verzichtet hat und das Angebot an Fußballbüchern vor 1990 deutlich überschaubarer war. Und tatsächlich wurde die Lektüre des Buches zu einem höchst unterhaltsamen Mix aus "Sieh mal an, das kennt der Redelings auch!" und "Wo ist eigentlich...?" und gleichzeitig einer hochinformativen Reise durch 50 Jahre Fußballbuchveröffentlichungen.

Es konnte kaum überraschen, dass sich Redelings etlichen Meilensteinen - Meilensteinen im Guten wie im Schlechten - der Fußballbuch-Geschichte widmet. Von Toni Schumachers "Anpfiff" über Lothar Matthäus´ "Mein Tagebuch" bis hin zu Stefan Effenbergs "Ich habe es allen gezeigt" ist nahezu alles dabei. Angenehm überrascht war ich über etliche Vorstellungen, die eher in die Kategorie "Geheimtipp" fallen, etwa Dieter Adlers WM-1982-Tagebuch "WM intim" oder Per Wahlöös Roman "Foul Play", der hierzulange wirklich nur Insidern ein Begriff ist. Interessanterweise hat Redelings zwar Max Merkels Erstlingswerk "Geheuert, gefeiert, gefeuert" aus dem Jahr 1980 aufgenommen, nicht jedoch die Anfang der 90er erschienenen Bücher "Das Runde ist der Ball" und "Man muss auch verlieren können". Obwohl Lästermaul Merkel in "Das Runde ist der Ball" etliche Stories aus seinem Erstlinswerk frech nach- und zweitverwertet hat, war dieses Buch für mich interessanterweise trotzdem das prägendere, weil es deutlich ausführlicher und scharfzüngiger ausfällt und seinerzeit über etliche Wochen und Monate die Auslagen in den Buchhandlungen prägte. Sehr nett war das Wiedersehen mit diversen Schmökern aus der zweiten Reihe, etwa Jupp Derwalls Biographie - hier hätte ich mir ob der allzu großen Zurückhaltung, die sich der Bundestrainer a.D. auferlegt hatte, allerdings eine kritsche Einordnung gewünscht -, Pierre Littbarskis Erinnerungen "Litti", Klaus Schlappners "Mit Erfolg gegen den Strom" oder Jörg Wontorras "Halbzeit mit Helden". Dass Redelings natürlich auch die üblichen Verdächtigen - "Fever Pitch", "Eine Saion mit Verona" oder "Der Traumhüter" - aufnimmt und über Gebühr bejubelt, war erwartbar und sei ihm verziehen. Weniger Verständnis habe ich für den Umstand, dass sich Anfang der 80er Jahre zwar pseudo-intellektuelle Schlaumeier-Bücher wie Dieter Hildebrandts "Die verkaufte Haut" finden, aber kein Eintrag zu Hans Blickensdörfers "Pallmann", der für Fußball-Romane ein unfassbar hohes Niveau statuierte, das meines Erachtens bis heute nicht mehr ereicht wurde. Aber - wie gesagt - die Auswahl musste Geschmackssache sein.

Dass der - offenbar inzwischen auch wieder von der Bildfläche verschwundene - Bombus-Verlag beim Lektorat gespart hat und im Buch aus Reiner Calmund "Reiner Callmund" wird, und Redelings mitunter allzu großzügig aus dem Klappentext der vorgestellten Bücher zitiert - geschenkt! Auch die Rankings der Promis sind weitgehend erwartbar, oft beifallheischend und wenig spannend. Aber das ist auch schon alles, was ich an dem Buch zu meckern habe. Heißt: Unter dem Strich bleibt ein beträchtliches Lesevergnügen. Auch rund zwanzig Jahre nach Erscheinen ist "Der Ball ist eine Kugel" einen Kauf wert.

Ben Redelings: "Der Ball ist eine Kugel. Das große Buch der Fußballbücher", Bombus Verlag

Mittwoch, 19. Februar 2025

Die beste Zeit von BW 90 Berlin aus Fansicht

Normalerweie kann ich mit Büchern von Fans wenig bis nichts anfangen. Denn mir geht es um Innenansichten, Insiderberichte, um den Blick hinter die Kulissen. Fans hingegen sind im Regelfall Outsider. Sie wissen nicht, was in der Kabine passiert, wie und warum Managemententscheidungen getroffen werden, wie Trainer und Spieler denken, fühlen und außerhalb der Öffentlichkeit handeln. Außerdem ist mir die Denkweise vieler Fans immer fremd geblieben. Deshalb habe ich auch mit dem Magazin 11Freunde mitunter so meine Probleme, das ja in seinen Ursprüngen ein Fanzine ist. Selten, aber doch immer mal wieder blitzten in der Vergangenheit dort die Freude an Alkohol-Exzessen ("Im Bus zur Auswärtspartie spielten wir erstmal Bier-Stille-Post, höhö.") und klammheimliche Sympathie für Fangewalt ("Auf dem Weg ins Stadion haben wir die Innenstadt umgestaltet, höhö.") auf. Und Pyrotechnik ist ja sowieso das Größte. Wieso mein Sohn eine Silvesterrakete ins Gesicht kriegen muss, nur weil er ein Fußballspiel anschauen wollte, konnte noch keiner der 11Freunde-Kollegen erklären. Aber ich schweife ab. Kurz und gut: Fanbücher sind jedenfalls im Normalfall für mich uninteressant.

Dennoch habe ich mir "Heja Blau-Weiß! Der einzigartige Verein aus Berlin-Mariendorf" von Andreas Thome zu Gemüte geführt. Das hatte mehrerlei Gründe. Zum einen beschäftigt es sich mit der wohl spannendensten Epoche des längst in der Versenkung verschwundenen Berliner Fußballklubs Blau-Weiß, nämlich der Zeit rund um den Bundesligaaufstieg 1986, der Ära von Bernd Hoss, Leo Bunk, Dirk Schlegel und anderen Helden jener Jahre. Zum anderen habe ich mich über das Buchprojekt als solches irrsinnig gefreut. Nach allem, was man im Buch über den Autor erfährt, ist Andreas Thome keiner, der sein Geld im schreibenden Gewerbe - oder auch nur mit einem Bürojob - verdient. Da setzt sich einer (im Zweifel über Jahre) in seiner Freizeit hin, schreibt ein sehr persönliches Buch über seine Jahre als Fan der Blau-Weißen Mitte der 80er, schafft es dabei, jene Ära der gedruckten Stadionmagazine mit McDonalds-Gutscheinen, der Transitfahrten durch die DDR und des Telefax als schnellstem Kommunikationsmittel nebem dem Festnetztelefon in bunten Bildern zu beschreiben, und dann setzt er das Ganze in ein schönes BoD-Projekt um, so dass man genau dieses Buch jetzt im Laden kaufen kann. "Chapeau!", kann ich da nur sagen.

Natürlich, "Heja Blau-Weiß! Der einzigartige Verein aus Berlin-Mariendorf" leidet ebenfalls an den typischen Schwächen - Schwächen im meinen Augen - aller Fanbücher. Es geht viel um feuchtfröhliche Auswärtsfahrten, geplünderte Fanklubkassen und Begegnungen mit gewaltbereiten Fans anderer Vereine, die nur mit Glück glimpflich ausgingen. Das Spielgeschehen wird meist in der Form von Kicker-Berichten - Blau-Weiß spielte gegen Y, die Tore schossen X und Z - wiedergegeben. Aber Thome hat wie gesagt ein gutes Gefühl für das Drumherum, für die Zeit, für die Veränderungen seither, weshalb sich die Lektüre dennoch absolut lohnt.

Andreas Thome: "Heja Blau-Weiß! Der einzigartige Verein aus Berlin-Mariendorf", Books on Demand

Montag, 17. Februar 2025

Hochinteressante, teilweise zu knappe Einblicke

(KL) Entgegen dem vor allem in den Medien (jedenfalls bis zu seiner späteren Karriere als TV-Experte) beharrlich gezeichneten Bild halte ich Lothar Matthäus nicht für eine Witzfigur, sondern für einen der ganz großen deutschen Fußballer der achtziger/neunziger Jahre. Zudem war er in meinen Augen auch ein talentierter, entwicklungsfähiger Trainer, der eine Chance in der Bundesliga verdient gehabt hätte. Ich konnte mich nie jenen anschließen, die Lothars Trainerstationen belächelt haben: Wien, Belgrad, Salzburg, dazu die Nationalmannschaften Ungarns und Bulgariens - für einen jungen Trainer waren sind das hochinteressante Stationen.

Deshalb hatte ich mich sehr gefreut, als 2012 eine neue Lothar-Matthäus-Biographie erschien, war sie doch die erste Gelegenheit, über die Medienberichte hinaus etwas über seine Trainerzeit zu erfahren. Leider hat mich das Buch unter dem Strich nicht hundertprozentig überzeugt, weil es letztlich zu sehr an der Oberfläche, zu seicht bleibt, also genau das, was man Lothar mitunter vorwirft. Vielleicht war der Versuch, die Karriere eines Mannes, der in Deutschland und Italien Meistertitel errungen hat, der Weltmeister, Vizeweltmeister, Europameister und Weltfußballer des Jahres war, um dann als Trainer an exotischen Orten zu arbeiten, auf 224 Seiten zu erzählen, ein wenig zu ehrgeizig. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sich das Buch zum Beispiel auf die letzten zehn, fünzehn Jahre konzentriert hätte, denn mit Lothars Engagement in New York und seinen späteren Trainerstationen hätte es wahrlich genug zu beleuchten gegeben. So aber hechelt das Buch auf besagten 224 Seiten von der Kindheit in Franken bis zum aktuellen Warten auf neue Trainer-Angebote, was leider bedeutet: Für die einzelnen Stationen, etwa Lothars Zeit bei Partizan Belgrad, bleiben gerade einmal fünf, sechs Seiten.Dennoch ist das Buch empfehlenswert, weil es Lothars öffentliches Bild ein wenig geraderückt und vor allem zeigt: Er ist ungeachtet aller peinlichen Doku-Soaps und allzu öffentlich geführter Ehen vor allem und in erster Linie ein (ganz sympathischer) Fußballbesessener.

Wenn Matthäus beispielsweise berichtet, wie er sich voller Enthusiasmus in seinen neuen Trainer-Job bei Red Bull Salzburg stürzte ("Ich setzte mich haarklein mit dem österreichischen Fußball auseinander, bald kannte ich Red Bull in- und auswenig."), um dann unvermittelt Giovanni Trapattoni vor die Nase gesetzt zu bekommen, wenn er erzählt, wie er Trainer beim brasilianischen Clube Atlético Paranaense wurde, kurz vor einem Engagement bei Besiktas Istanbul stand und später bei Maccabi Netanya in Israel arbeitete, ist das hochspannend. Auch die Zeit als Spieler bei den New York/New Jersey Metro Stars erscheint hier als durchaus wichtiges Puzzleteil für die Entwicklung von Matthäus, nicht - wie es in den Medien vielfach wider besseren Wissens dargestellt wurde - als das jämmerliche Karriereende in einer sportlich bedeutungslosen Operettenliga. Natürlich wäre es - und damit kommen wir zu den Schwachpunkten des Buches - mir lieber gewesen, ich hätte über die New York / New Jersey Metro Stars (heute: Red Bull New York) nicht den Satz lesen müssen: "Seit Beckenbauers Aufenthalten dort Anfang der Achtziger konnte der Club keinen Meistertitel mehr erringen." Das ist grober Unfug. Die Metro Stars haben mit dem legendären Beckenbauer-Club New York Cosmos genauso viel zu tun wie der FC Bayern mit 1860 München. Dann gibt es mehr oder wenige flüchtige Kapitel wie "Sex, Skat und zwei Einwechslungen", in denen auf zwei Seiten die WM 1982 abgehandelt wird, ein Seitenhieb auf jene "erfahrenen Spieler", die eine Modenschau im Hotel nutzen, sich "einige Models auf ihren Zimmern ohne die teure Mode am Leib anzuschauen", inklusive. 

Kurz und gut: Das Buch lässt Lothars Spieler- und (bisherige) Trainer-Karriere im Zeitraffer passieren, vielfach interessant, wenngleich nicht durchgehend so tiefgründig, wie Matthäus es eigentlich verdient hätte. Unter dem Strich ist das Buch gleichwohl sein Geld wert.

Lothar Matthäus (mit Martin Häusler): "Ganz oder gar nicht", Lübbe Verlag

Sonntag, 9. Februar 2025

Hochspannendes Zeitdokument eines Trainer-Originals

Nürnberg, irgendwann im Juli oder August 1993: Schüchtern stand ich vor dem nicht allzu freundlichen Pförtner des Kicker-Verlagsgebäudes und stammelte, dass ich in den hauseigenen Shop wolle. Nach meiner Erinnerung bekam ich sodann eine Art Passierschein und eine Wegbeschreibung, die mich in irgendeine andere Etage - vielleicht war es auch der Keller - führte. Wer sich unter dem Kicker-Shop nun eine Art Thalia-Filiale mit großer Ausstellungsfläche, Gelegenheit zum Stöbern und Sofas zum Verweilen vorstellt, wurde jedenfalls damals bitter enttäuscht. Mich erwartete am Ende eines düsteren Gangs lediglich ein Ausgabefenster mit einem missmutigen Angestellten, der sehr genau wissen wollte, wofür ich mich interessierte. Das war - und damit komme ich zum Thema - die Biographie "Mit Erfolg gegen den Strom" des Bundesliga-Trainers Klaus Schlappner. Die war zwar schon Mitte der 80er Jahre zu seiner Zeit bei Waldhof Mannheim erschienen, wurde aber auch Anfang der 90er noch im Kicker beworben. Ich habe keine Ahnung, weshalb ich das Teil nicht einfach in der nächstgelegenen Buchhandlung bestellte - vielleicht dachte ich, es sei nur beim Kicker zu bekommen. Ganz egal - mit dem frischerworbenen und nicht gerade billigen (30 DM waren für mich damals viel Geld) Buch zog ich jedenfalls wieder ab und konnte auch die Pforte unbehelligt passieren.

Gelohnt hat sich die ganz Mühe seinerzeit allerdings nicht. Jedes Buch, darauf habe ich nun schon mehrfach verwiesen, hat seine Zeit - und bei mir war damals die Zeit für dieses noch nicht gekommen. Ich las es, vergaß es - und als Ebay nach Deutschland kam, vertickte ich es wieder. Vielleicht etwas voreilig, wie ich nun - weitere 25 Jahre später - einräumen muss. Denn beim Stöbern in einem 1985er Fußball-Magazin - das im letzten Beitrag bereits erwähnt wurde, Klaus Schlappner hat bei uns gerade einen Lauf - stieß ich auf ein Interview mit dem damaligen Waldhof-Trainer. 

Man mag über den viel belächelten und nur zu gern in der Schublade "Provinziell" abgelegten Handwerksmeister, der auch während seiner Mannheimer Trainerzeit seine Elektroinstallationsfirma weiterführte, denken, wie man will - viele der damaligen Aussagen Schlappners wirken in der Rückschau seiner Zeit weit voraus. So meinte Schlappner etwa über die gestiegenen Ansprüche der Zuschauer: "Die haben es satt, dass die Frittenbude gleich nebem den Pissoir steht. Das Stadion alter Prägung ist tot, wir müssen in Zukunft den Sportpark schaffen, nicht mehr nur grauen Beton allerorten. Einen Park mit Ladenstraßen, mit einem Zentrum für die Familien [...] Der moderne Zuschauer will bedient sein, rundum." Und er erzählte, dass er (lange, lange, bevor Jürgen Klinsmann beim FC Bayern auf die Idee kam - d.A.) eine chillige Spieler-Lounge eingeführt habe: "Viele [...] wohnen weit entfernt vom Trainingsplatz, die müssten also dauernd durch die Gegend fahren. Ich wollte das nicht. Also wird sich bei uns häuslich eingerichtet. Die Räume dafür zu schaffen, war eines. Die Zeugwartsfrau bekocht uns, es gibt eine Ruhemöglichkeit zwischen den Trainingseinheiten. Einrichtungen zur Zerstreuung wie Video, Flipper, Billard, sogar einen Geldspielautomaten habe ich aufgetrieben." 

Dieses Interview sorgte dafür, dass mir der Name Schlappner im Kopf herumspukte. Der nächste Schritt war dann nur noch eine Frage der Zeit: Ich zog los und kaufte "Mit Erfolg gegen den Strom" ein zweites Mal. Gebraucht allerdings, denn mittlerweile ist es nur noch im Antiquariat erhältlich. Es wäre eine schöne Ironie des Schicksals, wenn es sich bei meinem nunmehrigen Exemplar um genau jenes handeln sollte, das ich damals, 1993, in Nürnberg erworben hatte, aber das werde ich wohl nie erfahren.

Der Spiegel hat übrigens kein gutes Haar an "Mit Erfolg gegen den Strom" gelassen. Ein "Gruselbuch" sei es, "im Stile des Banale Grande". Mag ja sein, dass sich darin ein paar Binsenweisheiten a la "Lieber einmal 0:6 verlieren als sechsmal 0:1." zu viel finden. Aber das ist nicht das Entscheidende. Denn das Buch vermittelt einen nachhaltigen Eindruck, wie ein Trainer eines kleinen Bundesligaklubs, der zudem "nebenbei" noch einen Handwerksbetrieb führte, Mitte der 80er Jahre dachte, arbeitete, lebte. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass Waldhof Mannheim unter Schlappner eine feste Größe in der Bundesliga war und sogar am UEFA-Cup kratzte (1984/85), während es nach seinem Abgang schnell zum Abstiegskandidaten wurde und 1990 tatsächlich den Gang ins Unterhaus antreten sollte (um nie wieder zurückzukehren). Zudem hat der Verein etliche namhafte Spieler hervorgebracht, etwa die Förster-Brüder, Jürgen Kohler, Uwe Rahn, Manfred Bockenfeld, Maurizio Gaudino und viele mehr. Viele von ihnen schafften unter Klaus Schlappner oder zumindest doch kurz nach seinem Weggang den Sprung zu großen Klubs. So ganz falsch kann der Mann mit dem Pepita-Hut also nicht gearbeitet haben.

Klaus Schlappner: "Mit Erfolg gegen den Strom", Econ Verlag

Samstag, 1. Februar 2025

Klaus Schlappner wehrt sich gegen Nachtweih-Buch

Vor einigen Wochen hatte ich hier über Norbert Nachtweihs überaus gelungene Biographie "Zwischen zwei Welten: Meine deutsch-deutsche Fußballgeschichte" berichtet. Darin hatte der einstige DDR-Jugennationalspieler und spätere Bayern-Star seine erfolgreiche Karriere Revue passieren lassen und auch recht pointierte Einschätzungen zu früheren Trainern abgegeben, unter anderem zu Klaus Schlappner: Der, so Nachtweih, sei in seinen Augen ein Rassist.

Das allerdings will die Waldhof-Mannheim-Ikone offenkundig nicht auf sich sitzen lassen und geht nun juristisch gegen Nachtweih vor. Dem Rhein-Neckar-Fernsehen gab er dazu ein Interview und teilte mit, dass er bereits alles in die Wege geleitet habe und auch keinerlei Grund sehe, zwecks Klärung auf Norbert Nachtweih zuzugehen. Das Video mit dem Gespräch ist in der RNF-Videothek abrufbar.

Ich muss gestehen, dass ich ein wenig hin- und hergerissen bin. Einerseits ist der Vorwurf natürlich verdammt hart und, wenn er nicht stimmt beziehungsweise nicht als zulässige Wertung eines beobachteten Geschehens durchgeht, verleumderisch beziehungsweise beleidigend - der Gang zu Justitia also durchaus nachvollziehbar. Andererseits war Klaus Schlappner ja einer, der früher durchaus auch selbst gern mal austeilte. Als ihn das legendäre Fußball-Magazin 1985 in einem Interview auf seine Trainerkollegen Ernst Happel und Udo Lattek ansprach, teilte Schlappner mit, er wehre sich "entschieden dagegen, mit Alkoholikern in einem Zusammenhang genannt zu werden". Das schlug damals auch gewaltige Wellen - und Schlappner bestritt, das jemals so gesagt zu haben. Jupp Heynckes damals kühl im Spiegel: "Das ist das Problem der Plaudertaschen unter uns Trainern. Die hauen die Dinger raus und erschrecken sich zu Tode, wenn sie ihre Worte dann gedruckt sehen." 

Mir wäre es unter dem Strich vermutlich lieber gewesen, Schlappner und Nachtweih hätten das Gespräch gesucht und sich zum Beispiel darauf geeinigt, dass der Vorwurf künftig nicht mehr erhoben wird, anstatt das jetzt womöglich vor Gericht zu klären. Aber mich hat ja keiner gefragt.

Freitag, 17. Januar 2025

Kein Etikettenschwindel, aber...


Mit einer Verspätung von mehr als 25 Jahren gönnte ich mir die - bereits 1998 erschienene - Biographie von Weltmeister Jürgen Kohler. Ich habe ja schon an anderer Stelle darauf hingewiesen: Jedes Buch hat seine Zeit. Und jetzt war in meinen Augen eben die Zeit für die Erinnerungen des "Koksers" gekommen. Doch ich zog ziemlich langes Gesicht, als ich das Buch auspackte und aufklappte. Ja, schon klar, es heißt "An mir kommt keiner vorbei. Meine internationale Karriere." Aber wer ahnt denn, dass dies wortwörtlich zu nehmen war und es tatsächlich nur um die Nationalmannschaftskarriere Kohlers geht? Der eisenharte Vorstopper hatte in Mannheim die Schule von Klaus Schlappner - gleichzeitig eine Art Vaterfigur - durchlaufen, erlebte dann spannende Jahre unter Christoph Daum in Köln, wechselte zum FC Bayern, bei dem er trotz des Meistertitels 1990 nicht so ganz glücklich wurde, zog weiter zu Juventus Turin und erlebte später unter Ottmar Hitzfeld bei Borussia Dortmund einen zweiten Frühling. Doch von all dem liest man im Buch ... nichts.

Nun bietet Kohlers Karriere im Nationalteam zweifellos genügend Stoff für ein Buch: Weltmeister 1990, Vizeeuropameister 1992, zumindest auf dem Papier Europameister 1996, da ist einiges zu erzählen. Aber wieso nicht beides - Vereins- und Nationalelfkkariere? Zumal - und insoweit ist es eben doch ein Stück Etikettenschwindel - Kohler ja auch über siebzig Partien in europäischen Wettbewerben absolvierte und 1997 die Champions League gewann. Auch das gehört zu seiner internationalen Karriere, bleibt im Buch aber ebenfalls unterwähnt. Diese Selbstbeschränkung ist einfach nur schade und mindert den Wert der - an sich nicht schlecht geschriebenen - Biographie doch erheblich.

Interessant ist allerdings, dass das Werk seinerzeit offenbar in einer Art Eigenverlagsprojekt erschienen ist. Einige Verkäufer schreiben es dem Verlag Rolf Angerer in Nüßloch zu, aber dafür gibt es auf dem Cover keinerlei und im Impressum nur einen kleinen Anhaltspunkt. Letzeres spricht übrigens von einer Erstauflage von 10.000 Exemplaren - mich würde mal interessieren, wieviel davon wirklich verkauft wurden. Wobei der Fußballbuchmarkt 1998 noch ein anderer war und solche Stückzahlen durchaus über die Ladentische gehen konnten. Aber zurück zum Verlag: Wenn man will, kann man dem Cover ein "DH Sports"-Logo entnehmen und im Impressum ist auch von einer Projektleitung durch Dieter Heimen die Rede, der Vetrieb wiederum lag bei einem Jürgen Strugalla aus Mannheim. Wie genau da die Zuständigkeiten verteilt waren, bleibt unklar. Wenn es mehr oder weniger eine Eigenverlagsarbeit ist, dann eine wirklich professionelle, wenn man von der bedauerlichen inhaltlichen Selbstbeschneidung mal absieht. Dummerweise gibt es bisher auch kein anderes Buch über Jürgen Kohler. Wer eine Erinnerung in Buchform möchte, muss also zu diesem Werk greifen.

Jürgen Kohler: "An mir kommt keiner vorbei. Meine internationale Karriere.", D.H. Sports / Verlag Rolf Angerer

Mittwoch, 8. Januar 2025

Ein kleines Stück vom EM-Kuchen

"Giganten: Die größten EM-Spiele aller Zeiten" heißt das im Vorfeld der letzten Europameisterschaft erschienene Buch von Altmeister Dietrich Schulze-Marmeling. Allerdings hätte man es genauso gut "Von diesem leckeren EM-Kuchen will ich auch ein Stück" nennen können. Landesweit und quer durch alle Branchen war im Vorjahr ja versucht worden, ein zweites Sommermärchen herbeizuschreiben und herbeizureden - wobei die meisten dabei wohl das Märchen von der Gans, die goldene Eier legt, vor Augen hatten. Oder das vom Goldesel Bricklebrit. "Giganten" ist da keine Ausnahme. Das Buch, so heißt es im Klappentext subtil, "ist das ideale Geschenk für alle Fußballfans, die dem Turnier heute schon entgegenfiebern!"

Nun ist es natürlich nicht verboten, Geld verdienen zu wollen, und es ist auch nicht verwerflich, Leuchttürme wie eine EM im eigenen Land in besonderer Weise nutzen zu wollen. So rosig geht es der Buchbranche nicht, als dass sie sich ihre Feste aussuchen könnte. Vermutlich bin ich nur etwas gallig, weil mir die EM 2024 von Anfang an ein Dorn im Auge war, was nicht zuletzt an ihrem Direktor lag. Philipp Lahm gehört mit Sicherheit zu den besten, beständigsten und erfolgreichsten deutschen Spielern aller Zeiten. Aber er ist in meinen Augen gleichzeitig einer der unangenehmsten Opportunisten, die der deutsche Fußball je hervorgebracht hat. Ein Meister des wohlkalkulierten und deshalb wohlfeilen Tabubruchs (SZ-Interview), ein König des Brown-Nosings, der für seinen jeweils gerade aktuellen Trainer stets schwärmerische Verehrung hegte und dem zu früheren allerlei Kritisches einfiel ("Der feine Unterschied"), einer, der erst dann mutig auf Teamkapitän Michael Ballack eintrat, als der - im Wortsinne - verletzt am Boden lag. Und weil dieser Mann, dessen Funktionärskarriere beim FC Bayern der ausgewiesene Menschenkenner Uli Hoeneß mit aller Kraft verhinderte,  die EM organisierte, mochte ich dieses Turnier nicht - und vermutlich habe ich deshalb auch "Giganten", das so unverhohlen von dieser EM profitieren wollte, erst einmal links liegengelassen.

Allerdings ist Dietrich Schulze-Marmeling nicht irgendwer, und es war klar, dass ich mir das Buch früher oder später mal ansehen würde. Jedoch ging es mir damit so wie mit der EM: Richtig warm sind wir miteinander nicht geworden. Dabei kann ich nicht einmal ganz genau auf den Punkt bringen, woran das liegt. Vielleicht an der Unmenge Zahlen, mit der Schulze-Marmeling gerade am Anfang hantiert - Qualifikationsbewerber, Stadien, Spiele, Tore, Zuschauer, Statistiken noch und nöcher. Vielleicht daran, dass das Buch - eher ungewöhnlich für Schulze-Marmeling - mitunter etwas reissbrettartig-sperrig geschrieben wirkt, insbesondere, wenn es darum geht, Synonyme für die jeweiligen Nationalteams zu wählen und immer und immer wieder stereotyp von der "Elftal" und der "Selección" und der "Squadra Azzurra" die Rede ist. Auch sonst ertappe ich mich immer mal wieder bei einem etwas gequälten Ausatmen, etwa wenn Netzer - natürlich - aus "der Tiefe des Raumes" kommt, wenn in der Halbzeit "Pausentee" getrunken wird und Uli Hoeneß 1976 den Ball "in den Himmel von Belgrad drischt". Hier und da hatte ich beim Lesen Rembrandt vor Augen, der missmutig einen fetten Geschäftsmann porträtiert, weil er das Geld braucht.

Interessantes, Reizvolles wird - aber das dürfte in einem Buch dieser Art nicht anders gehen - leider nur angedeutet. Meist sind das Passagen zum Innenleben der deutschen Nationalelf,  etwa zur EM 1992, bei der sich Andreas Brehme laut Schulze-Marmeling als Kapitän im Turnierverlauf zunehmend überfordert gezeigt habe, oder 1996, als der Rücktritt Bodo Illgners dem Team gut getan und auch den verletzten Mario Basler niemand vermisst habe. Hier hätte ich gern mehr Details erfahren.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Auch wenn in dem Buch unter dem Strich nicht allzu viel Neues stehen mag, ist die Idee, die Geschichte der Europameisterschaft anhand ausgewählter Spiele zu erzählen und dies mit teilweise wirklich schönen Fotos zu garnieren, nicht schlecht und hier auch handwerklich solide umgesetzt. Und vermutlich stimmt der Klappentext, am ehesten ist das Buch als Geschenk geeignet. Aber, und da gleicht es der EM, ein Sommermärchen ist es für mich nicht.

Dietrich Schulze-Marmeling: "Giganten: Die größten EM-Spiele aller Zeiten", Verlag Die Werkstatt

Freitag, 3. Januar 2025

Ein kleines, aber feines Liebhaberstück

"Elfmeterschießen kann man nicht trainieren!" Erstaunlich, wieviele - teils überaus prominente - Trainer diese Überzeugung vertreten - oder doch zumindest lange Zeit vertraten. Genaugenommen meinen sie damit sogar noch mehr, nämlich: "Ein Elfmeterschießen kann man nicht sinnvoll vorbereiten!" Dem norwegischen Sportpsychologen und Elfmeter-Experten Geir Jordet gelingt in seinem Buch "Unter Druck: Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können" (DuMont-Verlag) eine stimmige, hochspannende, gut zu lesende und absolut überzeugende Widerlegung dieser Theorie. Und ich fürchte, nach der Lektüre des Buches muss ich dem von mir überaus geschätzten Jupp Heynckes vorwerfen, als Trainer des FC Bayern München das 2012er "Finale dahoam" höchstpersönlich verloren zu haben - durch eine ungenügende Vorereitung des entscheidenden Elfmeterschießens. Wer erinnert sich nicht an die kurzfristige und fast verzweifelte Suche nach willigen Schützen - nach mehreren Absagen musste Towart Manuel Neuer als einer der ersten Fünf antreten - und die passiv-ängstliche Mienen- und Körpersprache der Bayern, die sich deutlich von jener der Chelsea-Kicker unterschied.

Ein Buch nur über das Elfmeterschießen? Der Buchtitel verspricht zwar mehr ("Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können"), Jordet bleibt dann aber doch erfreulich eng am eigentlichen Thema - und das tut dem Buch gut. Es ist nämlich gerade kein weiterer überflüssiger Lebens- und Karriere-Ratgeber, der nur krampfhaft einen Aufhänger beim Fußball sucht, sondern tatsächlich ein Werk, das sich kompetent und umfassend mit einem der schwierigsten und stressigsten Teile eines K.O.-Spiels beschäftigt. Dabei erliegt der Amateurfußballer Jordet nie der Versuchung, den Elitekickern dieser Welt erläutern zu wollen, wie man in einem tosenden Stadion und unter den Augen von Millionen von TV-Zuschauern in einem Champions-League- oder einem WM-Spiel einen potentiell spielentscheidenden Elfmeter am besten verwandelt. Das ist nicht sein Thema, auch wenn er gängige Herangehensweisen - torwartunabhängig oder torwartabhängig - erläutert und auch die (teils überaus schmutzigen) Tricks der Torhüter, um die gegnerischen Schützen zu verunsichern (der Argentinier Emiliano Martinez gilt hier als Meister seines Fachs), hochinformativ und im Detail vorstellt.

Seine eigentliche Stärke erreicht das Buch dann, wenn Jordet erläutert, wie man ein Elfmeterschießen psychisch und organisatorisch systematisch vorbereitet und das gesamte Team in dessen Ablauf einbezieht, wie Schützen bereits vor dem Spiel unter vier Augen angesprochen und ausgewählt werden, wie das gesamte Procedere im Spiel einem vorab festgelegten Plan folgen sollten, wie die Körpersprache des gesamten Teams und auch des Trainers den Ausgang beeinflussen können, wieviel die richtige Atmung zu einem richtigen Schuss beitragen kann und wie wichtig der richtige - aus Sicht des Schützen stimmige - Moment für den Schuß ist. Alle Darlegungen sind mit konkreten und bekannten Beispielen aus der Welt des Profifußballs anschaulich unterlegt und durch und durch substantiiert, was die Lektüre zu einem großen Vergnügen macht.

Wenn ich etwas kritisieren möchte, dann allenfalls - in Richtung der Übersetzer - die etwas stereotype Verwendung des Synonyms "Shootout" für ein Elfmeterschießen. Nein, ein Shootout ist gerade KEIN Elfmeterschießen, sondern die in der amerikanischen NASL entwickelte Alternativvariante, bei der der Schütze mit dem Ball auf den Towart zuläuft und fünf Sekunden Zeit hat, um ein Tor zu schießen. Aber das ist nun wirklich Nörgeln auf hohem Niveau.

Fazit: "Unter Druck" ist ein feines Spezialthema-Buch für Liebhaber, ein kleiner Leckerbissen zwischendurch, den ich nur wärmstens empfehlen kann.

Geir Jordet: "Unter Druck: Was wir aus der Psychologie des Elfmeterschießens fürs Leben lernen können", DuMont-Buchverlag

Freitag, 20. Dezember 2024

Der zweite Teil hätte ausführlicher ausfallen können!

Als Spieler habe ich Günter Netzer nicht mehr erlebt - und genau genommen auch in seiner zweiten Karriere als Manager beim Hamburger SV (bis 1986) nicht mehr. Netzer ist beziehungsweise war für mich (nur) der etwas zu glatte TV-Experte an der Seite von Gerhard Delling (wobei ich die beiden nie als so kultig empfunden habe, wie sie immer dargestellt wurden) und der Rechtehändler bei der Agentur Lüthi, der in Interviews irgendwie immer genau so rüberkam, wie sich der kleine Moritz einen gewieften Geschäftemacher vorstellt. Kurz und gut: So wirklich viel hatte ich mit dem einstigen Gladbacher Idol nie am Hut.

Trotzdem konnte ich, als ich seine Autobiographie "Aus der Tiefe des Raums" neulich für kleines Geld in einem Hamburger Antiquariat liegen sah, das Buch nicht einfach liegen lassen. Und die fünf Euro waren nicht schlecht investiert: Das vor nunmehr zwanzig Jahren bei Rowohlt erschiene Buch ist gut geschrieben, mit einem wunderbaren Blick für Details und Stimmungen und Atmosphäre, etwa wenn es um das Franco-Spanien Mitte der 70er Jahre und den seinerzeitigen Alltag in Madrid geht. All das lässt sich auch heute noch recht gut lesen und schlägt die allzu schnell und allzu früh auf den Markt geworfenen Biographien heutiger (vermeintlicher) Superstars mühelos. Leider ist der zweite Teil des Buches, als es um Netzers Karriereausklang in Zürich, den Wechsel ins Management, die Zeit beim HSV und vor allem die anschließenden Jahre bei Lüthi geht, etwas knapp geraten. Vermutlich hätte Netzer aus dieser Zeit ein eigenes Buch machen können - und ich wünschte, er hätte es getan. 

Im Buch schreibt Netzer, dass ihn der Handel mit Rechten schnell interessiert habe. Aber was genau er bei Lüthi gemacht hat, vor allem in der DDR nach dem Mauerfall, und vor allem was er so nebenbei noch getrieben und verdient hat, bleibt leider recht vage. So berichtete der "Kicker" Ende 1989, dass Netzer beim Wechsel von Nationalspieler Wolfgang Rolff von Bayer Leverkusen zu Racing Straßbourg 100.000 DM verdient habe. Hier hätte ich ja nun gern mehr erfahren. Stimmt das? Was verband Netzer mit Modezar Daniel Hechter, der seinerzeit die Geschicke Straßbourgs lenkte? Oder hat Netzer (nur) ältere Kontakte aus seiner Hamburger Manager-Zeit aktiviert und en passant 100 Riesen eingesackt? Rolff selbst hat später mal erzählt, dass ein Freund Netzers den Kontakt vermittelt habe. Hat der frühere Gladbacher Spielmacher also nur als Strohmann agiert und die 100K für einen Kumpel kassiert? Es wäre hochinteressant gewesen, weil es einen Einblick in die früheren Jahre des Spielervermittler-Business gewährt hatte, das von Pionieren wie Holger Klemme dominiert wurde, die noch einen schweren Stand hatten.

Deshalb: Ein unterhaltsames, lesenswertes Buch, aber der zweite Teil (besser: das letzte Drittel) hätte wesentlich ausführlicher ausfallen können.

Günter Netzer: "Aus der Tiefe des Raums. Mein Leben", Rowohlt Verlag